Ein Vortrag im Rundfunk über die 1763 veröffentlichte „Abhandlung über die Toleranz“ von Voltaire regte mich an, über geschichtliche Daten von Toleranz und dem Gegensatz, der Intoleranz, zu suchen und nachzuforschen. Natürlich weiß ich, daß üeber dieses Thema viel geschrieben und diskutiert wurde, aber irgendwie begann und endete es immer mit Voltaire, Lessing und dem „Alten Fritz“. Aber dies alles beginnt ja weit vorher, eben vorgestern, wenn mir diese Formulierung als Metapher gestattet sei.
Das Wort „Toleranz“ kommt vom lateinischen „tolerare“ = „erdulden, ertragen“. Es hat zunächst und ursprünglich den Sinn der religiösen Duldsamkeit, des Duldens andersartiger Glaubensbekenntnisse, Gottesdienste und Glaubensbezeugungen durch die Herrschenden. Im Lauf der Geschichte begegnete uns das Wort zuerst bei den antiken Philosophen, namentlich den Stoikern, dann in der ausgehenden Antike im Toleranzedikt von 313 n. Chr. von Mailand, in dem Kaiser Konstantin I. und Kaiser Licinius vereinbarten, daß den Christen freie Religionsausübung gestattet sei, ebenso wie allen Kulten der damaligen Zeit. Damit wurde die Zeit der grausamen Christenverfolgung beendigt.
Das war also das Jahr 313 n. Chr. Das Christentum konnte sich in Europa durchsetzen. Als es sich aber durchgesetzt hatte, das Christenum, das diese Durchsetzung dem Toleranzedikt von 313 zu verdanken hatte, war Toleranz bei „Christens“ durchaus nicht mehr üblich. Karl der Große ließ in den Sachsenkriegen 5000 sächsische heidnische Geiseln in Verden a. d. Aller niedermetzeln. Das ist vergessen, das war ja vorgestern; denn Aachen vergibt ja mit großem Stolz den Karls-Preis. Ja, ja, ich weiß. Ich will ja nicht an seinem Image kratzen, aber es gehört geschichtlich eben beides dazu. In den Kreuzzügen wollte man die heiligen Stätten in Palästina den Händen der Ungläubigen entreißen. Im Namen des christlichen Glaubens verübten die Konquistadoren in Mexiko und Peru ihre Greuel. Im 17. Jahrhundert folgte das Zeitalter der Religionskriege; die Inquisition ließ von Spanien bis nach Polen die Ketzer verbrennen. Im Dreißigjährigen Krieg mußten wegen der religiösen Intoleranz zwei Drittel aller Menschen in Deutschland ihr Leben lassen und und und. Graumsamkeiten, Kreuzzüge, Folterungen, Judenprogrome, Vertreibungen als Folgen der religiösen Intoleranz? Oder war es nur der vorgeschobene Grund für Habgier und Machtstreben, ein ideller Vorwand für sehr irdische Zwecke? Das war vorgestern, und heute, was ist heute los in unserer „UNO-Welt“? Die Aktualität erspart es mir, hierauf näher einzugehen.
Erst die Aufklärung beendete diesen Zustand, also die vorgenannten Greuel der intoleranten Religiösität. „Rottet den infamen frommen Aberglauben aus“ rief Voltaire und der alte Fritz holte die Hugenotten, die die Bartholomäusnacht noch übriggelassen hatte, und erließ ein Edikt, daß „die Religionen sollten tolerieret werden“, im Volksmund besser bekannt als „Jeder solle nach seiner Facon selig werden“. Lessing gab dem Gedanken der Toleranz in seinem „Nathan der Weise“ bis heute ihren gültigsten Ausdruck. Den Zeitgenossen der Aufklärung bedeutete das Ideal der Toleranz die Befreiung von einer uralten Geißel der Menschheit, von Angst und Gewissensnot. Diesen Zeitraum würde ich als gestern bezeichnen.
Nun möchte ich eine Zäsur machen und auf den Rundfunk-Vortrag zurückkommen, der mich zu dieser Zeichnung (Aufsatz) veranlasst hat: „Abhandlung über die Toleranz“ von Voltaire. Voltaire reagierte mit seiner Schrift auf einen Justizmord an einem Hugenotten. Der zum Tode Verurteilte gehörte zu jener religiösen Minderheit, die seit mehr als zweihundert Jahren, seit der lutherischen und calvinischen Reformation im katholischen Frankreich lebte, – von vielen toleriert, bei vielen verhaßt. Jean Calas, so hieß dieser Hugenotte, war ein Kaufmann aus Toulouse. Man räderte ihn zu Tode, weil er angeblich seinen Sohn ermordet hatte. Er habe ihn ermordet, um dessen Übertritt zum Katholizismus zu vereiteln. Doch dieser Sohn Marc-Antoine hatte in Wirklichkeit Selbstmord begangen. Die Familie verschwieg das, weil dem Toten sonst ein christliches Begräbnis verweigert worden wäre. Der Vater wurde im März 1762 hingerichtet. Voltaire erreichte die nachträgliche Ehrenrettung des Calas. Er rehabitierte ihn durch sein „Traktat über die Toleranz“.
Von Jean Calas selber handeln nur die beiden ersten und das letzte Kapitel. Das erste beginnt so:
Der Mord an Jean Calas, der am 9. März 1796 mit dem Schwert der Gerechtigkeit begangen wurde, ist eine der eigentümlichsten Begebenheiten, denen die Aufmerksamkeit unserer Zeit und die der Nachwelt gebührt … Bei dieser höchst sonderbaren Begebenheit ging es um Religion, Selbstmord, Verwandtenmord; es galt herauszufinden, ob ein Vater und eine Mutter, um Gott wohlgefällig zu sein, ihren Sohn erdrosselten … Jean Calas, 68 Jahre alt, war seit mehr als 40 Jahren in Toulouse als Kaufmann tätig und galt bei allen, die mit ihm zusammengelebt hatten, als guter Vater. Jener widersinnige Fanatismus, der alle Bande der Gesellschaft zerreißt, lag ihm so fern, daß er die Bekehrung seines Sohnes Louis billigte und seit 30 Jahren in seinem Haus eine überzeugte Katholikin als Dienerin beschäftigte, die alle seine Kinder großgezogen hatte. Ein Sohn von Jean Calas mit Namen Marc-Antoine war Literat; er galt als ein unruhiger, düsterer und jähzorniger Geist. Da es ihm weder gelang, Kaufmann zu werden, noch seine Zulassung als Advokat zu erhalten … beschloß er, seinem Leben ein Ende zu machen und deutete diesen Plan einem seiner Freunde gegenüber an.
Voltaire gewinnt seine Leser auf Anhieb, weil er es wie kein anderer versteht, Schilderungen und Hintergründe, Anklage und Protest, Mitgefühl und Zorn ineinander fließen zu lassen. Er weiß: seine Waffe ist das Wort, und dieses Wort setzt er zielsicher ein. Alle seine Streitschriften sind Gelegenheitsschriften, das heißt Antworten auf begangenes Unrecht, das ihn bis zur Weißglut erregt. Und Voltaire übergibt alle seine Erregungen der Feder. Er sucht und braucht das große Publikum.
Ich schrieb dies deswegen ein bißchen ausführlich, um seine „Schreibe“, wie es in Journalisten-Jargon heißt, zu zeigen. Voltaire erfindet nichts, er bingt nur das Gefundene in eine Form, die überzeugt, denn er will gewinnen. Dieser Advokat (Voltaire) arbeitet für die Ehrenrettung der Familie ohne Honorar und trotzdem nicht umsonst. Gegen Fanatismus und Aberglauben will er die Sache der Vernunft und der Toleranz zum Siege führen, ohne darüber je zu vergessen, daß damit auch sein eigener Glanz umso heller erstrahlen wird.
Es würde zu weit gehen, jetzt Voltaire’s Biographie abzuschreiben, aber zum Verständnis noch kurz folgendes: 1694 geboren, behauptet er gern, sein Vater sei gar nicht der Notar Francois Arouet, sonder Monsieur de Rochbrune oder der Abbe de Chateneuf. Mit zehn Jahren schreibt er ein Theaterspiel, mit 15 entwirft er seinen Lebensplan: er will ein großer Dichter und ein reicher Mann werden, was ihm beides auch gelingt. Voltaire ist ein hochintelligenter Genießer, der sich jedem unmittelbaren Zugriff entzieht. Die Affäre um sein selbst zugelegtes Adelsprädikat mit dem Chevalier de Rohan veranlaßt ihn, nach England zu gehen. Dort lernt er ein intellektuelles und politisches Klima kennen, in dem Vernunft und Freiheit herrschen. Der Geist der Freiheit, den Voltaire in England zu atmen bekommt, wird ihn später den Ungeist der Unfreiheit im eigenen Land herausschreien lassen, jenen mörderischen Ungeist des Fanatismus und der Intoleranz. Es bleibt aber seine ungeheure Zivilcourage, wenn er nach seinem ungewollten England-Aufenthalt dem christlich selbstgerechten Europa den Satz sagt:
„Wer mir sagt: Denke wie ich, oder Gott wird dich strafen, der wird mir bald sagen: Denke wie ich, oder ich bringe dich um.“
Auch hier zunächst eine Zäsur, und weiter also in der Geschichte von Toleranz und Intoleranz.
Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert hat es trotz der anhaltenden konfessionellen Gegensätze in Europa kaum mehr Kriege aus religiöser Intoleranz gegeben. Zu erwähnen wäre noch Bismarcks Kulturkampf gegen das katholische Zentrum. Hier gibt es aber wiedermal einen für mich historischen Treppenwitz, nämlich der Abschluß des Konkordats zwischen dem NS-Regime und Rom, etwa September 1933, ausgehandelt von Herrn von Papen und dem Vatikan-Botschafter in Deutschland, Kardinal Parcelli, dem späteren Papst. Kardinal Faulhaber gratulierte „Herrn Hitler“ für seine staatsmännische Tat, die er (Hitler) in 6 Monaten zum Abschluß gebracht hätte, während dies bei den Liberalen oder mit den Liberalen in 60 Jahren nicht möglich gewesen wäre … und wir zahlen noch heute nach diesem Vertrag unserer Kirchensteuern. Ja, das ist Geschichte. Die Intoleranz ging auf andere Gebiete über: im Klassenkampf der Marxisten, im Chauvinismus der Nationalstaaten, in der Rasseniedeologie des Dritten Reiches, in der Negerfrage in den USA und Südafrika. Wenn ich davon sprach, daß es in Europa ab dem 19. Jahrhundert trotz religiöser Gegensätze keine kriegerischen Auseinandersetzungen gab, so gibt es außerhalb Europas eine solche durch den Islam. (Ich will bei meinen Gedanken die aktuelle Situation in Jugoslawien ausklammern). Der Prophet Mohammed hatte seinen Anhängern befohlen, den Glauben an Allah mit dem Schwert zu verbreiten und dazu „heilige Kriege“zu führen. Die geschichtliche Folge ist bekannt von Karl Martell bis Prinz Eugen. Seine Anhänger trugen die grüne Fahne des Propheten bis Persien, Indien hinaus bis nach Indonesien, fast bis an die Grenze Chinas. Der gemeinsame Glaube der Moslems reicht heute von Casablanca am Atlantik bis zum Malaischen Archipel und bis in die heutige GUS hinein. Er soll etwa 500 Millionen Menschen umfassen. Seine kriegerische Kraft schien erloschen zu sein, aber bei der Trennung Pakistans von Indien führte das wieder zur Vertreibung von fast 100 Millionen Menschen. Hier liegt vielleicht das letzte Zeugnis der fanatisierten religiösen Intoleranz. Das wäre schön … aber weit gefehlt.
Soweit die geschichtlichen Daten „vorgestern, gestern, heute“. Nun möchte ich zum Resumee kommen, also heute: für den heutigen Menschen (ich meine westliche Kultur) stellt sich die Frage nach der Toleranz im täglichen Leben gar nicht mehr im religiösen, ideologischen Sinne. Ausnahmen wird es immer geben. Dem heutigen Menschen stellt sich die Frage insofern nicht, weil er kaum Berührung mit den Mitmenschen hat, wenn es um innerliche Fragen geht. Die Menschen lassen sich gegenseitig links liegen. Im Vordergrund stehen die wirtschaftlichen Austausch-Beziehungn. Diese sind sachlich und kühl und beschränken sich auf den Austausch von Gütern und Leistungen gegen Geld. Bei diesen Berührungen spielt das Bekenntnis, die innere Überzeugung, der Glaube, die Hautfarbe und die Nation des Partners kaum eine Rolle, wenn er nur zahlt bzw. leistet. Man kümmert sich nicht umeinander. In der kommerzialisierten Welt ist für Toleranz und Intoleranz kein Raum. Der Freimaurer würde sagen, es fehlt am Mörtel zwischen den Steinen, es fehlt an Menschenliebe.
Und doch gibt es weiterhin Intoleranz; sie entzündet sich scheinbar harmlos auf dem Bürgersteig -keiner weicht mehr aus – und endet im bewaffneten Extremisums. Im Zeitalter von Reformation und Aufklärung gaben die unterschiedlichen religiös-kirchlichen Gruppierungen das Konfliktfeld ab. Heute sind es vor allem kulturelle und ethnische Unterschiede, die zur Gewalt verführen. Das ist die heutige Crux der Intoleranz, die Gewalt, diese furchtbare, zu verfluchende Gewaltbereitschaft. Wie wäre die immer noch wachsende Bereitschaft herabzusetzen? Wahrscheinlich, indem auf allen nur möglichen Wegen von der Familie bis in die Große Politik der aufreibende Versuch gemacht würde, Identität zu finden, – Übereinstimmung eines Menschen und eines ganzen Volkes mit sich selbst.
„Das bringt uns zu der These, Toleranz sei eine immer wieder in Vergessenheit geratene Entdeckung der Menschheit über sich selbst.“ So schrieb Alexander Mitscherlich 1970, also „heute“. Die gleiche These verfocht 1763 Voltaire in der „Abhandlung über die Toleranz“, also „gestern“. Was bleibt, ist die Unzulänglichkeit des Menschen, von seiner Neandertaler-Mentalität wegzukommen, und das gelingt gelegentlich nur Individualisten und nicht der Masse; dem allmächtigen Baumeister aller Welten sei’s geklagt. Uns Freimaurern bleibt Trost und Hoffnung in der Anwort auf die Frage „Wie sollen Freimaurer denken?“
„Ohne Vorurteil, das Senkblei in der Hand!“
* * *