Vergangene Woche haben wir über „innere Hygiene“ gesprochen. Dabei kam die Schwierigkeit deutlich zu Tage die darin liegt zu erkennen, was die Dinge sind, vor denen man sein Inneres schützen, von denen man sich „rein halten“ soll/muss.
Am klarsten wurde mir das in den einfachen Worten des Paulus in seinem Brief an die Tessaloniker „Prüft aber alles. Und das Gute behaltet.“. Alles und jedes auf den Prüfstein zu legen fällt den allermeisten Menschen nicht schwer. Im Gegenteil, das scheint in unserer Natur zu liegen! (Die Tiefe dieser Prüfung ist ein anderes Thema.) Die Schwierigkeit beginnt beim zweiten Teil des Zitates „Und das Gute behaltet.“ Woran erkennt man denn, was gut ist? Leider ist es in der Realität oft so, dass zwei Parteien absolut konträrer Meinung sind und dennoch beide behaupten, „das Gute“ auf der eigenen Seite zu haben, das Richtige zu denken, zu tun, zu lassen. In der Diskussion der vergangenen Woche wurde dies am Beispiel der Demonstrationen von „Corona-Gegnern“ deutlich, ebenso am Beispiel von 70 Millionen Trump-Wählern. Das sind ja keineswegs alles Menschen, die wider bessren Wissens falsche Meinungen vertreten. Nein, man muss der Tatsache ins Auge blicken, dass all diese Menschen das Gute und Richtige vermutlich ebenso für sich gepachtet haben wie die „Corona-Regeln-Befürworter“ und die Biden-Wähler.
Die Geschichte der Menschheit ist voll mit Beispielen von Menschen, die gebildet genug waren um zu verstehen, was sie tun und warum es tun, und die trotzdem schreckliche Verbrechen begingen und/oder verantworteten. Weil sie ihr Tun und Lassen als Notwendigkeit betrachteten, die ihnen unter den zur Tatzeit gegebenen Umständen richtig erschien, als ein Akt des Patriotismus vielleicht oder der Verteidigung. Bewusst verzichte ich jetzt darauf, konkrete Beispiele zu nennen, um nicht in die Falle zu tappen, die gleichen populistischen Mittel der Geschichtsvereinnahmung und -verdrehung zu verwenden (oder auch nur den Eindruck zu erwecken dies zu tun), wie sie zum Beispiel im „Querdenker“-Umfeld derzeit leider praktiziert werden.
Inzwischen kann ich jedenfalls besser verstehen und auf meine Art nachvollziehen, warum einer unserer Brüder vergangene Woche so deutlich herausgestellt hat, dass die Angst, die eine Kollegin vor den Vorgängen im Umfeld der „Corona-Gegner“ hat, ihm Angst macht. Nicht, weil er oder sie unbedingt Verbrechen gegen Leib und Leben der eigenen Person befürchtet, sondern weil der zur Zeit beobachtbare Prozess des Abgleitens aus der gedanklichen Normalität in eine Echokammer mit den eigenartigsten Wertvorstellungen – in diesem Ausmaß! – schlicht beängstigend ist. Mit Wertvorstellungen, die wir längst überwunden glaubten, allenfalls in der Giftkammer des Museums zu Anschauungszwecken für ganz Mutige noch vorhanden. Und ebenso beängstigend ist der Gedanke, dass man wie eben schon erwähnt leider davon ausgehen muss, diese Menschen stehen unter dem Eindruck, gut und richtig zu handeln.
Dennoch bin ich nach wie vor der Meinung, dass Angst ein denkbar schlechtes Mittel ist, auf diese Eindrücke zu reagieren. Ja es gibt viele Wege, und vielleicht ist auch Angst für den oder die einen oder andere ein Weg, damit umzugehen. Meiner ist es jedenfalls nicht.
Aber wie kann man denn nun damit umgehen, in einer Welt zu leben, deren Werte zunehmend sich von den eigenen zu entfremden drohen? Ist man stark genug, seine Meinung auch gegen eine Überzahl der Andersmeinenden zu vertreten? Ist es denn überhaupt zielführend, trotzig vor der Übermacht auf seiner Meinung was Gut und Richtig ist zu bestehen, wie es Giordano Bruno tat, der auch nach sieben Jahren Kerkerhaft vor der Inquisition nicht widerrief, obwohl er genau wusste, dass das für ihn den Scheiterhaufen bedeutet? Das ist nur ein Beipiel, es gab noch viele weitere tolle Menschen, die für ihre Überzeugungen gestorben sind.
Mir ist in dem Zusammenhang auch Boethius in den Sinn gekommen, genauer dessen Werk „Trost der Philosophie (Consolatio Philosophiae)“. Für jene, welche ihn und/oder das Büchlein nicht kennen, trage ich nun eine kurze Einführung vor; Quelle ist Wikipedia.
Zur Zeit des Boethius, dessen Geburt wohl in die frühen achtziger Jahre des 5. Jahrhunderts fällt, wurde Italien von den Ostgoten beherrscht. Im Jahr 476 hatte Odowakar, ein germanischer Offizier in weströmischem Dienst, den Untergang des weströmischen Kaisertums herbeigeführt und den Königstitel angenommen. 488 brachen die Ostgoten unter ihrem König Theoderich nach Italien auf; sie beseitigten Odowakar und etablierten ihre eigene Herrschaft. Dabei handelte Theoderich im Auftrag des oströmischen Kaisers; das Oströmische Reich anerkannte ihn formell als Herrscher Italiens.
Traditionsreiche Institutionen des römischen Staates bestanden auch nach dem Ende des westlichen Kaisertums fort; es gab weiterhin Konsuln und einen Senat in Rom, während Theoderich in Ravenna residierte. Die ostgotische Verwaltung setzte die römische bruchlos fort. Römer (oder Italiker, wie die romanische Bevölkerung Italiens nach dem Ende des Weströmischen Reichs auch genannt wird) traten in den Dienst des ostgotischen Königs und konnten zu Spitzenämtern aufsteigen. Zu ihnen gehörte Boethius, der aus einer angesehenen Senatorenfamilie stammte und sich als Gelehrter profiliert hatte. Nachdem er 510 mit Theoderichs Einverständnis als Konsul amtiert hatte, stellte ihn der König 522 an die Spitze der Reichsverwaltung, indem er ihn zum Magister officiorum ernannte. Damit erreichte Boethius den Gipfel seiner politischen Karriere.
Schon nach kurzer Amtszeit geriet Boethius in den Verdacht einer konspirativen, gegen die Herrschaft der Ostgoten gerichteten Verbindung mit dem oströmischen Kaiser. Seine Gegner, die ihn des Hochverrats beschuldigten, waren Italiker, die Theoderich treu ergeben waren. Der Verdacht war unbegründet, fand aber beim König Glauben. Boethius’ Fehleinschätzung der Lage und sein ungeschicktes Auftreten trugen wesentlich dazu bei, dass er seines Amtes enthoben, festgenommen und unter Anklage gestellt wurde. Der Senat weigerte sich, für ihn einzutreten. Theoderich übergab den Fall einem Senatsgericht, das den vom König gewünschten Schuldspruch fällte. Boethius, der keine Gelegenheit zur Verteidigung vor dem Gericht erhielt, wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Aus der Consolatio geht hervor, dass sie im Zeitraum zwischen der Verhaftung und der Hinrichtung entstanden ist. Sie schildert die Heilung des in der Not der Gefangenschaft seelisch erkrankten Autors. Seine Heilung vollzieht sich unter der kundigen Anleitung der Philosophie, die ihm als allegorische Gestalt erscheint. Sie verhilft ihm in einem unter didaktischen Gesichtspunkten durchgestalteten Dialog zu den Erkenntnissen, die er benötigt, um der Verzweiflung zu entrinnen und sein Schicksal zu akzeptieren.
Das erste Buch beginnt mit einem Klagegedicht. Der Gefangene beklagt sein trauriges Schicksal und die Treulosigkeit des Glücks, das ihn einst begünstigte. Ihm ist das Leben verhasst, doch vergeblich ersehnt er den erlösenden Tod. Als er seine Klage aufzeichnen will, erscheint ihm die Philosophie als ehrwürdige Frauengestalt. Zunächst vertreibt sie die Dichtermusen, die sich um das Krankenlager des Gefangenen versammelt haben. Sie wirft ihnen vor, „Bühnenhuren“ zu sein, die unfruchtbare Leidenschaften nähren und dem Philosophen ihre „süßen Gifte“ einflößen, womit sie die Saat der Vernunft ersticken. Dann wendet sie sich dem Leidenden zu, stellt ihm Heilung in Aussicht und trocknet mit ihrem Gewand seine Tränen. Nun erst erkennt er, wer sie ist. Sie erinnert ihn daran, dass seit jeher Philosophen verfolgt worden sind, wobei sie unter anderem auf die Schicksale des zum Tode verurteilten Sokrates und Senecas hinweist. Er soll aussprechen, worin sein Kummer besteht.
Darauf schildert er ausführlich die Geschehnisse, die ihn in sein jetziges Elend gebracht haben. Er sei eigentlich Wissenschaftler, habe aber aus Pflichtbewusstsein eine politische Aufgabe übernommen, um zu verhindern, dass Verbrecher den Staat zugrunde richten. Da er stets für Gerechtigkeit eingetreten sei, habe er sich die Feindschaft von Übeltätern zugezogen. Bösartige Verleumder hätten ihn ins Unglück gestürzt. Der Senat, für den er sich selbstlos eingesetzt habe, habe ihn im Stich gelassen, die schlecht informierte Öffentlichkeit halte ihn für schuldig.
Die Philosophie weist ihn zurecht. Er habe zwar in der Tat seine Heimat verloren, aber nicht weil er seinen gewohnten Wohnsitz eingebüßt hat und sich in Haft befindet, sondern weil er aus eigenem Antrieb sein wirkliches Vaterland verlassen habe. Aus diesem Vaterland – gemeint ist ein Reich geistiger Werte – könne niemand vertrieben werden; nur freiwillig könne man es verlassen, und dies habe er getan.
Bis hierher nun für heute (es gibt noch drei weitere spannende Bücher der Consolatio), denn das ist die entscheidende Stelle, auf die ich hinauswollte. Die allegorische Philosophie wirft dem Boethius vor, das Reich der geistigen Werte freiwillig verlassen zu haben. Freiwillig, aus eigenem Willen also, aus eigener Entscheidung. Damit liegt die Verantwortung für diesen Schritt beim Handelnden; er ist eigenverantwortlich. Zwischen all den Nebelkerzen und Versprechungen des populistischen Politikbetriebs geht das meiner Meinung nach gern mal unter: letztendlich trifft jedes Individuum die Entscheidung über sein Tun: selbst. Und jedes Individuum ist auch selbst verantwortlich für die Tiefe, mit der es die Verlockungen und Versprechungen prüft, bevor es sie annimmt, für „gut“ und „wahr“ anerkennt oder als „schlecht“ und „falsch“ verwirft. Und im Umkehrschluss bedeutet diese Freiwilligkeit, mit der Boethius das Reich der geistigen Werte verlassen hat, natürlich auch, dass die Bewegung umgekehrt werden kann, ebenso freiwillig, aus eigener Entscheidung und – ganz wichtig: erfolgreich. Das macht die allegorische Philosophie in der Consolatio zum Troste des Boethius deutlich, und das haben auch wir Freimaurer erkannt. Denn hier setzen unsere Werkzeuge an: freie Männer finden sich zusammen, um auf Grundlage gemeinsamer Werte – Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Brüderlichkeit – den Tempel der Humanität zu bauen. Das ist unsere geistige Heimat und eben jenes Vaterland, welches Boethius so schmerzlich vermisst hat.
Meine Antwort auf eine scheinbare oder tatsächliche Verschiebung der Wertbasis unserer Gesellschaft ist also, als Freimaurer den Tempel der Humanität zu bauen und als profaner Mensch für die diesem Gebäude zugrundeliegenden Werte im Alltag einzutreten und einzustehen. Nur wenn jemand – jeder nach seinen Möglichkeiten, auch kleine Beiträge zählen – dem lauten populistischen Politikbetrieb überhaupt etwas entgegenhält besteht die Chance, dass auf Menschenwürde und Nächstenliebe gegründete Werte in unserer Gesellschaft relevant bleiben.
So steht es geschrieben:
Geht nun zurück in die Welt, meine Brüder, und bewährt Euch als Freimaurer.
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