Von profaner und sakraler Zeit

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Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Anschauungen über den Zeitbegriff einschneidende Wandlungen erfahren. Überraschend wird es für viele sein, daß gerade die Beschäftigung mit dem Problem „Zeit“ wesentlich zur Veränderung unseres Weltbildes beigetragen hat. Schöpferische Menschen versuchten, sich auf ihre Art mit dem Problem der Zeit auseinanderzusetzen. Das zeigt die Fülle der in Wissenschaft, Literatur und Kunst niedergelegten Gedanken. Goethe sagt schlicht: „Die Zeit ist selbst ein Element“ und nach Kant „ist die Zeit genau wie der Raum eine reine Anschauungsform“.

Es ist kein Zufall, daß die Fortschritte der Zeitmessung in engem Zusammenhang mit bedeutsamen Abschnitten unserer Kulturgeschichte stehen. Sonnenuhren waren an trüben Tagen unbrauchbar, Wasseruhren froren im Winter ein, Kerzenuhren verloschen im Zugwind, und die früheren Räderuhren versagten, als Handel, Verkehr und Technik ihren Siegeslauf antraten und nach Stoppuhr und Sekundenzeigern verlangten. Gerade die gegenwärtigen Erlebnisse und unsere Lebensweise fordern eine Antwort auf die Frage, was die Zeit für den Menschen bedeutet. Mit dem exakten Maß allein ist es auch heute nicht getan.

Was ist der Augenblick, der, indem diese Frage aufgeworfen wird, bereits der Vergangenheit angehört, genau wie derjenige, den wir im nächsten Moment durchleben werden – jener Augenblick, von dem gesagt wird, daß er „der mächtigste von allen Herrschern“ sei? Nachdenklichen wird dabei die Bedeutung des Augenblicks umso bewußter und schließt sie auf für den Rat: „Nützen muß man den Augenblick, der nur einmal sich bietet“, und die Mahnung: „Der Augenblick ist Ewigkeit.“ Ein eindrucksvolles Bild von der Macht der Ewigkeit gibt der im 13. Jahrhundert lebende italienische Dichter Petrarca in seinen berühmten Triumphen, in denen er aufzeigt, daß der Tod über die Liebe und Keuschheit triumphiert, während der Ruhm den Tod überdauert und die Zeit wiederum mächtiger als der Ruhm ist – über alle aber triumphiert die Ewigkeit.

Ein unbeschreiblich kleiner Teil dieser Ewigkeit wurde uns Menschen zum Geschenk gegeben, eine Spanne, von der uns in der Bibel verheißen wird, daß sie 70 Jahre währe und deren schönster Teil Mühe und Arbeit sei. In ihr sind die Zeiten der Freude und des Leides eingeschlossen, von denen uns die einen zuweilen zu kurz, die anderen zu lang erscheinen. Die Erfahrung zeigt, daß auch unser Zeitempfinden recht unterschiedlich ist. Schon Plinius schreibt in einem seiner Briefe, daß „jede Zeit umso kürzer sei, je glücklicher man ist“ –

Nicht nur das Leid läßt die Zeit in milderem Licht erscheinen; auch unseren Gedanken und Gefühlen gibt sie Gelegenheit zum Wechsel und zur Reife. Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen – war schon eine oft zitierte Erkenntnis der Antike. Wenn diese Anschauung bereits damals ihre Berechtigung hatte, um wieviel mehr in unserer Zeit, in der Wissenschaft und Technik das Tempo der Entwicklung und des Erlebens ungewöhnlich beschleunigen.

„Kommt Zeit, kommt Rat“, verheißt ein Sprichwort. Gleichzeitig wird davor gewarnt, sich gegen die Zeit in Ungeduld zu stellen: „Wer zwingen will die Zeit, den wird sie selbst bezwingen. Wer sie gewähren läßt, dem wird sie Rosen bringen!“ Und doch haben die Menschen einen Weg gefunden, sich für kurze Augenblicke in ihrem Leben der Zeit zu entziehen: Sie haben über das Fest einen Ausweg zu der Zeit gefunden, die sich immer gleich bleibt, die sich weder verändert noch erschöpft.

Nach Karl Albert (1982, S.115) „begegnet uns das Fest zunächst als Tag eines bestimmten Kultes. So wird in den Religionen des Altertums an bestimmten Tagen eine bestimmte Gottheit verehrt. Als ein solcher Tag ist das Fest wesenhaft „heilige Zeit“, d. h. dem Götterkult vorbehaltene Zeit. Der ursprüngliche Wortsinn des englischen „holiday“ bringt diesen Wesenszug zum Ausdruck. Die heilige Zeit des Festes kehrt jedoch periodisch wieder. Deshalb wird in der aus der Platonischen Akademie stammenden „Definition“ das Fest bezeichnet als „heilige Zeit gemäß dem Brauch.“

Karl Albert (1982, S.116) spezifiziert dann weiter: „Die regelmäßige Wiederkehr des Festtages ist ein sehr wichtiges Merkmal des Festes. Das nämlich, was am Festtag wiederkehrt, ist nicht der vorige oder vorvorige Festtag, sondern uranfängliche Zustand oder Anlaß, durch den das Fest überhaupt zum Fest geworden ist. Dadurch eben unterscheidet sich die sakrale Zeit von der profanen. Die profane Zeit ist, wenn sie vergangen ist, ein für allemal vergangen, unwiederbringlich verloren, unwiederholbar. Anders die heilige Zeit. Sie ist, wie M. Eliade immer wieder hervorgehoben hat, „ihrem Wesen nach reversivel; sie ist die eigentliche mythische Urzeit, die wieder gegenwärtig gemacht wird. Jedes religiöse Fest, jede liturgische Zeit bedeutet die Wiedervergegenwärtigung eines sakralen Ereignisses aus mythischer Vergangenheit“ (Das Heilige und das Profane. Hamburg 1957, S. 40).“ In den freimaurerischen Ritualen wird das „sakrale Ereignis“ durch den wechselweisen Vortrag von Legenden und Lebensweisheiten vergegenwärtigt.

Nach Eliade gehört zur rituellen Teilnahme an einem Fest das Heraustreten aus der „gewöhnlichen“ Zeitdauer und die Wiedereinfügung in die mythische Zeit, die in diesem Fest wieder gegenwärtig wird: „Die heilige Zeit ist unendlich oft wiederholbar. Man könnte sagen, daß sie nicht „abläuft“, keine unumkehrbare „Dauer“ darstellt. Sie ist eine ontologische, (das Seiende betreffend) eine „parmenideische“ [es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist] Zeit, die sich immer gleich bleibt, die sich weder verändert noch erschöpft.“

Karl Albert (1982, Seite 116/117) konkretisiert: „Die profane Zeitauffassung denkt in den Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Nach ihr verliert sich die Gegenwart unaufhaltsam und unwiederbringlich ins Nicht-mehr-Sein der Vergangenheit wie sie auch ebenso unaufhaltbar aus dem Noch-nicht-Sein der Zukunft herantritt. Es gibt aber demnach hinter dieser vergänglichen Zeit ein unvergängliches Jetzt, eine ewige Gegenwart.[….] Im Kult geschieht sogar im Grunde nicht einfach die Vergegenwärtigung einer an sich vergangenen Urzeit, sondern diese Urzeit ist ständig gegenwärtig, und der Kult macht diese ständige Gegenwart der mytischen Urzeit nur offenbar und wirksam. Der Kult setzt also die Erfahrung einer ständigen Gegenwart voraus. [….] Dem Standpunkt der profanen Vorstellung vom Wesen der Zeit erscheint die sakrale Zeitvorstellung als eine überweltliche, transphysische, metaphysische. Der Gedanke eines Seins, das nicht dem Zeitablauf in seinem Kommen und Gehen unterworfen, sondern „im Jetzt zusammen vorhanden ist“, gilt dem profanen Denken paradox. Dennoch ist diese paradoxe und metaphysische Vorstellung einer unvergänglichen Gegenwart die notwendige Voraussetzung für das Verständnis des Kults und des Festes.“

Jürgen Kober (1988) beschäftigt sich in seinem Vortrag „Die geöffnete Loge“ mit den Besonderheiten der Zeit innerhalb der rituellen Arbeit der Freimaurer. Er kommt bezüglich der besonderen Qualitäten der Zeit in der geöffneten Loge zu einer ähnlichen Auffassung: „Die Öffnung der Loge dauert von Hochmittag bis Hochmitternacht. Diese Bezeichnungen kommen in unserem nach der Uhr ablaufenden 24-Stunden-Tag nicht vor. Sie symbolisieren das Heraustreten aus der historischen Zeit in einen zeitlosen Zustand. Wir treten ein in jene Dimension, in der das Wirklichkeit wird, was nie geschieht und immer ist. Diese Dimension wird von jeder Gemeinschaft bei jeder Feier, bei jedem Fest aufgesucht, wenn sie sich auf sich selbst, ihren Charakter und ihre Aufgaben besinnen möchte.“

Was läßt sich aus der geöffneten Loge hinüber in die profane Zeit mitnehmen? Grabinschriften verkünden in Anlehnung an die Bibel: Nur ein Schatten sind unsere Tage auf Erden (1. Chr. 29) – Ein Hauch nur ist alles, was Mensch heißt (Psalm 39) – Die Zeit unseres Lebens ist wie ein Nichts (Psalm 39). Dem „Ewigen Osten“ werden auch wir nicht entrinnen können. „Dem Umgang mit der Weisheit folgt Unsterblichkeit“ (Weisheit 8) lautet eine andere Grabinschrift. Diese Aussage könnte uns zur Antwort auf diese Frage führen: Wenn wir Weisheit, Stärke und Schönheit suchen, so werden wir die Freude finden.

Freude heißt die starke Feder
in der ewigen Natur.
Freude, treibt die Räder
in der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
die des Sehers Rohr nicht kennt.
Froh, wie seine Sonnen fliegen
durch des Himmels prächt?gen Plan,
wandelt, Brüder, eure Bahn,
freudig wie ein Held zum Siegen.

(Schiller „An die Freude“)

 

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Bibliographie

Karl Albert, 1982, Vom Kult zum Logos: Studien zur Philosophie der Religion, Felix Meiner Verlag, Hamburg
Jürgen Kober, 1988, Die geöffnete Loge, PRO DOMO – Organ der Johannisloge „Zum rechten Winkel“, Ausgabe Dezember 1988
Leicher/Kaiser, 1985, Grabmalinschriften, Callwey, München
G. Blaue, Festvortrag 1993

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