Reflexionen über die Melancholie
Wird ein Mann 30, so ändert sich sein Leben aus seiner Sicht plötzlich in einer Form, ohne daß es seine Umgebung bemerkt… Er gilt als weiterhin jung und verheißungsvoll, als ein wichtiges aufstrebendes Mitglied seiner Gesellschaft. Die besten Jahre, so wird allgemein angenommen, liegen noch vor ihm. Für ihn aber liegt mit seinem 30. Geburtstag zunächst einmal einiges hinter ihm, und es ist der erste Geburtstag, an dem er sich dessen bewußt wird. Neben das Vorausschauen tritt unerwartet ein Zurückblicken. Abgeschlossen ist sein drittes Lebensjahrzehnt, und neben das, was seine Umgebung von ihm denkt, tritt nunmehr das in den Vordergrund, was er selbst von sich und seinem Werden und Wirken halten soll. Wie jugendlich und unbefangen ist man noch mit 30? – Wenngleich auch der eine oder andere auch mit 60 noch jugendlich wirkt. Oder: Mit 90… – Besser gefragt also: Wie erwachsen ist man tatsächlich? Nein, alleine ein Blick in den Spiegel läßt das irreal-reale Gegenüber eine wieder andere quälende, bohrende oder schlicht selbstverliebte Frage stellen: „Und? Was ist mit Dir? Wo stehst Du heute mit Deinen 30 Lenzen? Dort, wo Du sein wolltest? Was hast Du davon erreicht und wo willst Du hin?“ Schlimmer noch, fast anklagend: „Die Weichen sind nun gestellt. Wohin wird Dich die Reise nun nicht mehr führen, jetzt, da die Richtung feststeht?“ Manch Betrachter seiner selbst wird unsicher, findet sich im Zweifelsfalle aber auch nur bestätigt: Selbstverständlich habe ich alles richtig gemacht. Beruflich erfolgreich, in eine Familie eingebunden, gut verdienend, wohl angesehen. Es kann nichts mehr passieren. Doch im Hintergrund bleibt die Frage, ob dem wirklich so ist. Was ist wichtig im Leben – wirklich wichtig? Und wo stehe ich innerhalb dieser Antwort? Der Dreißigjährige schaut in den Spiegel und fürchtet sich plötzlich vor der schonungslosen Selbstanalyse, die nur er selbst in dieser Härte führen kann. In einer orientierungslosen Zeit einen sich selbst gegenüber aufrecht zu gehenden Weg zu finden: Fürwahr, eine Herausforderung.
Mit dieser dem einen oder anderen vielleicht melancholisch anmutenden Einleitung gebe ich das Stichwort für das Thema dieses Baurisses, der für mich die Umsetzung eines Bildes in Worte ist. In einem gewissen Sinne geht es um die Rückverwandlung der Gedanken eines anderen in eigene, festgehalten in der Form eines Bildes. Da zwischen dem Vor- und dem Nachdenker viele Jahrhunderte liegen, bin ich zuversichtlich, der Gefahr des bloßen Nacherzählens nicht zu erliegen. Alleine von einer Begegnung will ich also berichten, der ich bis heute eine ganz eigene und stille Bedeutung zumesse. Sie markiert einen der wenigen Momente, in denen man zu erkennen glaubt, was einem selbst von Wichtigkeit zu sein scheint; dies inmitten einer grotesken Weltbühne mitsamt den ganzen Laienschauspielern, die alle zu wissen vorgeben, was „Sache“ ist, verstrickt in ihre eigenen, individuellen Theaterstücke. Auf dieser rotierenden Bühne also habe ich einen kurzen Moment innehalten dürfen und für mich etwas gefunden, was mich bis heute nicht losläßt. Es ist die Begegnung mit einem Stich Albrecht Dürers, dessen Titel das Thema vorgibt, um das es mir heute gehen soll: Die Melancholie. Mit ihr, so denke ich, wird ein Teil jener Frage touchiert, die oben erwähnt wurde: Was eigentlich ist wichtig im Leben – wirklich wichtig?
Die ureigene von der Melancholie gewählte Form ist die der Liebenden und die des Reifens. Melancholie liegt irgendwo auf dem Weg eines jeden Reifenden und wartet nur darauf, gefunden zu werden. Spätestens aber mit der ersten Liebe ist sie zur Stelle, und wenn nicht, dann bei der ersten unerfüllten Liebe. Tiefe Schwermut macht sich breit, verbunden mit tiefem Grübeln: Wie schön sie doch ist, die Angebetete. Wie sehr ich sie doch begehre, sie hingegen… Gegenstand der Melancholie ist in diesem Falle ein anderer Mensch, ihr Ausdruck ist ein starkes Gefühl einem anderen gegenüber, ist nicht zuletzt auch der Zweifel, der an einem nagt, wenn die Holde nicht einem selbst in erwünschtem Maße zugetan ist und vielmehr Arm in Arm mit einem närrischen Nebenbuhler gesehen wird. Offensichtlich ist auch der Zusammenhang dieses Gefühls mit der Kreativität. Denn insbesondere der verliebte Pilger neigt ja zum Verfassen neckischer Gedichte; dies führt bis hin zu jenem hoffnungsvollen Nachwuchsautoren, der die Vergeblichkeit seines Strebens einsehen muß und der das ihn Bewegende in um so bewegenderen Worten festzuhalten gewillt ist: Die Leiden des jungen Werther geben einer ganzen Generation Stoff zur Selbstidentifikation und verweisen eindrucksvoll neben anderen großen Werken auf das im Hintergrund mächtig wirkende Treiben der Melancholie. Doch glücklicherweise machen wir im Laufe der Jahre die Erfahrung, daß Melancholie nur im seltenen Falle ein Zustand von anhaltender Dauer ist. Unglücklicherweise bleibt in gleichem Maße anzumerken, daß sie in nur wenigen Fällen zu wirklichen geistigen Höchstleistungen anstachelt. Es muß offenbar noch etwas hinzugefügt werden… So währt Melancholie bei dem einen kurz, bei dem zweiten lang und beim dritten gar nicht, doch bleibt gewiß: Melancholie spiegelt immer auch die eigene Entwicklung wider, sei es in der emotionalen Reifung, der fortgeschrittenen Erkenntnis oder anderen Ausprägungen. Wenngleich sie also direkt auf unserem Wege liegt, so ist selten klar, um was es sich bei ihr wirklich handelt. Nun ist die Melancholie der Liebenden eine andere als die, der wir auf der Spur sein wollen. Jene nämlich gilt einem Menschen, diese einer Idee – oder besser: Einer Frage.
Der Melancholie der frühen Liebe, sei sie erfüllt oder unerfüllt, schreiten nur wenige vergleichbare Eindrücke voran. Etwa gemeinsam mit einem Freund als kleiner Junge auf dem Rücken liegend in die Sterne schauend, zum ersten Male realisierend, wie groß die Welt, wie klein man selbst ist. Oder als Kind das erste Mal mit dem Tod eines nahen Anverwandten konfrontiert zu sein: Jemand ist weg, für immer weg. Diese ersten Berührungen mit den Begriffen von der Unendlichkeit des Raumes oder der Ewigkeit blieben jedoch vergleichsweise folgenlos – denn die Melancholie des Verliebtseins zwingt zu noch tiefer gehenden Selbstreflexionen. Sie stellt den Melancholiker zunächst in seinem eigenem Fundament in Frage; ein Fundament, welches sich gerade erst herausbildet. Nicht ohne Grund steht Melancholie somit in engem Kontext zu einer ersten tatsächlichen Wahrnehmung seiner selbst. Fast wie eine erstmalige Versinnbildlichung des cogito ergo sum, des „ich denke, also bin ich,“ reflektiert der Verliebte nun erstmals über das, was ihm wirklich wichtig ist. Und was hier noch als zunächst unerreichbar scheinende Angebetete ganz der sinnlichen Welt verhaftet ist, wandelt sich im Laufe der Zeit zu einer anderen, intellektuelleren Frage: Was bewegt einen Menschen in einer Form, die man sein Lebensmotiv nennen könnte?
Dürers „Melencolia I“
Dürers „Melencolia I“ nun berichtet nicht im klassischen Sinne von der Liebe im Sinne der zwischenmenschlichen, vielmehr berührt er diese andere, eben aufgeworfene Frage – die nach einem individuellen, quasi geistigen Leitmotiv. Dennoch ist der Zustand seiner versinnbildlichten Melancholie ein vergleichbarer: Ein dumpfes, tiefes Grübeln über eine Frage, die nur der Grübelnde kennt, die nur ihn beschäftigt und von der nur er die Antwort sucht. Inmitten eines den Freimaurern merkwürdig bekannt vorkommenden Instrumentariums sitzt sie also, die Melancholie; angestrengt darüber nachdenkend, wie denn wohl der Zirkel in ihrer Hand bestenfalls geführt werden will. Und neben einem Maßstab finden sich unter den Werkzeugen eine ganze Anzahl weiterer, die das Bearbeiten von Holz und Stein ermöglichen. Ein magisches Quadrat, eine Glocke, eine Sanduhr und eine Waage verweisen symbolisch auf Mathematik, Tod, Vergänglichkeit und Gerechtigkeit. Ein Mühlstein lehnt sinnlos an einer Wand, ein vollkommen-unvollkommen bearbeiteter großer Stein versperrt den Weg zu einer Leiter, die in sieben Sprossen nach oben führt. Vollkommen hingegen ist eine Kugel im Vordergrund. Die Melancholie, gekleidet in ein zeitgenössisches Hausfrauengewand und versehen mit dem Machtattribut eines Schlüssels, ist in dieser, einer Bauhütte nicht unähnlichen Werkstatt, nicht alleine. Zu ihren Füßen liegt ein ausgehungert wirkender Hund, neben ihr kritzelt ein Putto unablässig ein Notizbuch voll – die Gedanken scheinen ihm förmlich zuzufliegen. Ein Gegenstand auf dem Stich entspringt freilich nur freimaurerischer Phantasie: Das Senkblei links oberhalb des Hundes ist keines. Ansonsten würde der Gelehrte eines anderen Bildes mit dessen Hilfe schreiben – es ist ein Tintenfaß.
Das magische Quadrat in Dürers „Melencolia I“
Der Dürersche Stich wird immer wieder auch als eine Darstellung der Geometrie verstanden, welche eine der sieben Künste des Mittelalters und der Frührenaissance ist. Für Dürer muß sie eine besondere Rolle spielen, erschließt sich doch Schönheit in Bild und Skulptur durch sie, durch die Mathematik. In der Freimaurerei begegnet uns die Geometrie ebenfalls häufig, u. a. auch als freimaurerisches Symbol im Buchstaben „G“. Wie sehr Schönheit mit Geometrie verbunden ist, zeigt übrigens auch das berühmte Bildnis des Menschen von Leonardo da Vinci, in dem Arme und Beine eines Idealmenschen an Kreise stoßen; die Rolle, die hier der Zirkel spielt, ist offenkundig. Während die Melancholie Dürers sich in Schweigen über ihr Thema hüllt, stellt sich die Frage nach dem, was Dürer denn nun eigentlich einem Betrachter sagen könnte. Für mich symbolisiert das Bild auf irdischer Ebene Kreativität und Suche, das Streben nach Erkenntnis und Meisterschaft. Dies wird transzendiert durch jenseitige Symbole, insbesondere den latent vorhandenen Tod und die stetig verstreichende Zeit. Der Mensch hat nur 24 Stunden am Tag – wie aber nutzt er diese? Nicht jeder wird sich in dieser Melancholie wiedererkennen, viele werden sich wundern über das Allerlei an Handwerkszeug und an dem Chaos aus ausgelebter Kreativität. Nicht ohne Grund, denn diese Melancholie ist die des Künstlers, und der Kupferstich wird so für mich auch zu einer Art Selbstbildnis Dürers oder, wenn man so will, zu seinem Vermächtnis. Die Fragen nach Vollkommenheit des Schönen, nach Erkenntnis und Suche sind Fragen, die auf dem Weg desjenigen liegen, der eine Meisterschaft erlangen will. Der Gegenstand der Liebe dieser Melancholie ist nicht ein anderer Mitmensch, es ist eine persönliche Frage. Hier liegt auch der Grund, warum ausgerechnet dieser Stich zu den berühmtesten Bildnissen Dürers zählt. Er symbolisiert die Dürer bewegende Frage, zugleich aber auch die den Künstler im allgemeinen bewegende Frage. Da jeder Mensch anders ist, gibt es natürlich eine Vielzahl an Fragen, auch die nach Macht und Wissen gehört dazu – ein Chirurg beispielsweise vereint beide Fragen. Und jede Frage kann, wenn sie konsequent beantwortet wird, zu etwas führen, was als Meisterschaft bezeichnet werden kann. Auf diese Art können auch zunächst profane Tätigkeiten zu hoher Kunst erhoben werden.
Über all dem wird deutlich, Melancholie kommt ohne einen Gegenstand nicht aus, auf den sie sich richten kann. Wie aber ergeht es dann denjenigen, die über kein derartiges Objekt verfügen? In seinem Siddharta gibt Hermann Hesse eine deutliche Antwort. Denn was immer der kluge und talentierte, charmante und gebildete Siddharta auch tut – zufrieden stellt es ihn nicht. Er ruht nicht in sich selbst; selbst der ihm begegnende Buddha kann dies nicht ändern. Dem Leser dieses philosophischen Kabinettstückchens wird früher oder später klar: Siddharta weiß zwar, was er nicht sucht, indes weiß er nicht, was er sucht. Erst einen Fluß akzeptiert er als seinen Lehrer, doch reicht dies nur noch dazu, ihm endlich seinen Seelenfrieden zu geben. Eine Frage, seine Frage, findet er nicht. Ohne Frage aber eine Meisterschaft zu erlangen ist eine heikle Aufgabe. So sehr Siddharta seinen rauhen Stein auch bearbeitet und mit den illusionistischen Erfolgen der Welt zu formen versucht – er wird zwischenzeitlich erfolgreicher Kaufmann und Familienvater -, er kann diesen Stein nicht von der Leiter entfernen, die den Aufstieg zur Erkenntnis symbolisiert. Und exakt dieses Motiv findet sich ja in dem Dürerschen Stich. So halte ich Siddharta nicht für einen klassischen Melancholiker. Denn ohne einen Gegenstand seiner geistigen Liebe führt er ein beinahe verzweifeltes Leben, nicht eine Antwort, sondern eine Frage suchend. Wenn man so will, liegen hier die zwei Wege des Suchens.
Wie auch immer, hat jemand eine Frage gefunden, sozusagen sein Lebensthema, so kann er sich an der Antwort versuchen. Die Melancholie, die diese Frage aufwerfen kann, wird so zum Ausgangspunkt auch für den Weg zur Vollendung der eigenen Persönlichkeit. In der Königlichen Kunst, als die sich die Freimaurerei ja sieht, spielt das melancholische Motiv also eine durchaus bemerkenswerte Rolle und muß diese auch spielen. Im japanischen Zen wird Vollendung seiner Selbst sogar nur durch Vollendung in einer irdischen Sache erlangt. Da der Mensch unvollkommen ist, kann er sich ihr nur insoweit annähern, als daß er alleine eine Sache bis zur Vollendung betreibt – eine Zenkunst etwa. Nun muß es nicht gleich Bogenschießen, Schwertkampf oder die Kunst des Tee-Zeremonials sein: Eine Meisterschaft läßt sich in vielen Disziplinen erlangen. Dürer weist aber auf ein nicht kleines Problem hin: Ohne stetes und angestrengtes Nachdenken ist dies nicht möglich. Und Dürers Melancholie denkt so angestrengt nach, daß sich etwas anderes in den Vordergrund drängt: Die Schwermut des Grüblers. Nun ist Schwermut kein Privileg des Melancholikers, auch der Depressive kommt ohne sie nicht aus. Von daher ist so manch einer geneigt, Melancholie und Depressivität in denselben „Sack“ zu stecken. Doch ist darin nur Platz für einen der beiden Gefühlszustände. Denn für den Depressiven besteht die Welt ja nur noch aus Hoffnungslosigkeit, in der alles vorhanden ist, mit Ausnahme des Sinnes. Hingegen geht der Melancholiker seiner Frage nach, von der er ja nicht loskommt – und ist der Hoffnung verfallen, eines Tages doch die Antwort zu finden. So ist der Depressive höchstens ein resignierter Melancholiker, doch kann sich der letztere noch auf eine höhere Stufe der Erkenntnis begeben. Dürers Frage war die nach der vollkommenen Schönheit. Er entwarf, italienischen Vorbildern folgend, eigene Theorien zu Schönheit und Proportion und schuf so nebenbei erstmals ein deutsches Kunstvokabular. Doch trotz der Bücher, die er verfaßte, trotz seiner Studien und trotz jahrelangen Reflektierens mußte er zu dem Schluß kommen, die allgemeine Formel für Schönheit nicht finden zu können. Irgendwo an dieser Stelle, scheint mir, beginnt dann die Altersweisheit… und kehrt eine andere Art von Bescheidenheit ein.
Woher kommt aber der Schmerz des Melancholikers, der mit der Depression verwandt zu sein scheint? Es ist die Einsamkeit, die sich hinter der Melancholie verbirgt. Bestimmte Fragen lassen sich nur alleine finden. Daher begegnet uns die Melancholie immer wieder auch bei den Herrschenden. Diese stehen zugleich unter der Verantwortung für andere und sind aus vielerlei Hinsicht alleine. Jeder Rat, den sie erhalten, könnte ein eigennütziger sein. Willi Brandt etwa kann getrost als ein Paradebeispiel des politischen Melancholikers gelten. Die Einsamkeit des Wissenschaftlers ist die, daß er in neue Denkwelten vordringt, in die kein anderer zuvor in dieser Tiefe blicken konnte. Dabei muß er auch mit den Folgen seines Tuns zurechtkommen. Zu denken wäre dabei an die Melancholie der Atombombenbauer. Der Kreative muß oder will das schaffen, was ihm eigen ist, ein bloßes Kopieren ist ihm dabei naturbedingt zuwider. In allen drei Arten der Melancholie steht ein Prozeß des Denkens im Mittelpunkt, und wie kommunikativ ein Mensch auch sein mag, im Denken bleibt er allein. Vielleicht sind Schriftsteller die einsamsten unter den Kreativen.
Daß die Anhänger der Melancholie in der Renaissance diese in engen Zusammenhang mit der Genialität setzen, ist eine nachvollziehbare Selbstschmeichelei, in der gerne auf die ganz großen Denker verwiesen wird – bevorzugt herhalten muß hier Aristoteles, und jeder, der sich damals als Melancholiker bezeichnete, verweist so durch die Blume auf die Nähe zur Genialität („ipse dixit“). In der zeitgenössischen Freimaurerei begegnet uns dasselbe Phänomen wieder in dem gerne zitierten Ausspruch „Goethe war Freimaurer. (Ich bin es übrigens auch).“ Vielleicht sollte man den Begriff des Genies und den damit verbundenen Kult durchaus einmal hinterfragen: Der Renaissance-Melancholiker und der enthusiastische Freimaurer verweisen bei soviel Ehrfurcht ja immer auf die harte Denkarbeit eines anderen… Große Werke und Taten aber sind zunächst immer weniger das Ergebnis von Bewunderung als von harter Arbeit. Wer neben einem „Genie“ gesehen wurde, muß nicht zwangsläufig in demselben Glanze strahlen. Mit einem Blick auf große Taten in Kunst, Wissenschaft oder Politik fällt in der Regel auf, daß nur selten große Meister vom Himmel gefallen sind. Nahezu alle benötigten ein Thema, das sie sich zu eigen machten, eine eigenständige Analyse sowie die Kraft zur Umsetzung. Nehmen wir diese Komponenten als Bestandteile des „melancholischen Genies,“ so gliedert sich dessen Tat in zeitlicher Reihenfolge in
- das melancholische Moment, in dem das eigene Thema bestimmt und gefunden wird,
- das analysierende Moment, in dem versucht wird, in die Tiefe des Themas vorzudringen und
- das eigentliche kreative Moment, wenn es um die Umsetzung geht.
Um ein Beispiel aus der Politik zu nennen sei Gandhi erwähnt – wenngleich sein politisches Genie je nach Sicht der Dinge immer auch umstritten ist. Gandhis melancholisches Moment, die Initiierung seiner Frage, war die Unterdrückung seiner Landsleute in Südafrika durch die Briten sowie in ihrem eigenen Land durch eben dieselben Vertreter des Empire. Melancholisch-schwermütiges Denken läßt ihn zeitlebens gegen diesen Zustand angehen. Und es ist bemerkenswert, daß der Wille eines Einzelnen eine der tragenden Stützen des größten Weltreiches aller Zeiten ins Wanken gebracht hat. Weitere Beispiele für eine derartige Initialzündung individueller Lebensmotive wären Ajatollah Khomeini oder Napoleon. Ersterer hatte die Unterdrückung der islamischen Geistlichkeit im Iran vor Augen, als er beschloß, ihre Würde wiederherzustellen; und letzterer die Anarchie der Französischen Revolution, als er das französische Rechtssystem auf neue Füße stellen ließ – und damit Europas fortschrittlichstes schuf.
Was auch immer im Einzelfall das Movens eines jeden ist, im Falle einer erfolgreichen Persönlichkeit ist es auf jeden Fall prägend. Denn der primäre Gegenstand der Melancholie prägt in erster Linie den Weg eines jeden. Und an einem „Genie“ bewundern wir in erster Linie ja auch das konsequente Beschreiten eines Weges, auch wenn dieser ein widriger oder im Ergebnis sogar ein tragischer (man denke an Rembrandt) gewesen sein mag.
Überhaupt gilt das Triumvirat Melancholie-Analyse-Umsetzung gleichermaßen für die Künste, die Wissenschaften und die Politik, und wenn nicht jeder, der diesen Dreiklang beherrscht, auch gleich ein Genie ist, so darf man ihm in seiner Domäne sicher eine beträchtliche Intelligenz unterstellen. Wenn man so will, scheiden sich hier die Guten von den Schlechten: Dürers willenlos vor sich hinkritzelnder Putto schafft es spielend, ganze Notizbücher mit sinnlosen Schriftzeichen zu füllen (was wir an dieser Stelle nicht als dadaistische Ausdrucksform oder Konzeptkunst betrachten wollen). Demgegenüber ringt die Melancholie um jeden einzelnen Zirkelstrich. In Dürers Stich ist so auch der Unterschied angelegt zwischen Quantität und Qualität der Kunstschaffenden. (In der Politik müßte man hier unterscheiden zwischen medienwirksamem Aktionismus und wohlüberlegtem Handeln). Dürers Melancholie sehen wir also angestrengt um Vollendung ringend. Wie wichtig künstlerische Vollendung den Malern oder auch den Autoren ist, zeigen uns die großen Werke der Weltliteratur: Der hoffnungsvolle Nachwuchsautor der Leiden des jungen Werther benötigte Jahrzehnte, sein Opus magnum über einen Gelehrten zu verfassen, der sich auf den Teufel einläßt und ein braves Mädchen in ihr Unheil reißt. Veröffentlicht wurde das Werk erst, als sein Autor ein Star ohnegleichen war. Die lange Zeitdauer des Schaffens von Faust bestätigt nicht nur den Ausspruch „Gut Ding braucht Weil“ sondern ein zutiefst melancholisches Moment, das des Zweifels am bereits Verfaßten: Geht es nicht noch besser, was fehlt noch bis zum Meisterstück? Ohne diesen Zweifel läßt sich jede Beliebigkeit schaffen, denn es mangelt an einem eigenen Maßstab. Erst durch den melancholischen Zweifel aber lassen sich Werke und Taten schaffen, die – vielleicht – eines Tages als vollendet betrachtet werden dürfen.
Vollkommenheit ist somit eine wesentliche Ergänzung des skizzierten Dreiklanges aus Themenfindung, Analyse und Umsetzung. Ob in Liebe, Wissenschaft, Kunst, Beruf oder Machtausübung, sie steht als Ziel am Ende des Weges des Melancholikers. Für die Königliche Kunst ist dies nicht unbedeutend. Denn es ist immer die Frage auch des eigenen Wachzustandes: Wann ist etwas vollkommen, was ist daran noch unvollkommen? Wo stehe ich heute, wo will ich morgen sein? Auf der Suche nach einer Antwort wird ein japanischer Schwertschmied ein gerade eben fertiggestelltes Schwert schnell vergessen – im gegenständlichen Sinne. Denn nicht das Objekt ist wichtig; eine höhere Bedeutung hat das Wissen um dessen Erschaffung. Höhere Bedeutung also hat das nächste Schwert, welches geschmiedet wird – es muß besser sein. Das ist zu vergleichen mit einer Erkenntnisleiter, die es Stufe um Stufe zu erklimmen gilt, wie wir sie vielleicht auf dem Dürerstich sehen. Doch gibt es durchaus Gefahren: Den Verlust der Neugierde, das Fehlen von Fragen, das Zufriedensein mit dem „Ist.“ Dies sind die Hindernisse, der zu beseitigende Mühlstein vor jeder Stufe. Melancholie benötigt einen wachen Geist, sich der eigenen Frage meisterlich anzunähern. So ist nicht jeder, der sich Meister nennt, jenseits des Titels tatsächlich einer. Es gehört ungemein viel zu einer Meisterschaft, und wer die Königliche Kunst ernst nimmt, kann in etwa einschätzen, wieviel das ist. Ein Kreis schließt sich an dieser Stelle.
Dürer hat übrigens auch die zwei anderen in der frühen Renaissance diskutierten Formen der Melancholie dargestellt, und als wäre das zufällig, entstehen in nur kurzer Zeit zwei weitere Meisterstiche, welche die „Melencolia I“ in angemessener Form flankieren. Da ist zum einen der „Tatmensch“ in Ritter, Tod und Teufel, zum anderen der gelehrte Melancholiker in Hieronymus im Gehäus, sich der religiösen Kontemplation hingebend, aber auch der Wissenschaft widmend. Während für Aristoteles das Leben des Wissenschaftlers zuallererst erstrebt werden sollte – es ist für ihn das einzige, welches tatsächliches Glück verheißt -, teilt Dürer diese Meinung nicht. Denn weder die Melancholie des Machtmenschen noch die des Forschenden sind für ihn an erster Stelle. Die „Melencolia I“ kann für ihn nur die des Künstlers sein.
Seit alters her wird die Melancholie eng mit dem Saturn verwoben und ist auch in der Medizin bekannt – als schwarze Galle. Doch den Exkurs über die humores überlasse ich lieber den Ärzten im Auditorium. Was meint Melancholie nun für mich selbst? Melancholie heißt Denken mit Gefühl, heißt eine Frage haben, an der es sich trefflich reiben läßt. Heißt, einen Weg zu beschreiten, der von dieser bestimmt ist. Melancholie ist eng verbunden mit dem Reflektieren des eigenen Weges, der eigenen als eine solche empfundenen Berufung. Das heißt aber auch, irgendwo Vervollkommnung zu suchen. Wer bis zu diesem Punkt noch zuhören konnte, darf jetzt beruhigt sein: Zu sagen gäbe es noch vieles, aber für heute soll es genug sein. Und jenen, die der Logenschlaf übermächtigte, muß ich mit Bedauern zurufen, es ist wieder Zeit aufzuwachen. Doch halt, etwas Zeit bleibt doch noch. Wie ist es denn nun, wenn ein Mann 30 geworden ist? Alles anders, sagt er da, alles anders. Als Melancholiker jedoch wird er sagen: Die Fragen sind dieselben, aber die Perspektive ist eine andere…
Mit einer Frage nun will ich wirklich schließen.
Denn was ist mit Dir, Zuhörer und Leser:
Wohin gehst Du?
* * *
ANHANG I
Bei einem Dichter fand ich noch diese poetische Interpretation der Melancholie, welche die meine entweder ergänzt, kommentiert oder um neue Aspekte bereichert (der geneigte Leser möge dies selbst entscheiden). Die gewählte Form einer Hymne scheint mir natürlich die gelungenere.
M e l a n c h o l i e
Sei mir gegrüßt, Melancholie,
Die mit dem leisen Feenschritt
Im Garten meiner Phantasie
Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt!
Die mir den Mut wie eine junge Weide
Tief an den Rand des Lebens biegt,
Doch dann in meinem bittern Leide
Voll Treue mir zur Seite liegt!
Die mir der Wahrheit Spiegelschild,
Den unbezwungnen, hält empor,
Daß der Erkenntnis Träne schwillt
Und bricht aus dunklem Aug‘ hervor;
Wie hebst das Haupt du streng und strenger immer,
Wenn ich dich mehr und mehr vergaß
Ob lärmendem Geräusch und Flimmer,
Die doch an meiner Wiege saß !
Wie hängt mein Herz an eitler Lust
Und an der Torheit dieser Welt!
Oft mehr als eines Weibes Brust
Ist es von Außenwerk umstellt,
Und selbst den Trost, daß ich aus eignem Streben,
Was leer und nichtig ist, erkannt,
Nimmst du und hast mein stolz Erheben
Zu Boden alsobald gewandt.
Wenn du mir lächelnd zeigst das Buch
Des Königs, den ich oft verhöhnt,
Aus dem es, wie von Erz ein Fluch,
Daß alles eitel sei! ertönt.
Und nah und ferne hör‘ ich dann erklingen
Gleich Narrenschellen ein Getön;
O Göttin, laß mich dich umschlingen,
Nur du, nur du bist wahr und schön! –
Noch fühl‘ ich dich so edel nicht,
Wie Albrecht Dürer dich geschaut:
Ein sinnend Weib, von innerm Licht
Erhellt, des Fleißes schönste Braut,
Umgeben reich von aller Werke Zeichen,
Mit milder Trauer angetan;
Sie sinnt – der Dämon muß entweichen
Vor des Vollbringens reifem Plan!
(Gottfried Keller)
Und wenn ich schon ein Gedicht auf die Melancholie Dürerschen Sinnes anbringe, dann darf auch eines auf ihren von mir erstgenannten Aspekt nicht fehlen: Eines auf die Melancholie der Liebe. Ob seiner Schönheit möchte ich noch ein Sonett von Francesco Petrarca vorstellen, Hor che«l ciel de la terra.Dieses wurde wunderbar vertont von Claudio Monteverdi. Petrarca gilt übrigens als einer der Väter der Kunstgeschichte.
Nun, da Himmel, Erde und Wind schweigen
und der Schlaf Tiere und Vögel zur Ruhe bringt,
führt die Nacht den gestirnten Wagen in die Runde,
und ohne Welle ruht in seinem Bette das Meer.
Ich wache, denke, brenne, weine; und die mich auflöst
steht immer vor mir zu meiner süßen Pein.
Krieg ist mein Zustand, voll Zorn und voll des Schmerzes;
alleine an Dich nur denkend hab ich Frieden.
Wie allein nur aus einer klaren Quelle,
das Süße und das Bittre strömt, davon ich lebe,
macht eine einzige Hand mich gesund und straft mich.
Und weil meine Qual kein Ende findet,
sterb ich den Tag wohl tausendmal
und werde tausendmal geboren,
soweit bin ich von meinem Heil entfernt.
* * *
ANHANG II
Bruder Efraim Wagner aus Jerusalem ergänzt den Text um den nachfolgenden Kommentar. Für sein langjähriges und auch im tiefsten Grunde freimaurerisches und vor allem vorbildliches Wirken für die deutsch-jüdische Verständigung erhielt der mittlerweile 83-jährige deutschstämmige Musiker im vergangenen Jahr das Bundesverdienstkreuz.
„Lieber Bruder,
vielen Dank für Ihre Zeichnung über die melancholischen Gedanken, inspiriert von Dürer und Gottfried Keller. Mir liegen diese oder ähnliche Themen am Herzen, und Schriftsteller von der Qualität wie Hermann Hesse haben mich mein Leben lang begleitet und geistig bereichert.
Für mich ist es weniger die Melancholie, die ja der Wehmut ähnelt und leicht zu Depressionen führen kann – wie Sie ja auch andeuten – , sondern eher die anzustrebende Harmonie zwischen dem kontemplativen und aktiven Dasein. Diese Problematik wird ja von Hermann Hesse sehr intensiv in seinem Glasperlenspiel angesprochen, besonders in dem Abschiedsschreiben von Josef Knecht an die Ordensleitung, worin die Gründe dargelegt werden, warum die Zeit des Glasperlenmeisters nun zuende ist. Teils bewußt, teils unbewußt habe ich versucht, eine kreative Balance zwischen meinem geistig-philosophischen Reifeprozeß – der sich ja das ganze Leben abspielt – und meinen recht abwechslungsreichen Aktivitäten aufrecht zu erhalten. Dabei habe ich versucht, es mag etwas ironisch klingen, meine Beschäftigungen nie in Arbeit ausarten zu lassen. Komischerweise ist mir das auch mehr oder weniger ungestraft gelungen. Ich bin mit mir im reinen. Meine Laufbahn im Rahmen der Königlichen Kunst [d. i. die Freimaurerei, d. V.] habe ich stets als ein sich üben in den menschlichen Tugenden betrachtet und dabei bedacht, auch eine Art Modell für meine Logenbrüder und freimaurerischen Freunde auf der ganzen Welt zu sein. Dieses Bestreben sollte meiner Ansicht nach die Grundhaltung eines jeden Freimaurers sein, denn wozu ist ein Mensch denn Freimaurer geworden?“