Ein rauher Stein

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Ehrwürdiger Meister, geliebte Brüder,

lange habe ich überlegt, zu welchem Thema ich meine erste Zeichnung halten möchte. Ein maurerisches Thema hat mich immer gereizt, aber gerade als Lehrling ist das Wissen und die Vielfalt der maurerischen Symbole noch sehr begrenzt. Nach der Diskussion an der weissen Tafel einer Instruktionsloge war mir klar, welches mein Thema sein soll. Ganz einfach, „Der rauhe Stein“. Mir scheint, dass kein Symbol so vielfältig diskutiert, analysiert und gedeutet werden kann. Ich habe mich bemüht im Zuge der Ausarbeitung meiner Zeichnung nicht zu viele Quellen zu lesen, um eine möglichst unvoreingenommene Sicht meiner Deutung des rauhen Steins vorzutragen.

Meiner Meinung nach ist der rauhe Stein die Grundlage von allem, denn er symbolisiert den Menschen selber. Er ist kein Werkzeug sondern er ist der Grund dafür, dass es Werkzeuge bedarf. Ohne einen Menschen gibt es auch keinen Tempel der Humanität, an dessen Bau wir uns versuchen. Aber wie ist der rauhe Stein nun beschaffen, wie soll er bearbeitet werden und was ist das Ziel der Arbeit?

Der Ausgangspunkt von allem ist die Geburt. Mit grobem Werkzeug vom umschließenden Fels getrennt purzeln wir auf die Erde. Alles ist da, alles an uns ist vorhanden nur noch unförmig und viel Material ist an uns, welches nicht stabil ist, um später abgeschlagen zu werden wenn die Zeit gekommen ist. Sofort, wenn wir Glück haben, werden wir eingebettet und umhüllt von einer großen Masse Mörtel, der elterlichen Liebe, um uns zu stabilisieren und einzubetten in die Welt, welche noch der Vorhof des Tempels ist. Viel Mörtel, viel Liebe ist nötig, um den Stein zu stabilisieren und zu schützen. Stark kommt es darauf an, in welche Ecke des Vorhofes es den Stein verschlagen hat und wie gewissenhaft und geschickt die familiären Arbeiter nun die Vorarbeiten am Stein durchführen. Nach und nach wird die Menge des umschließenden Mörtels verringert und die eigentliche Form des Steins tritt hervor bis der Mensch selber in der Lage ist, an seinem rauhen Stein zu arbeiten. Aber was ist die ideale Form, wie ein Stein aussehen soll? Die ideale Form gibt es wahrscheinlich nicht. Relevanter ist, welchen Nutzen, welche Aufgabe der Stein hat oder haben soll. Er soll Teil des Tempels werden und diesen stabilisieren, stärken und schön machen. Viele Formen und Größen an Steinen mit verschiedensten Fähigkeiten sind hierfür nötig. Und jeder Stein erfüllt seine eigene Aufgabe.

Die Steine sind mit Mörtel, also Liebe verbunden, um die Tempelmauern stabil zu machen. Zwei Begebenheiten verhindern es, eine stabile Verbindung zu erhalten. Die erste ist die Form. Hat ein Stein sehr starke Ausbuchtungen oder Spitzen, die ihn automatisch von anderen Steinen auf Distanz halten, ist sehr viel Mörtel nötig, um ihn zu binden und die Spitzen können sogar die umgebenen Steine beschädigen. Mörtel ist aber instabiler als der Stein selber, so dass eine Verbindung aus zu viel Mörtel immer brüchig oder nicht von Dauer ist. Es mag Fälle geben, in denen ein Stein genau die komplementäre Ausbuchtung zu einer Spitze eines anderen Steins hat und theoretisch ein stabiles Gebilde entstehen kann, aber dieser Fall ist sehr selten. Eine kubische Form scheint am sinnvollsten, um die Nähe zu den umliegenden Steinen zu optimieren.

Die zweite Begebenheit ist die Oberflächenbeschaffenheit des Steins. Mörtel braucht eine saubere und rauhe Oberfläche, um gut haften zu können. Ist der Stein zu glatt oder sogar poliert oder hat er Bestandteile, die nicht fest mit dem Stein verbunden sondern nur aufgesetzt sind, kann kein Mörtel dieser Welt an ihm haften und ihn stabil in den Bau integrieren. Deshalb wird auch der Spitzhammer als Werkzeug benutzt, um an dem Stein zu arbeiten, denn dies garantiert immer eine rauhe Oberfläche und Spitzen und Stellen, die eigentlich gar nicht zu dem Stein gehören, lassen sich hiermit gut abtragen.

Zunächst ist es also die Aufgabe des Lehrlings, an sich zu prüfen, ob er Spitzen oder Ausbuchtungen an sich hat, die es schwer für andere Steine machen, sich mit Mörtel an sich zu binden. Er muss mit dem Spitzhammer diese Stellen bearbeiten, um sie zu verändern. Auch muss er darauf achten, dass die Oberfläche nicht zu glatt ist und keine Stellen enthält, die nur lose an den Stein gebunden sind, um eine gute Haftung des Mörtels zu bewirken. Übertragen sind die Spitzen und Ausbuchtungen natürlich Verhaltensweisen oder Denkstrukturen, die Toleranz verhindern und die Oberfläche symbolisiert, wie wahrhaftig wir uns zu unserer Umwelt geben. Oft kam in Diskussionen die Frage oder das Problem auf, dass es doch weh tut, wenn man mit dem Spitzhammer an sich arbeitet. Ich glaube die Antwort ist, dass es natürlich weh tut. Seine eingeprägten Verhaltens- und Denkweisen auf den Prüfstand zu stellen und diese zu ändern ist immer schmerzhaft, aber auch befreiend. Die große Herausforderung ist allerdings herauszufinden, welche Arbeit möglich und welche nötig ist. Nun ist auch klar, warum die Arbeit am rauhen Stein nie zu Ende ist, weil sie eine sehr große Aufgabe ist und es immer Stellen geben wird, die man optimieren und ändern kann und sollte und es auch auf die zu bewältigenden Aufgaben des Steins ankommt, welche Form optimal ist. Denn es ist noch lange nicht klar, wo der Platz des Steins im Tempel sein wird.

Hat der Lehrling nun gelernt, wie die Werkzeuge funktionieren, um an sich zu arbeiten und hat er die Arbeit an sich und seiner Form aufgenommen, kommt auf Ihn die nächste Aufgabe zu, als Geselle. Es gilt zu lernen, wie der Mörtel funktioniert und noch wichtiger herauszufinden, wo sein Platz im Tempel sein kann und soll. Der Tempel ist riesig. Er umfasst die gesammte Menschheit oder vielleicht sogar das gesammte Universum. Die Form des rauhen Steins und der Ort sind stark miteinander verbunden. Der Stein kann so schön bearbeitet sein, wie er möchte, es wird Orte oder übertragen Aufgaben geben, an und mit denen er nicht in den Tempel passt. An anderen Orten ist er der perfekte Stein, um ein Gebäude zu stützen. Es gilt also nun zu wandern und sich den Tempel anzuschauen und sich seiner Form und Fähigkeiten bewusst zu werden und diese auszuprobieren. Den Umgang mit dem Mörtel gilt es zu erforschen. Es gibt viele Arten des Mörtels, also der Liebe in diesem Universum. Einige Arten werden sehr gut haften, einige weniger gut. Die verschiedene Arten des Mörtels bedürfen auch manchmal anderer Verarbeitungstechniken und das ist ok. Es gilt herauszufinden, welcher Mörtel und welche Art der Verarbeitung zu einem passt. Das hängt stark von dem Material des Steins selber ab, denn nicht alle Steine sind aus dem gleichen Grundmaterial. Wichtig ist zu merken, was zu einem passt und dass der gesammte Tempel stabil wird. Das heißt nicht, dass er an allen Stellen gleich beschaffen sein muss.

Hat der Geselle nun den Tempel und die anderen Steine erkundet und kennengelernt, sowie den Umgang mit dem Mörtel geübt, wartet die nächste und wahrscheinlich schwerste Aufgabe auf ihn. Als Meister nimmt der Stein nun seinen Platz als Teil des Tempels ein. Der Stein erlebt, dass seine Suche nach seiner Form und seinem Platz endlich ist. An irgendeinem Zeitpunkt ist der Moment gekommen, an dem er vermeintlich seinen Platz wählt und sich entscheiden muss. Vielleicht ist aber die grundlegendste Weisheit und Erfahrung auch die, dass ein Stein meistens kein und schon gar nicht DER Architekt ist. Die Erfahrung, dass es Bestimmung sein könnte, wo der ideale Platz des Steins ist und die Suche nach diesem das Ziel ist, ist fundamental. Vielleicht gibt es sogar mehrere ideale Orte für den Stein oder auch gar keinen und doch ein paar Orte, die gut sind. Spätestens an diesem Zeitpunkt wird einem die Grösse und die Komplexität des Tempels klar. Die Aufgabe ist, “das Beste draus zu machen” und den Bau zu stärken, wo man kann und einen Platz zu finden, an dem man ganz frei nach Goethe sagen kann: 

“Hier bin ich Stein, hier darf ich’s sein”.

Mir persönlich hilft das Symbol des rauhen Steins, mich immer wieder daran zu erinnern, mein Handeln und meine Denkstrukturen zu hinterfragen und zu schauen, wie ich meine Mitmenschen mit Liebe und nicht mit Vorurteilen begegnen kann ohne mich selber „zu verbiegen“ oder meine eigenen Grundsätze aufzugeben. Auch hilft mir das Symbol zu prüfen, wo im Tempel ich mich befinde und ob ich dem Tempel an diesem Ort nützlich sein kann oder auch ob der Ort und die Umgebung zu mir passt. In diesem Moment meine Brüder bin ich mir sicher am richtigen Ort zu sein und bin froh ein “Rauher Stein” zu sein.