Von der Sinnlosigkeit, Mensch zu sein

Kategorie(n): , , , , ,

Seit jeher und bis heute treibt uns diese Frage um: Was ist die Wahrheit? Häufig suchen wir nach etwas, das den Ursprung der Welt und uns begründet. Dieses etwas – so ist unsere Hoffnung – hat sich bei dieser Entstehung etwas gedacht. Es muss einen Sinn gehabt haben – bezeichnen wir uns doch alle selbst als Suchende.

Auf der Suche in uns selbst stoßen wir früher oder später, rational oder emotional, auf Skepsis. Könnte nicht alles nur Zufall sein? Versuchen wir uns hier etwas vorzumachen und übereifrig Muster zu erstellen, nur um nach ihnen zu suchen und sie dann überall erkennen zu können?

Nietzsche drückt es so aus: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte.“ Zitat Ende.

Physikalisch betrachtet besteht die Erde sowie das gesamte Leben darauf aus der gleichen Materie, die schon beim Urknall entstanden ist. Atome, identisch zu jenen, die bereits vor geschätzten 13,8 Milliarden Jahren entstanden sind, bilden richtig zusammengefügt einen Glibber. Dieser Glibber läuft mit ca. 20 Watt zwischen 84 Milliarden Neuronen, sitzt in unserem Kopf und bewirkt, dass ich gerade zu euch sprechen kann und ihr mir zuhören könnt.

Biologisch betrachtet gehören wir zur Gruppe der Trockennasenprimaten. Wir selbst sind ein Tier und stehen damit auch auf derselben Stufe wie alle anderen Tiere. Daraus lässt sich keine wissenschaftliche Begründung ableiten, warum für uns Menschen eine besondere Moral oder Ethik gelten sollte. Der Sinn ist die Fortpflanzung des Lebens ohne Rücksicht auf Opfer, Gerechtigkeit und Glück.

Nietzsche führt dazu aus: „Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; …Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, …, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst … so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“ Zitat Ende.

Erschütternde Worte, wenn man sie auf das bezieht, was wir uns hier einbilden. Unser Ritual? Nur ein „Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst“. Die Suche nach der Wahrheit? Eine Handlung ohne erkennbaren Nutzen und völlig sinnlos. Brüderlichkeit? Lediglich eine Verstellungskunst.

Wir bezeichnen einen Baum als ‚Baum‘, weil wir es so gelernt haben. Wer ‚Haus‘ dazu sagt, der lügt. Das entspricht der gesellschaftlichen Konvention, die uns einen sozialen Rahmen gibt. Wer sich abseits gesellschaftlicher Konventionen bewegt, wird schnell missverstanden. So kann das Hören eines Gedichts in Altgriechisch für den einen als tiefsinnig und respektvoll aufgenommen werden, während es vom anderen als leicht verstörendes Gebrabbel wahrgenommen wird. Genauso verhält es sich, wenn wir über den Sinn sprechen. Was sinnvoll und sinnlos ist, kann nur von uns erkannt werden. Es gibt keine objektiven Kriterien hierfür. Es ist ausschließlich eine rein subjektive Angelegenheit.

Sinnlosigkeit in uns

‚Sinnlos‘ – Das ist im Allgemeinen ein negativ konstatiertes Wort. Die Sinnlosigkeit erscheint in uns als Leere, als Abwesenheit von Bedeutung, Zweck und Wert. Es liegen keinerlei Ziele, nicht einmal Erwartungen in ihr begründet. So kann die Unterstellung, das Leben hätte keinen Sinn, bedrückend sein. Daraus ergibt sich eine Antriebs- und Orientierungslosigkeit. Wir alle können uns sicherlich an eine Situation zurückerinnern, in der wir dachten, dass der Sinn, an den wir glaubten, weg ist. Fort, ohne dass er ersetzt wurde. Doch genauso wissen wir, dass dies keine Endstation bedeuten muss. Im Nachhinein ergab sich daraus ein neuer Anfang. 

Die Unterstellung, dass Leben hätte keinen Sinn, kann allerdings genauso befreiend sein. Losgelöst davon einen Sinn zu haben oder diesem gar dienen zu müssen, entfaltet sich daraus ein Raum, den wir nach eigenem Belieben ausgestalten können: Ich schaue in den Himmel – ohne etwas zu fokussieren; Ich spiele Klavier – ohne, dass es jemand hört; Ich gehe spazieren – ohne, dass ich wohin möchte. Sich der eigenen Sinnlosigkeit hinzugeben, kann durchwegs befreiend sein. Und ist es nicht gerade das, was das Mensch-Sein ausmacht? Mein wahrer Reichtum liegt vielleicht darin, dass das Unnütze einen Platz haben darf.

Sinnlose Handlungen können allerdings auch durch etwas in uns selbst getriggert werden. Nicht jede Handlung ist freiwillig, sondern entsteht womöglich durch innere Zwänge. Stichwort Wiederholungszwang: das Händewaschen muss nach einem bestimmten Muster ablaufen; Stichwort Ordnungszwang: das Sortieren nach bestimmten Symmetrien; Stichwort Berührzwang: bestimmte Dinge müssen bzw. können nicht angefasst werden. Die Betroffenen haben oft Kenntnis über die Sinnlosigkeit ihrer Handlung, können ihr ‚Ritual‘ aber dennoch nicht unterlassen. Es gibt ihnen eine spürbare, wenn auch nur kurz andauernde Erleichterung und Angstreduktion. Zwänge, und das im Allgemeinen, wirken einschränkend.

Dagegen sind sinnlose Handlungen uns äußerst dienlich, wenn sie befreiend wirken: Das tiefe Ein- und Ausatmen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Meetings, das Legen eines Puzzles nach einem anstrengenden Tag oder das fokussierte An-Nichts-Denken bzw. das Meditieren bei Sonnenauf- oder -untergang. Es sind jene freiwilligen Handlungen ohne Zweck, die in unserem Gehirn zu einem Entspannungszustand führen. Genau in diesen Momenten entstehen sogenannte Alphawellen – diese sind im EEG messbar – und führen dazu, dass sich unser Gehirn regeneriert. Dabei wird die Durchblutung des Gehirns verbessert und der Stresspegel gesenkt. In aktuellen Studien kann inzwischen gemessen werden, was Menschen schon lange an sich selbst feststellen: Diese „sinnlosen“ Inseln bringen uns eine verbesserte Klarheit, innere Balance und Selbstregulation.

Sinnlosigkeit um uns

Sinnlosigkeit ist ein Gedanke oder eine Empfindung, die dadurch geprägt ist, dass wir etwas oder jemanden nicht verstehen oder nachvollziehen können. Wir fällen schnell ein Urteil darüber, ob etwas sinnvoll oder sinnlos ist. Warum tun wir das? Wir versuchen damit Ordnung in uns selbst zu schaffen. Begreifen wir etwas nicht, wird es gerne von uns als sinnlos abgestempelt. Das ist bequem, schließlich umgehen wir so die Komplexität das Tatsächliche verstehen zu müssen. Demnach begegnet uns Sinnlosigkeit als Mangel an unserer eigenen Information oder Empathie. Sprich: Die empfundene Sinnlosigkeit im Handeln anderer entspringt oft nicht der Handlung selbst, sondern in unserem begrenzten Zugang zur inneren Welt der anderen. Die Handlungen eines anderen abtun mit „Das ist doch völlig sinnlos!“, damit ist eigentlich gemeint „Ich erkenne keinen Zweck oder keine Bedeutung in deinem Tun.“.

Der ein oder andere kennt es. Man sitzt auf einer Bank in der Sonne, ruht sich aus und beobachtet Leute:

– Ein Mann spricht laut mit sich selbst auf offener Straße. Wie blöd ist der denn? – oder vielleicht ein Resultat von Einsamkeit?

– Eine Frau rennt in eine Gruppe von Tauben und scheucht diese auf. Verrückte! – oder vielleicht eine Therapie gegen ihre Taubenphobie?

– Ein Kind hüpft fröhlich im Kreis. Hat wohl nix besseres zu tun! – oder vielleicht ein Ausdruck kindlicher Lebensfreude, die wir als Erwachsene verlernt haben?

Was oder ob wir überhaupt etwas hineininterpretieren, ist eher zweitrangig. Wir könnten herausfinden, warum sie es tun, doch wäre das zeitlich wohl nicht zu schaffen – bei all der Sinnlosigkeit um uns herum. Ob wir es also verstehen oder nicht, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, was es mit uns macht. Gerade in der Sinnlosigkeit, die uns begegnet, können wir uns selbst begegnen. So haben wir mit jeder weiteren Begegnung die Möglichkeit entweder dem zu Chaos verfallen oder Ordnung in uns herstellen.

Wir leben in einer Welt, in der alles analysiert, optimiert und evaluiert werden muss. Vielleicht steckt dahinter nichts weiter als ein natürlicher Selbsttrieb. Vielleicht ein Wunsch nach Kontrolle oder Orientierung in einer Welt, die uns zunehmend komplexer und unüberschaubarer erscheint. Dabei vergessen wir zu oft und zu gerne, dass wir nicht alles begreifen müssen. Nicht alles braucht für uns einen Sinn. Wir können Sinnlosigkeit sogar als jenen Luxus begreifen, die uns von der Pflicht erlöst, alles begreifen zu müssen. In der Sinnlosigkeit liegt eine gewisse Freiheit. Sie kann als Entlastung verstanden werden, nicht überall einen Zweck finden zu müssen. Als Luxus, der uns von der Pflicht befreit, alles nutzen und begründen zu müssen und bei unserer Suche nicht das Sein zu vergessen.

Aus der Sinnlosigkeit

Doch wie steht es nun mit der Sinnlosigkeit unseres Daseins? Jenes Seins, das nur eine Minute der Weltgeschichte ausmacht und bei dem wir unseren Intellekt innerhalb der Natur ausnehmen? Jenes Seins, aus dem sich nichts begeben haben wird, wenn es wieder damit vorbei ist? Dieser Hintergrund zeigt die Bedeutungslosigkeit des menschlichen Intellekts auf und damit die Frage, ob überhaupt ein tieferer Sinn gefunden werden kann. Er zeigt uns die Vergänglichkeit auf und damit die Frage, ob wir überhaupt einen tieferen Zusammenhang mit dem Ganzen erkennen können. Und doch, im Hier und Jetzt wohnt ein magischer Moment inne, der sich vom Hier und Jetzt erstreckt auf die Minute der Weltgeschichte und darüber hinaus. Wer ihn allerdings versucht rein mittels Intellekts zu fassen, dem wird er verborgen bleiben. Da braucht es schon mehr.

Dem Gefühl der Leere kann eine andere Betrachtungsweise gegenübergestellt werden. In dieser Betrachtungsweise liegt der Sinn nicht in einem äußeren Zweck, sondern in der Tiefe des Seins selbst. Der niederländische Philosoph Spinoza erklärt es schlicht so: „Deus sive natura“ – ‚Gott oder auch die Natur‘. Demnach ist alles eine unteilbare Substanz, die sowohl Gott als auch Natur ist. Das gesamte Universum ist Ausdruck einer göttlichen, unendlichen Wirklichkeit, die sich u.a. in Menschen, Bäumen, sogar Steinen manifestiert. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Atome und unterliegt dabei der Ordnung der Natur. Um dies verstehen und nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst der Suche nach Gott in uns selbst. Dabei ist diese Suche keine Flucht vor der Welt. Es ist die Suche nach reiner, innerer Menschlichkeit. Dies setzen wir in Verbindung mit dem, was uns umgibt. Diese Verbundenheit zeigt sich oft in einfachen, tief erfüllten Momenten:

– Wir setzen uns in ein Boot, lassen uns nur vom Wind ziehen, der bestimmt, wie weit wir kommen. Während wir den ganzen Tag von gefährlich kaltem Salzwasser umgeben sind, legen wir abends in einem sicheren Hafen an.

– Nach einer stundenlangen Wanderung durch den Schnee und eisiger Kälte setzen wir uns in eine heiße Sauna. Danach pendeln wir uns zwischen beiden Extremen gemütlich auf der Couch ein.

– Beim Spaziergang am Strand den Sand unter den Füßen spüren, merken wie er kurz nachgibt und uns dann trägt. Während uns der Wind durch Gesicht und Jacke bläst, dann einen Moment lang verschwindet, und uns direkt die nächste Böe erfasst. 

Es sind jene Momente, die uns eine Verbindung aufbauen lassen mit allem, was uns umgibt. Es schafft eine Verbundenheit zwischen Vernunft und Ehrfurcht, zwischen unserem Sein und dem Universum. Dann, wenn wir zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön – wie in Goethes Faust.

In diesem Zusammenhang könnte man geneigt sein, das Leben auf ein einziges Ziel auszurichten: Inneres Gleichgewicht herstellen und bewahren. Der Tod ist schließlich endgültig. Darüber hinaus gäbe es nichts, worum man sich sorgen müsse. So klingt es nach einem Ausweg, in dem es im Leben nur darum geht Schmerz zu minimieren und Freude zu maximieren. Mit der inneren Balance als höchstes Ziel wird die Finsternis gemieden und die Flamme erlischt. Dieser so pragmatische Ausweg hat eine tiefe Lücke: Er reflektiert, was wir sind, jedoch nicht, was uns ausmacht. Was treibt uns an? Unser Leben könnte so bequem sein. Doch wir alle wollen wirken.

An der Spitze der Pyramide steht die Selbstverwirklichung. Es reicht uns nicht zu existieren. Wir wollen spüren, dass wir in der Welt etwas bewegen. Unser Wort, das beim anderen hängen bleibt; Unsere geteilten Gedanken, die andere beeinflussen; Jemand, der sich an uns erinnert. Wir haben einen natürlichen Drang, der über unsere bloße Existenz hinausgeht. Diesen Drang merken wir insbesondere dann, wenn uns die Möglichkeit genommen wird ihn auszuleben.  Menschen, die durch eine Krankheit plötzlich nicht mehr ihr gewohntes Leben führen können, spüren, wie ihre Lebensqualität abnimmt. Dieser Mensch fühlt sich nicht mehr selbstbestimmt, da von nun an die Krankheit bestimmt, was dieser Mensch von nun an noch tun kann. Alte Menschen gehen ein, wenn sie nichts mehr zu tun haben. Junge Menschen reagieren mit Frust und Aggression, wenn sie keine Gelegenheit bekommen, sich selbst zu entfalten. Nicht jeder versucht sich am Großen. Vielen genügt es, im Kleinen zu wirken: in der Familie, im Beruf oder im Kaninchenzüchterverein. Dieses Bedürfnis begleitet uns ein Leben lang. Unser freier Wille zur Wirkung hängt nicht von göttlicher Gnade ab, sondern von unserer Fähigkeit, Entscheidung zu treffen. Es gibt keine höhere Macht, die uns zwingt, etwas Bestimmtes zu tun. Jeder freie Mensch kann für sich selbst entscheiden. Daraus resultiert auch, dass jeder die Verantwortung für sein Handeln selbst übernimmt – sowohl für das, was er tut, als auch für das, was er unterlässt. 

Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen bedeutet, sich den Konsequenzen zu stellen. Die Verantwortung beginnt nicht, wenn die Konsequenz eintritt, sondern bereits mit den Gedanken zuvor. Der freie Wille schützt nicht davor, Fehler zu begehen. Selbst wenn wir denken, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben, kann es passieren, dass diese Leid und Schmerz für uns bedeutet. Das mag uns sinnlos erscheinen. Warum leiden wir für etwas, das wir gut gemeint haben? Warum bereuen wir etwas, das wir nicht hätten besser wissen können?

Es geht nicht darum, perfekt zu sein und fehlerlos zu handeln.
Es geht darum, aufrichtig zu dem zu stehen, was wir entschieden haben und bereit zu sein, mit den Folgen zu leben.

Es geht nicht darum, nach außen zu schauen und die Schuld dort zu suchen.
Es geht darum, nach innen zu schauen und dafür einzustehen.

Liebe Brüder: „Seid wachsam auf euch selbst“. Nicht jede Entscheidung, die möglich ist, ist auch richtig. Und nicht jede Reaktion, die ihr darauf erfahrt, ist auch gerecht. Nicht alles, was sich richtig anfühlt ist auch gut und nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch klug. Dennoch zu dieser Entscheidung zu stehen, verlangt vor allem Selbstprüfung. Wachsamkeit fordert von uns, uns nicht nur dann im Spiegel zu betrachten, wenn wir gut dastehen, sondern gerade dann, wenn wir uns damit schwertun, uns selbst zu begegnen.