Freimaurer bauen sich eine Welt in der Welt. Eine Welt, die durch ihre Protagonisten mit dem „realen“ Leben verbunden ist. Doch innerhalb des freimaurerischen Universums herrschen eigene Gesetze. Die Loge mag manchmal als Utopia von anderen belächelt werden. Doch ihre Bewohner kennen die befreiende Wirkung der gedanklichen Fernreisen. Im weiteren Verlauf des Textes soll der Begriff der Utopie näher betrachtet werden. Zunächst einige Definitionen.
Der Begriff der Utopie leitet sich aus den griechischen Worten „ou“, wie nicht und „Topos“, wie Ort / Land ab. „Nirgendland“ ist ein gedachtes, aber konkret geschildertes, gesellschafts-politisches Idealgebilde, benannt nach dem Staatsroman „Utopia“ des britischen Humanisten Thomas Morus (1516). Utopien finden sich auch in literarischen und soziologischen Entwürfen. Die Welt wird darin als Idealgebilde dargestellt. Utopien bewegen sich jenseits von Zeit und Geschichte, jenseits von Raum und Geographie. Ihr Blick ist auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft gerichtet. Die Übergänge zwischen den einzelnen Genres der utopisch geprägten Schriften sind fließend. Sie finden ihre gedanklichen Ursprünge in der Philosophie, der Soziologie und der Literatur.
Der Philosoph Ernst Bloch hat sich in seinem Hauptwerk besonders mit den Entstehungsgründen, dem jeweiligen historischen Bezug und der Wirkung von sog. Sozialutopien auseinandergesetzt. Obschon stark durch marxistisch geprägte Ansätze beeinflußt, ist er m. E. einer der differenziertesten und anspruchsvollsten Rezensenten dieser Gattung. Im Mittelpunkt des Bloch’schen Utopiebegriffs steht die anthropologische Funktion des Utopischen.
Im folgenden werde ich beispielhaft einige Kernaussagen bekannter utopischer Schriften darstellen.
Platons (ca. 350 v. Chr.) Politeia gilt als eine der ersten naturrechtlich geprägten Staatsutopien. Ausgehend von den natürlichen Eigenschaften des Menschen untergliedert er den Aufbau des Staates in deren Stufungen. Die drei wesentlichen Kräfte der menschlichen Seele gliedern sich in die Begierde, den Mut und die Vernunft und sind wertmäßig von unten nach oben geordnet. Dazu findet Platon die körperlichen Entsprechungen: Begierde wie Unterleib, Mut wie Brustbereich und schließlich Kopf wie Vernunft. Die jeweiligen „Kontrolleure“ oder Besonnenheiten dieser Motive sind der Gehorsam, die Tapferkeit und die Vernunft. Die Begierde wird vom Gehorsam geleitet, der Mut von der Tapferkeit und die Vernunft von der Weisheit. Aus diesen Besonnenheiten erwachsen die Tugenden, welche den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zuzuordnen sind.
Die Tugend des Gehorsams formiert den Nährstand, also die Bauern; die Tugend des Mutes bildet den Soldatenstand, und die Tugend der Weisheit bildet den Stand der philosophischen Gesetzgeber. Dieser Aufbau spiegelt gleichsam den naturgewollten Staat. „Ein Staat, dessen Gesetz der Natur so wenig widerspricht, daß es die Natur in der sozialen Schichtung vollendet und krönt“. Auch wenn es in diesem Staat kein privates Einkommen gibt und die Güter allen zugänglich sind, hat doch nicht jeder die gleichen Möglichkeiten zur Teilhabe. Platon glaubte, daß die Tugenden erblich sind. Folglich sollte es zu keiner Mischung der Stände kommen. Platons Politheia gilt als die Urquelle vieler utopisch geprägter Schriften.
Ganz anders stellt sich die Utopie des Thomas Morus dar. Der Roman Utopia beschreibt die Insel Utopia aus der Sicht eines Weltreisenden. Die Menschen arbeiten nicht mehr als sechs Stunden am Tag; gerade so viel, um alle notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen und genügend Vorrat für alle Annehmlichkeiten zu schaffen. Es gibt keinen privaten Besitz und kein Geld. Mehrere Familien leben zusammen in einem schönen Haus. Diese Wohnungen werden alle 10 Jahre durch Los gewechselt. Auf einem öffentlichen Platz befinden sich Speisehäuser, Bildungseinrichtungen und Tempel. Diese können von den Bürgern Utopias kostenlos genutzt werden. Die Wirtschaftsverfassung der Insel hat das Ziel, den Bewohnern möglichst viel Zeit freizumachen um ihre geistigen Bedürfnisse zu pflegen. Darunter versteht man die Verehrung der körperlichen Schönheit und Kraft, die Kunst des Essens und Trinkens und die freie Religionsausübung. Bemerkenswert ist die deutliche Ablehnung der Askese. „Sich selber aufzureiben, ohne irgendeinem Menschen zu nützen, bloß um eines nichtigen Schattens von Tugend willen – das erscheint den Utopiern ganz unsinnig; als Grausamkeit gegen die eigene Person und als höchste Undankbarkeit gegen die Natur“. Deutlich spürt man in diesen Gedanken die beginnende Aufklärung und die Ablehnung des Glaubens- und Gewissenszwanges. Höchste Bedeutung hat das Wohl des einzelnen. Die Gesellschaft organisiert sich dezentral und föderalistisch.
Dagegen beschreibt der italienische Priester und Philosoph Campanella (Thomas Campanella 1568-1639) den Ordnungsstaat christlicher Prägung. Die Civitas Solis, ein geschlossener Handelsstaat, wieder aus der Sicht eines Weltreisenden erlebt, ist nach strengen, bis ins Detail bestimmten Regeln geordnet. Die völlige Einheit von geistiger und weltlicher Ordnung, der verordnete Humanismus garantiert, daß es allen gut geht. Es gibt auch hier keinen privaten Besitz und keine Geldwirtschaft, die Menschen müssen nur noch 4 Stunden am Tag arbeiten. Die freie Zeit verbringt der Solarier mit Studium, Spaziergängen sowie körperlichen und geistigen Übungen. Alles, was die Solarier brauchen, erhalten sie vom Gemeinwesen, und die Staatsmacht sorgt streng dafür, daß keiner über Gebühr empfange, keinem etwas benötigtes verweigert werde. Hier wird vor dem Hintergrund der sich wandelnden Wirtschafts- und Lebensformen des beginnenden 17ten Jahrhunderts die Idee der absolutistischen Staatsordnung deutlich. Während bei Morus föderalistische Strukturen vorherrschen, tritt bei Campanella der Zentralismus als der Garant von Ordnung und des Wohlstandes auf.
Neben Platon, Morus und Campanella möchte ich kurz auf den Engländer Francis Bacon (The New Atlantis) als Vertreter eines wissenschaftlich ausgeprägten Utopismus ( mit Hilfe der Wissenschaft die Natur zum Wohle des Menschen beherrschen) und Charles Fourier als bedeutenden Vertreter des utopischen Sozialismus hinweisen. In der Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen erkennt Fourier HARMONIE als das universelle Prinzip. Durch die Abschaffung von bürgerlichen Konventionen und Zwängen erhält der Mensch erst die Möglichkeit, ein freies und selbsterfülltes Leben zu führen. Die Menschen leben in Gruppen von je 300 Familien zusammen und ernährend sich durch gemeinsame Agrarwirtschaft. Anstelle von staatlichen Institutionen treten differenzierte Regelwerke des Zusammenlebens. Fourier gilt als Vater der Genossenschaftsbewegung.
Allen Utopien ist gemeinsam, daß sie nicht nur einzelne Begebenheiten beschreiben, sondern von einem geschlossenen Gebilde ausgehen, in dem gänzlich andere Regeln und Gesetzmäßigkeiten wirken. Die Menschen verhalten sich so, wie die große Idee es sich wünscht. In dieser Welt scheint es keine systemerschütternden Konflikte zu geben. Ernst Bloch weist in seinem Werk auf die historische Gebundenheit der Utopien hin. „Nicht einmal das neue Selbst in seiner jeweiligen Dimension, nicht einmal das Utopische als zum Überbau gehörig ist invariant. Invariant ist lediglich die Intention auf Utopisches …. Doch selbst die Invarianz wird sofort variabel, wenn sie sich über das erste Wort hinaus äußert“.
Common Sense mag sein, daß etwas Utopisches oder eine Utopie eher fern des Alltags liegt, nicht praktisch ist und eigentlich etwas negativ belastet dem Reich weltfremder Idealisten zuzuordnen sei; knallharten Rationalisten wie zum Beispiel Kaufleuten oder Naturwissenschaftlern zu nichts nütze. Doch worin könnte der Wert liegen?
M. E. geben Utopien einen Hinweis auf die Möglichkeit der Befreiung aus abgeschlossenen Denkwelten. Indem sich die Gedanken an einen fernen Ort, eine Insel wenden, schaffe ich eine Möglichkeit, mich frei von Sachzwängen neu zu entwerfen. Die Utopie ist die Leinwand, auf der ich meine Ideen zunächst entfalten darf. Natürlich ist das eine Illusion, aber der zugelassene Gedanke kreiert den Anfang so mancher „Wirklichkeit“.
Der symbolische Gehalt der Insel wird zu einer Metapher des Beginnens. Manchmal helfen diese kleinen Inseln die Kraft zu finden, der Routine des Alltags, den stereotypen und schon fast hypnotisch eingefahrenen Tätigkeiten der individuellen Existenz etwas zu entgegnen. Damit läßt sich vielleicht der Depression des „so ist es nun mal und so wird es immer sein“mit freiem und von Lebens- und Abenteuerlust geprägtem Sinn begegnen. Ich kann die Insel Utopia als Stätte der Heilung und innerer Befreiung besuchen. So gesehen wird aus einem Nirgend-Land ein kleines Stück Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit hilft leben. Manchmal, eher ungewollt, hilft sie auch dem anderen zu leben.
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Literaturverzeichnis:
- Bloch, Ernst: Freiheit und Ordnung; Abriß der Sozialutopien; Frankfurt a. M. 1959
- Di Bernado, Giuliano: Die neue Utopie der Freimaurer: Wien 1997
- De Saint Exupery, Antoine: Der Kleine Prinz: Düsseldorf 1956
- Hehlmann, Wilhelm; Wörterbuch der Psychologie: Stuttgart 1974
- Hesse, Hermann; Das Glasperlenspiel: Zürich 1943
- Schischkoff, Georgi; Philosophisches Wörterbuch: Stuttgart 1982