I. Zeitpunkte
07.40 Uhr, in 20 Minuten müssen wir in der Schule sein, schnell, schnell, schnell, Schuhe an, Mütze an, raus, raus, raus, Tunnelblick, ich sehr nur wie die Zeit vergeht im Sekundentakt, ein Wettrennen.
19.04 Uhr, Dienstag Abend, am Gate. Ich bin hier, im Jetzt, warte, bin entspannt. Halbe Stunde Verspätung? Egal.
Am Strand. Die Tagung ist vorbei. Mein Flug in die Heimat geht in acht Stunden. Die Sonne ist warm, ich habe alle Zeit der Welt. „Alle – Zeit – der – Welt“, murmele es gebetsmühlenartig, denn es ist so neu für mich. Ich habe alle Zeit der Welt und des fällt mir schwer, ruhig zu bleiben und die Sonne zu genießen und das Meer, statt mir einen Laptop oder ein Buch zu greifen und irgendwas! zu machen.
Unser Baby sitzt auf dem Boden und öffnet eine Schublade. Und macht sie wieder zu. Und wieder auf. Und wieder zu. Tausendmal, wie es scheint; genau hinsehen, hinhören, hinfühlen; auf – zu, auf – zu. Gedankenversunken im Hier und Jetzt, als gäbe es kein gestern und kein morgen.
II. Zeiträume
Die Vergangenheit: Hätte, hätte, hätte, hätte ich was interessantes studiert, mehr Reisen gemacht, mehr Leute getroffen, mehr gearbeitet, weniger gearbeitet, mit Fremden gesprochen, mich ausprobiert, hätte, hätte, hätte.
Immer wieder kommen mir solche Gedanken und sie werden mir noch auf dem Sterbebett kommen. Hätte, hätte, hätte, die Gegenwart als nüchterner Saldo aller Entscheidungen und Entwicklungen der Vergangenheit. Manchmal macht mir der Blick in die Vergangenheit Angst, macht mich manchmal verlegen, manchmal aber auch selbstbewusst, stark, stolz.
Wir brauchen die Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen und für die Zukunft zu entscheiden. Zukunft braucht Herkunft.
Die Gegenwart: Weniger „Ich bin hier und jetzt“ als: Was werde ich tun – gleich, morgen, nächste Woche, mit meinem Leben. Die Gegenwart ist unfassbar, denn sie wird schneller zur Vergangenheit als uns lieb ist und Gedanken an die Zukunft lassen uns oft blind werden für das Jetzt. Wie schade, denn wer weiß schon, wie viel Gegenwart wir noch erleben dürfen in unserem Leben? Wieviel Sand ist noch im oberen Glas unserer Sanduhr, wie viel Wachs kann unser Lebenslicht noch verbrauchen, bevor die Kerze niedergebrannt ist?
Die Zukunft: Die große Unbekannte. Was wird sie bringen, welche und vor allem: wieviel Zukunft habe ich noch? Darf ich verschwenderisch mit meinem Wohlstand umgehen oder muß ich jede Sekunde in mein Leben verplanen? Minutiös, wie einen Maschinenbelegungsplan? Und: Kann ich vermeiden, dass ich die Fehler, die ich in der Vergangenheit gemacht habe – gerne als „Erfahrung“ tituliert – in Zukunft immer und immer wieder mache? Wie kann ich dieselben Fehler erkennen, auch wenn sie in anderer Form, Farbe oder Geschmack daher kommen? Mit Weisheit, mit Erfahrung, mit Glück? Mit Werkzeugen?
Die Emotionen kochen hoch, angesichts des geschilderten Dilemmas. Wie packe ich möglichst viel Sinn in meine Zeit? Oder ist schon der Gedanke schädlich? Soll ich mich einfach treiben lassen? Wohin? „Wer das Ziel nicht kennt, für den ist kein Weg der richtige“ – so hat’s Seneca gesagt.
III. Werkzeuge
Das geschilderte Problem ist hinlänglich bekannt. Doch was tun? Gibt es nicht für jedes Problem eine Lösung? Doch. Vielleicht.
Die Werkzeuge der profanen Welt verfolgen uns auf Schritt und Tritt, Uhren, Terminkalender, Organizer, intelligente Mobiltelefone und: zahlreiche Betriebsanleitungen für das effiziente Leben. Fast bin ich überrascht, dass beim Buchversand Amazon nur 312 Bücher auf die Suchanfrage nach dem Wort „Zeitmanagement“ genannt werden. Schlaue Menschen flüstern uns ein, wie wir Aufgaben priorisieren oder delegieren können, dass wir bitte mit Pufferzeiten planen, dass wir das Unerwartete erwarten sollen etc. Fachkundige Hilfe zum „Management“, also zur Verwaltung, der Zeit. Ungefähr so, als würde ich mit einem Floß einen reißenden Strom hinabfahren und dabei lernen, das Steuer richtig zu betätigen – während mir die Gischt ins Gesicht spritzt und der Fluß ins Meer fließt – und auch ich ihn daran nicht hindern werde. Er kennt und er bestimmt das Ziel.
Immerhin, besser lernen, zu steuern, als Schiffbruch zu erleiden.
Wenn ich in der freimaurerischen Symbolik nach Hilfe suche, auf dem Weg zur sinnvollen Nutzung meiner Zeit, so finde ich ebenfalls eine Reihe von Werkzeugen.
Der 24zöllige Maßstab ermahnt mich daran, meine Zeit mit Weisheit einzuteilen und schlägt vier gleich lange Abschnitte von Arbeit, Freundesdienst, Gottesdienst und Erholung vor. Doch diese Einteilung ist nicht dogmatisch – wie ja nichts in der Freimaurerei – sondern lediglich ein Punkt zur Reflexion. Denn man kann ja auch den Tag in drei gleiche Teile einteilen. Oder sechs? Moment mal, waren wir nicht gerade einer Patentlösung auf der Spur? Zwar ist der Hinweis, den Tag mit Weisheit einzuteilen, wertvoll, doch auch dieses Werkzeug bleibt echte Hilfe schuldig.
Die Kerze und die Sanduhr, beide stehen für die Zeit, die mir noch in dieser Welt bleibt. Eine strenge Ermahnung mit eindeutigem Hinweis auf das unausweichliche Ende. Ein Werkzeug, eine Hilfe? Nein, auch hier allenfalls weise, wohlmeinende Warnungen und Erinnerungen an das Unausweichliche. Richtlinien auf das „Wie“, aber nicht auf das „Was“ – doch das ist meiner Auffassung nach das Wesentliche.
IV. Zwischenbilanz
Durch die Vergangenheit sind wir ins Hier und Jetzt gereist. Das Hier und Jetzt wird innerhalb eines Atemzuges zur Vergangenheit. Nichts kann diesen Prozeß aufhalten. Kein mir bekanntes Werkzeug schützt dagegen, am Ende der Reise wehmütige Gedanken zu haben. Wir müssen es darauf ankommen lassen.
Das Leben ist ein Experiment, keine Generalprobe.
V. Eine Strategie muß her
Aus den Worten bis hierher spricht die Angst, Angst vor dem Ende, Angst, Fehler zu machen, falsche Entscheidungen zu treffen, Angst, etwas verpasst zu haben, Angst vor dem alt werden und dem reumütigen zurückblicken auf die Vergangenheit in der Zukunft. Angst, Angst, Angst. Aber ist es nicht so, dass meine Angst unbegründet ist, wenn ich nicht das Gefühl habe, etwas verpasst zu haben? Wenn keine Minute nutzlos und verschwendet war, wenn jeder Augenblick zumindest eine Erkenntnis für mich bereit gehalten hat? Wenn ich alle Chancen ergriffen, alle Lehren verstanden, alle Ideen umgesetzt habe? Aber wie, bitte, soll das gehen?
Durch Reflexion. „Darum nutzen Sie Ihre Zeit, um ihre Fähigkeiten zu erkennen, sie sorgfältig auszubilden und sich ihrer mit Weisheit zu bedienen. Vergessen Sie nicht, dass Ihr Körper Wohnsitz und Werkzeug eines unsterblichen Geistes ist.“ so sagt es das Ritual. Sieh in Dich. Finde heraus, was Dich erfüllt. Sei tüchtig in dem, was Dich erfüllt. Den Tüchtigen gehört die Welt.
Danke. Eine Strategie gegen die Reumütigkeit am Abend des Lebens? Wenn ja, dann selbstverständlich ohne Garantie auf Richtigkeit und Erfolg. Es folgt die obligatorische Frage nach dem „Wie“, wie soll ich Fähigkeiten erkennen? Falls sie nicht geradezu offensichtlich sind, durch Reflexion. Durch Analyse meines Tuns, durch den steten Blick in mich, durch das Aufspüren von versteckten jedoch immer wiederkehrenden Verhaltensmustern, im Guten wie im Schlechten.
Wie sie ausbilden? Es liegt schon fast auf der Hand, durch die Arbeit am eigenen rauen Stein, durch konsequentes und selbstkritisches Streben nach Weiterentwicklung, durch Investitionen in mich selbst, durch Weiterbildung, durch Erfahrung und Überwindung meiner eigenen Grenzen. Doch die Präferenzen und Prioritäten können und werden sich im Verlaufe des Lebens ändern – dadurch bewerten wir rückblickend anders als vorher und daher können wir Fehler sehen. Davor sind wir nicht gefeit. Aber wenn wir im Moment der Entscheidung bei uns waren und die Entscheidung selbst und aus freien Stücken wohlübelegt – oder einem tiefen Gefühl folgend – getroffen haben, dann werden wir uns zumindest verzeihen können.
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