Der Gegensatz zwischen Leben und Erstarrung

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Aus alten Zeiten, als man in Ostfriesland noch Latein konnte, ist der Spruch überliefert: „Deus mare, Friso litora fecit!“ Zu deutsch: „Gott schuf das Meer, der Friese baute die Deiche.“

Damit ist der Gegensatz angesprochen, der das Thema dieses Vortrags ist: Einerseits das Meer, das Leben, die Natur; andererseits der Mensch in seinem Drange, sich die Welt zu unterwerfen. Dabei ist das Meer sowohl konkret die gegen das Ufer unablässig anstürmende Gewalt, zugleich aber auch symbolisch die Natur schlechthin mit ihrer ungeheuren Kraft und nie erlahmenden Beharrlichkeit, unbändig, unbeherrscht, blind.

Dagegen war der Mensch zunächst als Jäger und Sammler der Natur völlig unterworfen. Am Leben konnte er sich allenfalls erhalten durch ängstliche Beobachtung ihrer Wirkungen und sorgfältige Vermeidung der jederzeit und allseitig drohenden Gefahren. Erst der beginnende Ackerbau bezeichnet den Versuch des Menschen, sich der Welt zu bemächtigen, wie Gott es Noah aufgegeben hatte.

Wie aber kam es nun, daß uns heute dieser Versuch nicht mehr ganz gelungen erscheinen will? Wie kindlich mutet uns heute der Optimismus des 19. Jahrhunderts an!

Was stand doch noch am Anfang? Am Anfang stand der Schöpfungsbericht, die altehrwürdige Erzählung, wie Gott es dem Menschen vorgemacht hatte: Ein Ding nach dem anderen, dazwischen stets die Prüfung, ob es gut sei, und dann den nächsten Schritt, bedächtig, sorgfältig, ohne jede Hast. So, wie ein werkgetreuer Handwerksmeister zu arbeiten pflegt und jahrhundertelang auch gearbeitet hat. Es gibt noch Häuser und es segeln noch Schiffe, die nach dieser guten alten Handwerksgesinnung entstanden sind. Aber wir betrachten sie mit dem schwermütigen Gefühl, in ihnen Zeugnisse einer Vergangenheit zu sehen, deren bestes Teil uns verlorenging.

Damit aber müssen wir uns fragen: Was also haben wir falsch gemacht?

Ich glaube nicht, daß man von bestimmten Vorgängen oder Maßnahmen sagen kann, dies oder das sei falsch gewesen. So, als ob von einem bestimmten Punkt an die Entwicklung gewissermaßen in die falsche Richtung gegangen sei. Besser und richtiger scheint es, wenn man den ganzen Prozeß der menschlichen Erfindungen und Fortschritte als Einheit betrachtet, als schicksalhafte, also zwangsläufige Entwicklung, an deren Fortgang die einzelnen Menschen zwar als durchaus tätige Gehilfen, nicht aber als Lenker oder gar Meister mitgewirkt haben. Vielleicht herrscht hier ein verhängnisvolles Gesetz: Danach enthält jede Erfindung, die dem Menschen einen Vorteil bringt, zugleich einen Nachteil, der den Vorteil ganz oder teilweise wieder aufhebt. Die Eisenbahn, das Automobil, die ganze Industrieproduktion, um nur wenige Beispiele zu nennen, sie alle haben riesige, unbestreitbare Vorteile gebracht, man spricht daher auch gern von „Errungenschaften“; aber ihre Nachteile sind ebenso unbestreitbar. Ferner: Der Fortschritt der Medizin hat das Leben des Menschen erheblich verlängert und ihn von Schmerzen weitgehend befreit. Dadurch aber hat auch die Zahl der Menschen verhängnisvoll zugenommen und die Bekämpfung des Schmerzes hat uns zugleich das Drogenproblem beschert. Wer denkt da nicht an den Warnungsruf der alten Weisen: „Nichts zuviel“?!

Nichts, keine Ausrede und kein technischer Trick kann helfen angesichts eines ehernen Gesetzes: Jedes Stück Natur, das der Mensch bebaut, bedeutet für die Natur ein Stück erloschenes Leben! Jedes Haus und jede Straße, die gebaut werden, kostet ein Stück lebendiges Leben! Jedes Feld, das bebaut wird, jeder Fluß, der begradigt wird, bringen den Tod für Tiere und Pflanzen! In diesem Frühling werden wir sehen, ob die Menschen etwas gelernt haben, wenn sich nämlich die Menschenmassen in Naturschutzgebiete ergießen oder vielleicht doch nicht ? —

Wir wollen nun in Gedanken einen großen Sprung machen, einen Sprung in die Freimaurerei: Auch hier gibt es den Gegensatz zwischen dem Leben und der Erstarrung. Um Irrtümer zu vermeiden: Damit sind nicht etwa bestimmte Menschen gemeint, sondern nur bestimmte Denkrichtungen. Wir wissen ferner, daß konservatives Denken dem Fortschritt nicht ständig feindlich gesinnt ist, andererseits mit Fortschritt nicht zugleich Bewährtes zwangsläufig entfallen muß. Die Freimaurerei hat anfänglich für den Fortschritt gestanden, so lange nämlich ihr gegenüber der absolute Fürst im Bunde mit der Landeskirche als Vertreter der Reaktion stand. Dabei bestand ihre Fortschrittlichkeit sowohl in ihrem damals revolutionären Programm mit den Punkten Toleranz, Gedankenfreiheit, Menschenwürde usw. als auch darin, daß sie in den Logen Freiräume bereitstellte, in die die Macht der Reaktion nicht hineinreichte. Später hat sich dann, wie wir wissen, das Umfeld derart verändert, daß die Freimaurerei mehr und mehr auf die Seite des Konservativen treten mußte, wenn sie ihren Idealen treu bleiben wollte. Mußte sie es doch erleben, daß irregeleitete Freiheitlichkeit, Laxheit im öffentlichen Leben, Sprachschluderei und Betrugskunst derart überhand nahmen, daß ihr gar nichts anderes übrigblieb, als ganz einseitig und kompromißlos für die Werte einzutreten, die zur Zeit auf’s Höchste bedroht sind: Redlichkeit in Politik und Geschäft, Sorgfalt im Umgang mit der Sprache, Liebe und Respekt vor den unvergänglichen Kunstwerken der Vergangenheit. So gesehen, ist die Freimaurerei heute eindeutig konservativ.

Muß nun aber um der Deutlichkeit unserer Zielsetzung willen wirklich alles sorgsam bewahrt werden, womit wir uns zum Erstaunen auch der vernünftigen, erst recht der verständnislosen Zeitgenossen mit Fleiß lächerlich machen? Sind vielleicht manche Dinge nicht mehr symbolisch zu sehen, sondern zum Selbstzweck geworden?

Man erzählt sich: Im alten Rußland zur Zarenzeit stand ständig ein Posten an der Kremlmauer, wo weder ein Tor noch sonst etwas zu bewachen war. Man forschte nach und stellte fest, daß vor über hundert Jahren die Zarin Katharina die Aufstellung eines Postens befohlen hatte, um ein Schneeglöckchen vor dem Zertretenwerden zu bewahren …. An diesen Posten erinnern mich heute manche Meinungsäußerungen. Demgegenüber ist auch der Ruf: „Schneidet die Zöpfe ab!“ in letzter Zeit mehrfach zu hören gewesen, aber ohne jeden Erfolg. Und darum wiederhole ich ihn hiermit und jetzt!

Was zu ändern sei, darüber müssen wir reden. Mit allem Ernst und mit viel Behutsamkeit und voller Respekt vor den überlieferten, unverändert gültigen Idealen unseres Bundes. Aber auch mit klarer Erkenntnis, daß das Nachbeten sinnlos gewordener Formeln gerade angesichts dieser Ideale unzulässig wird.

Denkt darüber nach, meine Brüder, denkt nach! Weisheit leite den Bau!

 

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