Der Siegeszug der Technik, mit seinem wirtschaftlichen Segen auf der einen Seite, mit seinen militärischen Vernichtungskapazitäten auf der anderen, hat zu einer grundlegenden Änderung der politischen Beziehungen zwischen den Staaten geführt. Militärische Auseinandersetzungen herkömmlichen Stils zwischen den führenden Industriestaaten sind heute undenkbar geworden. Die traditionelle „balance of powers“, das Gleichgewicht der Mächte, wird überlagert vom ökonomischen und technologischen Potential. „Der Kampf um die Führung der Welt“, schrieb bereits vor ca. 20 Jahren der Politiker Franz Josef Strauß, „wird in Zukunft nicht auf den Schlachtfeldern und Barrikaden der Revolution, sondern in den Labors, den Entwicklungszentren, den Wirtschafts- und Forschungseinrichtungen der Industrienationen und in ihren Produkthallen geführt werden.“
Das prinzipiell Neue in der Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg liegt in der Geschwindigkeit, mit der der technische Fortschritt immer weitere Bereiche unserer Lebens- und Arbeitswelt durchdringt. Speziell in den letzten zehn Jahren hat sich durch Neuerungen auf dem Gebiet der Elektronik – ich nenne als Stichworte Computer, Mikro-Chips, numerisch gesteuerte Maschinen – eine Entwicklung vollzogen, die man nach der Erfindung der Dampfmaschine und nach der Nutzung des elektrischen Stroms als dritte industrielle Revolution bezeichnen kann. Diese technologische Umwälzung stellt unsere Volkswirtschaften vor außerordentliche Herausforderungen. Denn nur wer in der Spitzengruppe der Umwälzung marschiert, wird seine Stellung im internationalen Wettbewerb aufrecht erhalten können.
Im Hinblick auf die historische Entwicklung ist es ja äußerst problematisch, von „Fortschritt“ zu sprechen. Wohin historisch unsere Reise geht, wissen wir nicht. Durchaus anwendbar ist die Kategorie des Fortschritts aber im Bereich der Wissenschaft, deren Ziel bekanntlich darin liegt, unser Wissen über die Welt, die Natur und den Menschen durch Aufstellung und Überprüfung neuer Hypothesen und Theorien zu erweitern.
Wer unsere heutigen Arbeits- und Lebensverhältnisse mit denen unserer Eltern und Großeltern vergleicht, wird nicht umhin können, vom Segen des technischen Fortschritts zu sprechen. Ob in Landwirtschaft und Handwerk, ob in Handel und Industrie, ob im Haushalt oder in der medizinischen Betreuung – überall haben Technik und Wissenschaft entsprechend zum Abbau von körperlicher Belastung und Plackerei, von Not und Unterdrückung beigetragen. Wissenschaft und Technik waren Voraussetzungen für eine Humanisierung unserer Welt.
Seit es jedoch Technik gibt, hat der Mensch neben dem Segen auch ihren Fluch erkannt und beklagt. Mit einem Stein konnte der Jäger der Vorzeit nicht nur ein Tier erlegen, sondern auch seinen Nachbarn erschlagen. Die Nutzung des Holzes der Wälder hat nicht nur die Befriedigung menschlicher Wohnbedürfnisse ermöglicht, sondern auch zur Erosion und Verkarstung ehemals fruchtbarer Gebiete geführt. Die Spaltung des Atomkerns war nicht nur die Voraussetzung für die technische Nutzung der Kernbindungsenergie in unseren Atomkraftwerken, sondern hat auch die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen bislang unbekannten Ausmaßes ausgelöst.
Die Klage über technischen Fortschritt ist nicht neu. Sie hat sich in jüngster Zeit allerdings sehr verstärkt. Umwelt und Naturschützer verweisen auf die Müll-Lawine, auf den Raubbau an den Rohstoffvorräten, um nur einige Punkte zu nennen. Die eigentliche, die Fundamentalkritik an der wissenschaftlich-technischen Zivilisation setzt jedoch tiefer an. Diese Kritik wirft unserer industriellen Wirtschaftsweise, unserer technologisch durchdrungenen Lebensweise vor, sie führe zu einer Verkümmerung der menschlichen Anlagen.
Wie ist Kritik an Wissenschaft und Technik zu beurteilen? Haben uns Wissenschaft und Technik tatsächlich in eine Sackgasse oder vielleicht gar in einen Abgrund geführt? Stehen wir am Ende des Zeitalters der Aufklärung? Sind wir am Ende der sogenannten Moderne angelangt? Kein Wochenende vergeht, an dem nicht irgendwo in Deutschland gegen ein technisches Projekt oder dessen Folgewirkungen protestiert wird: Demonstrationen gegen Kernkraftwerke, Demonstrationen gegen neue Flugzeuglandepisten, Bürgerinitiativen gegen neue Kohlekraftwerke und Müllverbrennungsanlagen, Denkschriften und Kundgebungen gegen den weltweiten Raubbau an Ressourcen – die Reihe könnte beliebig verlängert werden.
Hinter dieser Art von Kritik steht der Traum vom einfachen Leben, von der Rückkehr zur Natur, zur kleinen und überschaubaren Einheit.
Nun ist es sicherlich wünschenswert, wenn wir in einigen Bereichen wieder einen Übergang von Großtechnologien zu mittleren Technologien finden. Aber der Traum vom einfachen Leben ist angesichts der Komplexität der modernen Welt völlig unrealistisch. Die These, unsere Arbeit werde durch den technischen Fortschritt immer inhumaner, ist schlicht falsch. Es wäre jedoch ebenso falsch, die negativen Seiten der technisch-industriellen Lebensweise zu verharmlosen. Ein bedenkenloser Umgang mit der Technik hat zu einer Verschwendung von Rohstoffen und zu einer Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen geführt. Die Lösung dieser Probleme ist aber nicht ohne oder gegen die Technik möglich, sondern nur mit ihr. Wir brauchen neue, hochintelligente Technologien zur sparsameren Verwendung von Rohstoffen, zum Abfall-Recycling, zur Abfallvermeidung, zur Bekämpfung eingetretener und zur Vermeidung neuer Umweltschäden, zur Herstellung umweltfreundlicher Produkte und Produktionsverfahren.
Die grundsätzliche Alternative zur wissenschaftlich-technischen Zivilisation wäre die „Aussteiger-Gesellschaft“. Sie mag für einzelne tatsächlich eine halbwegs realistische Alternative sein, für die Gesamtheit unserer Bevölkerung ist und bleibt sie eine Illusion. Die Vision einer vergifteten und verseuchten Erde ist schrecklich, die Aussicht auf eine durch Überlebenskämpfe dezimierte Menschheit, die auf einem vorindustriellen Lebensniveau dahinvegetiert, ist es nicht minder.
Wir müssen der Fundamentalkritik mit einem gewissermaßen geläuterten Realismus entgegentreten. Nostalgische Beschwörungen der guten alten Zeit helfen ebenso wenig weiter wie die Vision einer stationären Kreislaufwirtschaft. Mit einer Dämonisierung der naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation können wir weder das Wohlstandsniveau noch die soziale Absicherung der Bürger, auch nicht der sogenannten Aussteiger, gewährleisten. Was wir also brauchen, ist ein gezielter intelligenter Einsatz der Technik. Die naturwissenschaftlich-technisch geprägte Welt von heute wird von der überwältigenden Mehrzahl aller Menschen auf der Erde gewollt und genossen. Naturwissenschaft und Technik sind nicht unser Schicksal, sondern unser Werk.
Bei den meisten derjenigen, die den Ausstieg propagieren, klafft ein gewaltiger Sprung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Sie verlangen den Ausstieg aus der technischen Zivilisation um beinahe jeden Preis oder verkünden die Parole: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“ um dann nach Beendigung einer Vortragsveranstaltung oder Demonstration unter Mitnahme eines angemessenen Honorars den mit Atomstrom betriebenen Intercity zu besteigen oder den terrestrischen Kalamitäten in einem hochmodernen Airbus zu entschweben.
Eine Vielzahl neuer Techniken hat nicht nur zur Humanisierung unserer Arbeits- und Lebensweise beigetragen, sondern ohne jeden Zweifel auch negative Folgewirkungen nach sich gezogen. Flugzeugabstürze, Grundwasserschäden durch Überdüngung des Bodens, Freisetzung von Dioxin in Seveso, Kernkraftunfall in Tschernobyl, Chemieunfälle von Basel bis Krefeld haben sich im Bewußtsein weiter Teile unserer Bevölkerung niedergeschlagen und, wenn schon nicht Technikfeindlichkeit ausgelöst, so doch zumindest Angst hervorgerufen.
Es handelt sich hier nicht um die existentielle Angst, wie sie wohl den meisten menschlichen Lebewesen bewußt wird, es handelt sich vielmehr um die Angst vor den zerstörerischen Kräften in uns selbst, die Angst vor den Folgen unseres Handelns und dem damit verbundenen Risiko.
Die Annahme, in der guten alten Zeit hätten Lebensrisiken eine untergeordnete Rolle gespielt, ist nichts anderes als der Versuch, Probleme totzuschweigen. Ein Blick in die Entwicklungsländer genügt. In Regionen ohne Chemie und Technik stirbt jedes fünfte Kind im ersten Lebensjahr, jedes dritte wird keine fünf und jeder zweite Mensch keine vierzig Jahre. Auch heute ist ein Großteil der Bevölkerung bereit, durch individuelle Lebensweise existenzgefährdende Risiken auf sich zu nehmen.
Was Bedenken hervorruft, ist die unterschiedliche Akzeptanz von Risiken. Während bei uns in den letzten zehn Jahren die Diskussion über das Restrisiko der Kernenergie teilweise an Hysterie grenzte, starben im gleichen Zeitraum 150 000 Menschen auf unseren Straßen. Die Zahl der Verkehrstoten, größtenteils im innerstädtischen Verkehr mit vergleichsweise geringen Geschwindigkeiten verursacht, hat bis heute niemanden auf den Plan gerufen, der ernsthaft eine Sperrung aller Straßen und einen sofortigen Ausstieg aus dem KFZ-Verkehr gefordert hätte.
Ohne Risiken läßt sich unser heutiges Wohlfahrtsniveau nicht erhalten. Es wäre, nicht zuletzt im Blick auf das Leben in den Ländern der Dritten und Vierten Welt, eine Irrationalität sondergleichen, wenn wir den Risiken der wissenschaftlich-technischen Zivilisation mit einem Ausstieg aus der Technik begegnen wollten. Das Gegenteil ist nötig: Wir müssen den technischen Fortschritt forcieren, um durch Neuerungen bekanntgewordene Risiken soweit wie möglich abzubauen. Es ist unmöglich, absolute Sicherheit zu schaffen. Sicherheit ist nicht die Vermeidung aller Risiken, Sicherheit ist ein Weg zwischen den Risiken hindurch.
Die Spaltung des Atomkerns war nicht das eigentliche Ziel der Forschungsarbeiten Otto Hahns, sie war mehr oder weniger ein Zufallsprodukt seiner Experimente. Im Zeitpunkt der Entdeckung lassen sich im Regelfall weder alle positiven noch alle negativen Folgewirkungen einer Neuerung voraussehen. Wenn unser Ziel darin besteht, den Irrtum als solchen zu vermeiden, dann dürfen wir im Prinzip nie etwas Neues versuchen, ja nicht einmal bestehende Mißstände beseitigen, denn niemand kann mit Sicherheit ausschließen, daß dadurch vielleicht noch schlimmere Entwicklungen entstehen.
Das menschliche Leben ist gekennzeichnet durch den Prozeß von Versuch und Irrtum, also vom Lernen durch Erfahrung. Während sich dieses Lernen durch Erfahrung in der Natur nach den Erkenntnissen der Biologie weitgehend bewußtlos vollzog, besitzt der Mensch als vernunftbegabtes Wesen die Fähigkeit, Nutzen und Risiken von Neuerungen nach bestem Wissen und Gewissen abzuschätzen. Darin sehe ich das eigentliche Prinzip der Verantwortung.
Wir müssen unsere Entscheidungen beim Einsatz neuer Techniken stärker denn je verantwortungs-ethisch begründen, d. h. bei jeder Entscheidung müssen wir alle voraussehbaren positiven Folgen und Nebenfolgen in Rechnung stellen, unter Heranziehung alles vorhandenen Wissens. Für die Wissenschaft wie auch für die Technik ergibt sich daraus der Zwang zu interdisziplinärer Zusammenarbeit. Ich meine damit nicht nur die Kooperation zwischen den verschiedenen Spezialgebieten der Naturwissenschaften, sondern auch die Kooperation zwischen Natur und Geisteswissenschaften.
Der wissenschaftlich-technische Fortschritt ist nicht unser Schicksal, sondern unser Werk. Wir sind Wissenschaft und Technik nicht schicksalhaft ausgeliefert. Wir sind auf sie angewiesen, insbesondere wir Deutschen, die wir über keine Rohstoffe verfügen und zur Aufrechterhaltung unserer Wirtschaftskraft vom Produktionsfaktor „Geist“ abhängig sind.
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