Wesen und Ursprung der Weisheit

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Weisheit leite den Bau,
Stärke führe ihn aus und
Schönheit vollende ihn!

Für mich sind es erhabene Worte, die in keinem anderen außer dem freimaurerischen Ritus, wie mir bekannt ist, so fest und unverrückbar verankert sind. Manchmal scheinen sie mir wie ein Ruf, wie eine Beschwörung zu klingen, so daß ich im stillen die Worte „Und sie rufen die Hilfe der Götter herbei“ hinzufüge.

Während die Bibel, das Winkelmaß und der Zirkel praktikable Symbole sind, fehlt mir für die Weisheit, Stärke und Schönheit eine zufriedenstellende Einordnung, obwohl ohne Weisheit, Stärke und Schönheit nichts Vortrefflicheres zustande gebracht werden kann. Als freimaurerische Erklärung habe ich gelernt, daß es die Weisheit ist, die alle unsere Begriffe ordnet, berichtigt und aufklärt, die unsere Wünsche und Leidenschaften einschränkt. Mit ihrer Hilfe lernen wir unsere Kräfte kennen, schätzen und gehörig gebrauchen, sichern wir unsere Unternehmungen und stählen wir unseren Mut. Die Weisheit ist gewissermaßen das erzeugende Element, das im Inneren unsichtbar und unermüdlich für die Außenwelt seine Werkstatt hat und nach reiflicher Prüfung und Erwägung mit dem fertigen, wohlbedachten Plan hinaustritt in die Welt. Weisheit erfindet!

Alles schön und gut, aber auch hier ist Weisheit die Voraussetzung. Nur dem, was sie ist, bin ich mit dieser Betrachtung keinen Schritt näher gekommen, und mit dem Löffel zu essen, wie der Volksmund – weise – sagt, ist sie auch nicht. Mein zweiter Annäherungsversuch geht über den Brockhaus. Da steht:

Weisheit ist das vorwissenschaftliche, Erfahrung und Lebensklugheit zusammenfassende Wissen um Welt und letzte Dinge, das überlegene und zugleich taktvoll bescheidene Sicherheit im Verhalten zu Welt und Menschen verleiht.

„Ei verbibbch“ würde der Sachse jetzt ausrufen, denn hier ist ein Ansatzpunkt aufgezeigt, nämlich das vorwissenschaftliche Wissen. Dazu sagt Kant: Alles Wissen stammt aus der Erfahrung, und Erfahrung ist ein Produkt des Verstandes. Damit kommt auch meine Erinnerung wieder an die einst donnernde Stimme unseres Geschichts- und Griechischlehrers Dr. Bux, nicht nur wegen seines Äußeren auch Buddha genannt, der uns Quartaner mit

Ex Oriente lux!

aus schönstem Pennälerschlaf aufschreckte.Dieses „Ex Oriente lux“ ist für unseren Kulturkreis die Wiege allen Geistes. Auch den Ursprung, Geschichte und Wesen der Weisheit haben wir im Alten Orient zu suchen. Lassen wir dabei die sogenannte Vorgeschichte außer Betracht, denn sie erzeugt weder historisches Wissen noch historisches Interesse. Verweilen wir kurz in jener Zeit, in der die Urbarmachung des Bodens, der Erde, des Schwemmlandes am Unterlauf des Euphrat und Tigris oder im ägyptischen Niltal die erste große Gemeinschaftstat der menschlichen Geschichte gewesen ist. Selbst über deren zeitliche Ansetzung lassen sich nur Vermutungen äußern. Die Historiker sprechen vom 5. bis 4. Jahrtausend vor Chr.

Wichtig sind die Folgeerscheinungen dieser ersten Agrarkultur. Sie schuf im dritten Jahrtausend v. Chr. bessere Daseinsmöglichkeiten für den Menschen. Es kam zu festen staatlichen Zusammenschlüssen und ständischen Gliederungen. Die Durchführung einer Arbeitsteilung mußte daher Kräfte entbinden, die vorher im brutalen Daseinskampf verbraucht wurden. Die geregelten staatlichen Verwaltungen ermöglichten die Ausnutzung neuer vorhandener Kräfte zur Erzielung von Leistungen, die dem Menschen der Urzeit schlechthin unvorstellbar gewesen sein müssen.

Wie die großen, noch heute in Fragmenten erhaltenen, mit mathematischer Regelmäßigkeit entworfenen Kunstschöpfungen von einem ganz elementaren Willen zur Ordnung zeugen, der die chaotisch empfundenen, wild wuchernden Kräfte der Natur zu bändigen unternimmt, so beherrscht auf einmal der Gedanke einer festen Weltordnung die ägyptische und, wie es scheint, auch bereits die ältere babylonische Geisteskultur. Schon damals kleideten bedeutende Geister ihre tiefen Einsichten in den Lauf der Welt und des Menschenlebens mit Vorliebe in die Form von „Weisheitssprüchen“.

Mit Erfindung der Schrift treten an die Stelle eines anonymen prähistorischen Geschehens die konstitutiven Faktoren geschichtlicher Wirklichkeit. Der Zufall will es, daß diese umwälzende Neuerung, die Schrift, fast gleichzeitig in den beiden doch in sich verschiedenen Hochkulturkreisen am Nil und am Euphrat/Tigris unabhängig voeinander entstammt. Diese so gegen 1200 Jahre v. Chr. aus der Bilderschrift hervorgegangene Laut-, Silben- und Buchstabenschrift läßt uns an Hand der Fundstücke aus Ton, Stein und Papyrus die Anfänge der Wissenschaften erforschen und ihren Geist erfassen. Mit dem Gebrauch der Schrift wird alles, was bisher mündliche Überlieferung war, nunmehr nach dem Motto „was du schwarz auf weiß besitzt“ schulmäßig festgehalten, und so sprechen wir heute auch von einer sogenannten Weisheitsliteratur.

Alle Lehren sind zunächst durch eine äußere Form verbunden. Ein Beispiel: Ein Vater (rsp. Lehrer) erteilt seinem Sohn (rsp Schüler) aufgrund eigener Erfahrung und überlieferter Erkenntnisse Anweisungen zu rechtem Leben. Die Lehren waren ausschließlich auf das praktische Verhalten im Leben ausgerichtet, wobei die Fülle der Lebenserfahrungen zu gültigen Sinnsprüchen „geknotet“ und als schriftliche „Lehren“, man kann schon sagen Gebote, überliefert wurden. Klugheit, Tüchtigkeit, Mäßigung und Wissen wird als Weisheit die gepflegte Lehre an den höfischen Schulen zur Ausbildung der Beamten und Gelehrten. Die Klagen befassen sich inhaltlich mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung, des Alten Reiches. Sie ergehen sich hauptsächlich in der Kunst der schönen Rede, zeigen aber bereits eine Tendenz zur Anklage der Zeit schlechthin und zeigen das erste Erwachen des persönlich-individuellen Fragens und Erlebens. In den biographischen Inschriften hingegen beteuert der Verstorbene, die elementaren ethischen Forderungen erfüllt zu haben. Dabei geht es vor allem um das Verhältnis zu den Mitmenschen und um soziale Pflichten. Später wird die Erzählung unter dem Begriff der „Lehre“ der Nachwelt als empfehlenswertes Beispiel dargeboten.

Ja, liebe Brüder, ich hätte gern zur Auflockerung der Materie hier einen passenden alten, ägyptischen Witz eingefügt, aber ich habe in der mir vorliegenden Literatur leider keinen gefunden. Daher laßt mich weiterwandern.

Die Grundstruktur, der Kern der alten ägyptischen Weisheit, ist die sogenannte Maat. Maat ist der umfassende Ordnungsbegriff und wird in der Regel übersetzt mit „Weltordnung“, „Richtigkeit“, „Wahrheit“ oder „Gerechtigkeit“. Ihr primärer Aspekt ist der kosmologische und wird mit Gott, dem Weltschöpfer und Welterhalter, dem Baumeister aller Welten, als Herr der Maat personifiziert. Aber der Begriff Maat will dadurch nicht exclusiv verstanden werden; nein, er ist überall, in jedem Tun und Handeln, sogar in den einzelnen Gliedmaßen, in Auge, Mund und Ohr usw., wobei die moralische Ordnung keine andere als die kosmische ist: wer recht lebt, steht im Einklang mit der universalen Weltordnung.

„Sprich Maat, tue Maat“
„Erkenne die Sache der Maat in deinem Herzen“
„Sage die Maat, beuge nicht die Maat“ oder
„Ein Sohn, der die Weisungen befolgt, verwirklicht die Maat, weil sein Herz gehandelt hat nach seiner Bestimmung.“

Damit wird das fundamentale Anliegen der Weisheit deutlich: Weisheitliches Denken, Fragen und Lehren zielen auf die Eingliederung des menschlichen Verhaltens in die alles umfassende Weltordnung, wobei letztere erst durch ein weises Verhalten realisiert wird. Maat, Ordnung, Kosmos, Welt gibt es nur, wenn sie verwirklicht, getan bzw. gesagt wird und zwar unabhängig vom kontinuierlichen Ablauf der Zeit.

Weisheit will also dazu behilflich sein, die rechte Handlung zur rechten Zeit vollbringen zu können, wobei das Adjektiv „rect“ weniger das moralisch Gute als vielmehr das der jeweiligen Situation Entsprechende aussagen will. Auch zielt die Weisheit vielmehr auf das Notwendige, Selbstverständliche und Augenscheinliche. Es ist nicht mehr zu tun, als die Zeit gerade erfordert. Weisheit weiß um das rechte Maß!

In den Zeiten des Zusammenbruches des Alten Reiches und damit auch der alten Ordnung herrschten Revolution, Terror, Mord etc. und eben alle die Mißlichkeiten, die eine Besatzungsmacht so mit sich bringt. Es ist daher verständlich, daß solche Zustände und Erlebnisse mit allen Begleiterscheinungen entscheidenden Einfluß auf den alten Begriff der Maat, der Weltordnung, nehmen muß. Es treten jetzt die Begriffe „Recht“ und „Gerechtigkeit“ in den Vordergrund und als Komponente die „Strafe“ hervor.

Der Mensch sieht sich auf einmal machtlos in einer Schöpfung, deren selbstverständliche Ordnung aus den Fugen geraten ist. Er schließt zurück auf die Unvollkommenheit der Schöpfung und auf die Mitschuld der Götter, welche auf Geheiß des Schöpfers die Schöpfung am Leben erhalten. Der Zusammenbruch der alten Ordnung, die ja weisheitliches Denken als Schöpfung verstanden, angenommen und behandelt hat, führt letztlich zur Anklage gegen den Schöpfer selbst.

Wo blieb Gott?

„Gott, der den Wandel kennt, hat sich verborgen und es gibt niemanden, der den Schlag des Herrn abzuwehren vermag; er ist einer, der angreift, ohne daß die Augen es sehen“, sagt eine Lehre. Die Skepsis wird geboren und gleitet in einen sinnleeren Hedonismus über. (Hedonismus: ethische Lehre der griechischen Philosophie, wonach Glück und Ziel des Menschen im Gefühl der Lust besteht.) Im Refrain eines Liedes heißt es: „Mache dir einen guten Tag und werde dessen nicht müde! Siehe, niemand kann seine Habe mit sich nehmen! Siehe, niemand, der dahingegangen ist, kommt wieder!“

Doch letzten Endes sucht und findet man eine wieder geschlossene Form. Die Weisheit wurde zu einer Weisheit der Frömmigkeit, welche gleichzeitig von einer Vergeltung durch Unheil oder nach sich ziehenden Strafe in den Lehren untermalt wird. Das rechte Maß wird zur Lehre des Gleichmaßes:

„Stolz und Hochmut ist das Verderben ihrer Besitzer!“ und
„Wer sein Herz selbst erkennt, den kennt das Glück“;

Sinnsprüche, die über 3000 Jahre alt sind. Weisheit ist jetzt nicht mehr die Qualifikation der Einzeltat als Kosmos-Konstituierung, sondern Weisheit wird zur menschlichen Haltung. Früher konnte man nur weise handeln, jetzt soll man weise sein. Das Interesse gilt nicht mehr der Kosmologie, sondern der Anthropologie. Aber auch hier kommt es zu einer Krise beim Begriff Weisheit, denn sie wird in ihren Lehren zum Dogma. Der Sohn oder Schüler soll auswendig lernen, auch unter Androhung von Gewalt gezwungen werden, ohne zu verstehen. „Du hast wohl recht: ich finde keine Spur von einem Geist und alles ist Dressur“ (Faust I. Teil). Es wuchs auch das Unvermögen, die alten Texte wirklich zu verstehen. Durch die Änderung des Wortlautes der Sprache über die Jahrtausende hinweg fehlte das Verstehen und das Interesse des Hörens, somit des Erneuerns und des Weitergebens, denn Weisheit ist ein in der Geschichte sich abspielendes Geschehen, eine Verstehensbewegung. Den alten Ägyptern wie Babyloniern ist die von reinen Nützlichkeitserwägungen eingegebene geistige Haltung zum Verhängnis geworden. Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen hat sich, wenn auch beachtliche Ansätze schon in der Pyramidenzeit vorliegen mögen, eben doch nicht durchsetzen können.Dann setzte mit dem Betreten der Weltbühne durch die griechischen Völker und nach ihrem Seßhaftwerden die entscheidende Wende ein. Die Hellenen, die Griechen, waren es, die in Anlehnung und fruchbarer Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe aus der Blütezeit des Alten Orients eine gewaltige kulturelle Neuschöpfung vollbracht haben. Wenn auch gesagt wird, die Griechen seien das erfindungsärmste Kulturvolk, so gibt es eine Gegenrechnung, sie sind die Begründer des Rationalismus und die Erfinder des theoretischen Menschen, der sich der reinen Betrachtung um ihrer selbstwillen widmet.

Wer sich von der Schule her oder aus eigenem Interesse mit der Antike beschäftigt hat, wird dem Schriftsteller Rohde beipflichten müssen: Sie, die Griechen, haben der ganzen Menschheit vorgedacht; die tiefsten und kühnsten, die frommsten und die frechsten Gedanken über Götter, Welt und Menschenwesen haben ihren Ursprung in Griechenland. Die große schöpferische Grundkraft der hellenischen Kultur ist ihr Individualismus. Ihr Streben nach Eigenem, gepaart mit natürlichem Verstand und Mutterwitz, verleiht den Griechen die ungeheuerlichen Schöpfungskräfte. Wohl gab es im Alten Orient Männer mit einem Ingenium (Ingenium: natürliche Begabung, natürliche Geistesanlage, Erfindungskraft, Genie), gab es geniale Schöpfer, aber sie waren Dienende und durften nicht in den Vordergrund treten. Da standen ihre Fürsten und galten als die Urheber. Es gab auch nicht die Bewegungsfreiheit eines Privatmannes, und somit mangelte es ebenso an Bewegungsfreiheit im Geistigen.

An der Küste der heutigen Türkei, an der Küste des Lichts, wie Peter Bamm sie nennt, auf Höhe der Inseln Rhodos im Süden über Samos bis Chios im Norden mit den Städten Halicarnassos, Miletm Ephesos bis Smyrna im Lande der Ionier begann der sogenannte griechische Frühling. Hier an diesen Gestaden erklangen auch zum ersten Male die Verse Homers, vorgetragen zur Lyra von fahrenden Sängern, Stimme und Tonfall angepaßt dem Inhalt und der Bedeutung der Verse.

Bedeutet das 6. Jahrhundert durch die Aufrichtung der spartanischen Vormachtstellung in Hellas durch die Beseitigung der Tyrannis und die Entstehung der athenischen Demokratie eine Wende im politischen Leben, so hat sich gleichzeitig eine geistige Revolution von welthistorischem Ausmaß vollzogen: Die Geburt der Philosophie. Mit ihr hat Ionien seinen unvergänglichen Beitrag zur Selbstfindung des europäischen Geistes geliefert.

Die Heimat der neuen Geistesrichtung, die sich in ihren Anfängen stolz „Weisheit“, später „Philosophie“, die „Liebe zur Weisheit“, nannte, war Milet, der damalige politische, wirtschaftlich als auch geistige Mittelpunkt Ioniens. Der 1. Mileser als Begründer war Thales von Milet, der 2. Anaximander und der 3. Anaximenes. Sie gelten als die Naturphilosophen und stellten die Fragen nach dem Ursprung der Pflanzen, der Tiere und des Menschen. Damit kam es zur Loslösung von den alten, auch mystischen Anschauungen und Vorstellungen, somit auch zum Ende meiner Weisheit im thematischen Sinne meiner Zeichnung (Zeichnung = freimaurerischer Vortrag). Diese kann nur ein Streifzug der vor- und wissenschaftlichen Erforschung der Prinzipien des Seins, der menschlichen Erkenntnisse und des Handelns auf grund von Lebenserfahrung und Betrachtung der Welt und ihres Sinnes sein. Für Einzelheiten und deren Zusammenhänge an hand von an sich notwendigen literarisch vorhandenen Beispielen bleibt hier leider nicht der ihnen gebührende Platz, wenn ich mich nicht in deren Fülle verstricken und verlieren will.

Hört zum Schluß noch einmal uns als Selbstverständlichkeiten vorkommende, den sieben Weisen zugeschriebene Weisheitssprüche, die im Tempel zu Delphi stehen:

Erkenne dich selbst;
nicht zu viel;
sei Herr deines Zorns;
die Mitte ist das Beste;
bedenke das Ende;

Frei nach Schopenhauer:

… und nie werden die Alten veralten …

 

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Autoren und Literatur:

Hans Erich Stein: Die Weltreiche des Alten Orients und Geschichte Griechenlands
Fritz Schachmeyer: Griechische Geschichte
Egon Friedell: Kulturgeschichte Ägyptens, des Alten Orients und Griechenlands
Hans Heinrich Schmid: Wesen und Geschichte zur Weisheit

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