Die Bibel

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Geschrieben steht:
im Anfang war das Wort.
Hier stock ich schon!
Wer hilft mir weiter fort?

Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen, 

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,

Dass Deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehen: im Anfang war die
Kraft!
Doch auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.

Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: im Anfang war die
Tat!  (1)

Kürzlich war eine Meldung in den Medien darüber, dass der Staat Israel erstmals eine Raumsonde starten lässt, die den Mond nicht nur erreichen, sondern auch sicher auf ihm landen soll. Als physischer Beleg dieser Landung soll unter anderem eine Bibel mit auf den Mond gebracht werden. Bezeichnenderweise heißt die Mission „Beresheet“, was der hebräische Name des ersten Buch Mose ist. Applaus für diese technische Meisterleistung, die im Moment des Schreibens dieser Zeilen noch in Zukunft lag, inzwischen jedoch wahrscheinlich Geschichte ist! (2)

Allerdings soll bereits der Astronaut James Irwing bei seiner Mondlandung 1971 eine Bibel in den Mondstaub gelegt haben. Und zwar eine echte, d.h. ein gedrucktes Buch, kein münzgroßer Datenträger, wie ihn heute die Israelis vor haben, auf dem Mond zu hinterlassen. Ganz ehrlich: ich persönlich finde Irvings Geste irgendwie passender, denn ein rund zweitausend Jahre altes Buch verbinde ich eher mit Papier, Leder und Tinte (oder wenigstens Druckerschwärze), als mit einem hochmodernen Speichermedium. 

Leider kann ich in beiden Fällen nicht nachvollziehen, was der Zweck oder auch nur die Aussage daran bzw. davon sein soll, eine Bibel auf den Mond zu bringen. Lektüre für kommende Generationen von Mondfahrern kann es wohl kaum sein. Literatur für Außerirdische etwa? Die könnten, wenn sie denn mal vorbeikämen, auch in einer der zahllosen Bibeln lesen, die in nach kosmischen Maßstäben unmittelbarer Nachbarschaft auf der Erde herumliegen. Vielleicht ist es auch mit dem Zukunftsoptimismus der Bibel-zum-Mond-Bringer nicht so weit her und sie sorgen vor für den Fall, dass es auf dem Planeten Erde mal keine Bibeln mehr zum Lesen gibt? Oder wurde der Erdtrabant sogar zum intergalaktischen Missionar auserkoren? Das ist keineswegs ausgeschlossen, lassen wir den Gedanken mit einer Assoziationskette freien Lauf: alle Jubeljahre schlägt ein Meteorit auf dem Mond ein. Vielleicht ist in naher Zukunft einmal einer dabei, der nicht nur einen hübschen Krater hinterlässt, sondern dem Mond einen derartigen Impuls verleiht, dass dieser seine traute Zweisamkeit mit der Erde aufgibt und eine kosmische Reise als Single beginnt. Am Anfang kreist er noch einige Male um unsere Sonne herum, doch das dient mehr dazu, richtig Schwung zu holen und bald führt ihn seine Bahn hinaus in die unendlichen Weiten des interstellaren Raums. 

Lassen wir ihn eine Weile ziehen, den Mond, mit seiner biblischen Fracht! 

Ein paar hundert Millionen Jahre reichen. Dann dürfte er, obwohl er natürlich deutlich langsamer als das Licht unterwegs ist, den einen oder anderen Spiralarm unserer Milchstrasse durchquert und etliche Sterne passiert haben. 

Jetzt stelle ich mir vor, dass unser guter alter Mond in die Nähe eines Sterns gerät, dessen Planeten von intelligenten Wesen bewohnt werden. Diese Wesen sind in einer Weise intelligent, dass sie nicht nur einfach ihren Planeten bewohnen, was ja durchaus auch denkbar wäre, sondern sie interessieren sich brennend für diesen unbekannte Objekt – unseren Mond – der plötzlich ihr Heimatsonnensystem durchquert. 

Ich habe natürlich nicht die geringste Ahnung davon, was das für Wesen sind. Ob sie uns ähnlich sind? Wohl kaum. Die Wahrscheinlichkeit dafür dürfte äußerst gering sein, vermutlich geringer, als dass unser Mond die eben beschriebene Reise antritt. Gut, also die Wesen sind uns NICHT ähnlich. In Ermangelung eigener Phantasie bediene ich mich bei Stanislaw Lem und Frank Schätzing und kreiere eine Art intelligentes Plasma (also ein Gemisch aus neutralen und ionisierten, d.h. geladenen Teilchen), das von Mineralien und Sonnenenergie lebt, aus einzelnen Einheiten besteht, die für sich genommen eigentlich nicht so richtig lebensfähig sind und erst in der Gemeinschaft zu intellektuellen Meisterleistungen fähig sind (verflixt, jetzt ist mir doch eine eindeutige Ähnlichkeit mit uns Menschen hineingerutscht!). Wie auch immer, was ich sagen will: diese Lebensform ist einfach GANZ anders als alles, was wir uns vorstellen können.

Diese außerirdische Lebensform hat jedenfalls unseren Mond in ihrem Sonnensystem entdeckt und beginnt, den Eindringling zu untersuchen. Grundsätzlich findet sie den Mond recht appetitlich (wir erinnern uns, dass Minerale auf dem Speiseplan stehen), allerdings sind da einige „Zutaten“, welche gewissermaßen nicht ins Menü passen: allerlei Metallschrott und Kleinkram, und ja na klar, die erwähnte Bibel.

Als unser intelligentes Plasma die Bibel findet, stutzt es sozusagen. Denn dass das Ding organischen Ursprungs ist, hat das Plasma natürlich sofort erkannt! Leder. Papier. Knochenleim. Pigmente, Löse- und Bindemittel der Druckerschwärze. Die Fasern des Lesebändchens. Alles organisch! Und weil es in den Weiten des Weltalls, die unser Mond eben durchquert hat, kaum Strahlung, noch weniger Meteoriten und erst recht keine zerstörerischen Mikroben etc. gibt, hat die Bibel die lange Reise auch einigermaßen unbeschadet überstanden.

Das Plasma ist jetzt richtig fasziniert! Es ist nämlich der Meinung, den Astronauten entdeckt zu haben, der das fremde Raumschiff steuert! In der fremden Welt unseres Plasmas ist es nämlich unvorstellbar, dass man etwas Lebendes dauerhaft in den unlebendigen Zustand befördert, nur um sich daran zu erfreuen (z.B. Bücher) oder sonstigen Nutzen daraus zu ziehen (z.B. Stühle, Kleidung, etc.). Dieses Konzept gibt es einfach nicht! Ergo ist die Schlussfolgerung nur konsequent, dass es sich bei dem einzigen einigermaßen komplexen organischen Ding – denn sonst gibt es auf dem Mond lediglich einfache organische Verbindungen wie sie zum Beispiel auch auf Asteroiden vorkommen, – dass es sich also bei dem einzigen komplexen organischen Ding (der Bibel) auf einem anorganischen Gefährt (dem Mond) nur um den Erbauer, Kapitän und Steuermann desselben handeln kann. 

Unser Plasma versucht nun, Näheres über die fremde Lebensform herauszufinden. Das Ding zappelt zwar nicht mehr, schade! Vermutlich hat es die lange Reise durch den intergalaktischen Raum doch nicht ganz unbeschadet überstanden? Oder ist da irgendwo ein Schalter, den man drücken muss, und unsere Bibel fängt wieder an zu leben, ist nur in einer Art Reisestarre? Eigentlich dürfte sich das Material auf der langen Reise kaum verändert haben. Knapp oberhalb des absoluten Nullpunkts durch das interstellare Fast-Nichts sind doch ziemlich optimale Bedingungen für eine wirklich lange, Äonen lange Konservierung. Außer dem Zerfall von einigen im Material eingelagerten, schwach radioaktiven Isotopen dürfte nicht viel passiert sein.

Nach einiger Zeit sieht das Plasma jedoch ein, dass da nichts zappeln will, wo man auch drückt. Nun beginnt es, die Erbgutschnipsel zu analysieren, die noch immer in dem Material enthalten sind. Ethische Werte sind dem Plasma fremd. Es ist sich zwar nicht restlos sicher, ob die fremde Lebensform tatsächlich dauerhaft verstorben ist, doch nun überwindet der Wissensdrang die bisherige vornehme Zurückhaltung. Man kann doch erst einmal nur ein ganz kleines Pröbchen…Sicher spielt die Faszination darüber eine große Rolle, was sich auf diese Art alles herausfinden läßt! Ein Rinderleder-Erbgut enthält allerlei interessante Dinge! Einmal den gesamten Bauplan der Kuh. Und alle ihre grundsätzlichen Bedürfnisse, Freuden und Leiden dazu. Auch die Evolution dieser Lebensform vom zappeligen Einzeller bis hin zur Kuh ist zumindest ansatzweise ablesbar, inklusive einiger Sackgassen und Irrwege. Und alles in einer Sprache, die unser Plasma, wenn es denn in unserem Sinne sprechen könnte, schier sprachlos macht! Nur vier Zeichen! GTAC! Natürlich stellt das Plasma fest, das man die Kuh auch viel effizienter hätte entwickeln können und es allerlei Ballast eigentlich gar nicht braucht und es sieht das Optimierungspotenzial. Aber dennoch: wenn das Plasma einen Hut hätte, würde es ihn ziehen, so sehr ist es von der Raffinesse angetan, mit der sich hier eine Lebensform erst entwickelt und dann abgespeichert hat. Und das ist längst nicht alles: diverse Baumarten und weitere Pflanzen bestaunt unser Plasma desgleichen, deren Abbild es aus der Vielfalt der Zutaten extrahiert, die notwendig sind, um eine veritable Bibel herzustellen. 

Vermutlich ist das Plasma inzwischen der Meinung, jetzt endlich die eigentliche Besatzung des Mond-Raumschiffs entdeckt zu haben, welche sich vor langer Zeit auf die unwirtliche Reise begeben hat: diverse Existenzen, die wir „Pflanzen“ nennen unter dem Kommando eines Wesens, das wir als „Kuh“ kennen. Und na klar, es liegt auf der Hand, dass diese Lebensformen mit all dem Wurzelwerk, Gedärm und Blutpumpengedöns gar nicht auf eine interstellare Reise gehen KONNTEN, kein Wunder also haben sie sich eine dauerhaftere Form (die Bibel) gesucht, um diese Reise anzutreten. Womit unser Plasma die These von der planvollen Reisestarre für bewiesen hält. 

Nachdem das intelligente Plasma noch etliche Untersuchungen und Studien durchgeführt hat, muss es leider einsehen, dass seiner gesammelten Kunst und Fähigkeit nicht gelingen wird, die Reisenden aus ihrer konservierten Form wieder zum Leben zu erwecken! Jetzt wäre es an der Zeit für eine Portion schlechtes Gewissen (wenn es auf jenem fernen Planeten Gewissen gäbe), denn man ist mit den invasiven Untersuchungsmethoden eventuell nicht ganz unbeteiligt an dieser Entwicklung gewesen! Trotzdem: schade! Gern hätte das Plasma von den Wiedererweckten mehr über sie erfahren! Woher kommen sie? Wohin sind sie unterwegs? Warum haben sie die mühevolle Reise unternommen? 

Kurz bevor das Plasma die Bibel definitiv zur Seite legt (oder ins Kuriositätenkabinett bringt, wenn es dort solches gibt), denn nun hat es das, was wir Buch nennen, inhaltlich bis ins Allerkleinste untersucht, ausgewertet und verstanden, befasst es sich noch einmal mit deren allgemeiner FORM. Dabei fällt dem Plasma auf, dass die hübschen, durchaus dekorativen Muster auf den einzelnen Buchseiten, aus denen es zuvor so schöne Erbgutanalysen aus pflanzlichen Harzen usw. extrahiert hat, gar nicht so zufällig sind, wie es auf den ersten Blick (wenn das Plasma denn blicken könnte) scheinen mag. Noch einmal erwacht das Interesse! Schnell findet das Plasma heraus, dass es sich dabei tatsächlich AUCH um eine verschlüsselte Botschaft handelte! Allerdings bei weitem nicht von solcher Klarheit, Schönheit und inhaltlicher Tiefe wie jener Text, welcher bei den Erbgutanalysen zu Tage getreten ist. Statt nur vier Buchstaben bemüht die neuerliche Botschaft fast dreissig verschiedene Zeichen! Und obwohl sich das Plasma redlich müht, kann es keine Sinn dahinter erkennen. Bitte versteht mich nicht falsch: natürlich begreift das Plasma sofort, dass hier kein Erbgut verschlüsselt ist. Und es ist auch schnell in der Lage, eine wortwörtliche Übersetzung des Bibeltextes zu lesen. Doch was wollen die Autoren, die unser Plasma zweifellos (in Form der Bibel, wir erinnern uns: Reisestarre!) vor sich hat, ihm damit sagen? Handelt es sich um einen raffinierten Bauplan? Oder um eine Gebrauchsanweisung? Hält das Plasma gar den Schlüssel in den Händen (wenn es denn Hände hätte), die Reisenden wieder zu erwecken? Immerhin sind in dem Bibeltext auch Auferstehungsthemen verarbeitet…

Doch wie das intelligente Plasma die Sache auch dreht und wendet: 
der Bibeltext hinterlässt bei ihm nur eines, nämlich Ratlosigkeit.
Am Ende zweifelt unser Plasma sogar ernsthaft daran (und hat, wie wir wissen, damit den Finger (wenn es denn Finger hätte) exakt darauf), dass die aus Sicht der außerirdischen Existenz hochintelligenten Verfasser der zuerst entdeckten GTCA-Texte die gleichen sind, welche das zuletzt Entdeckte niedergeschrieben haben. 

Bevor ich nun auch den letzten Zuhörer verliere, komme ich jetzt zum Schluß und vor Allem zur entscheidenden Frage: Warum erzähle ich Euch diese ganze Geschichte? Natürlich geht es mir NICHT darum, hier irgendjemandem sein privates Vergnügen zu vermiesen, bei der Lektüre alter Texte sich von einem „heiligen Schauer“ durchrieseln zu lassen. Aber vielleicht sollten wir unser Bedürfnis, das wir zweifellos danach verspüren, die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest (3) zu finden, nicht so wichtig nehmen. Diese Suche ist nicht Selbstzweck. Klar ist es irgendwie interessant, sich Gedanken zu machen und nachzulesen, was andere dazu gedacht und geschrieben haben. Klar ist es sehr befriedigend, Gedankengänge einleuchtend zu finden und andere zu verwerfen. Auf den Spuren anderer zu untersuchen, ob der Elohim nun eigentlich der gleiche ist wie der Adonai und die ganzen Geschlechter und Erbfolgen und Eigenschaften, Fähigkeiten, Katastrophen und Zusammenhänge, Bezüge zu anderen Schriften und Autoren zu entdecken oder herzustellen und und und. Aber am Ende geht es doch für jeden einzelnen von uns erst einmal nur darum, einigermaßen würdevoll und mit Anstand durch das Leben und in die Kiste zu kommen. Um das zu erreichen, muss jeder irgendwann einmal das Buch zur Seite legen und handeln, richtig handeln. Dazu muss es vor allem hier stimmen (zeigt auf sein Herz) und, zugegeben, wohl auch hier (zeigt auf seinen Kopf). Und allerspätestens dann, wenn man mit dem persönlichen Klein-Klein aufgeräumt hat und endlich im Reinen ist, sollte man die Ärmel hochkrempeln (womit sich der Kreis schließt und wir wieder bei den Eingangs zitierten Zeilen von Bruder Goethe angekommen sind) und die wirklich wichtigen Dinge angehen, die über den eigenen Dunstkreis hinausreichen in die Welt, zum Beispiel: 

  • Freiheit.
  • Toleranz.
  • Menschenliebe.

Ob es dafür hilfreich ist, Bibeln auf den Mond zu schießen, darf getrost bezweifelt werden. 


Quellen/ Anmerkungen

  1. Johann Wolfgang Goethe Faust. Der Tragödie erster Teil, Tragödie 1808
  2. Leider waren dies unberechtigte Vorschusslorbeeren: ausgerechnet genau an jenem Tag, an welchem diese Zeichnung aufgelegt wurde, zerschellte die genannte Sonde leider beim Landeanflug auf der Mondoberfläche. Tja, das war dann wohl nichts, vielleicht klappt es beim nächsten Mal! 
  3. Douglas Adams Per Anhalter durch die Galaxis, Roman 1979