Christus sagte uns, wir sollten unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Damit wäre eigentlich für den rechten Umgang mit dem Nächsten wie für den rechten Umgang mit sich selber seit rund zweituasend Jahren alles gesagt, was zu sagen ist, und jemand, der sich darüber verbreitet, käme in den Verdacht, Plattheiten auszusprechen – wenn das Wort Selbstliebe nicht dazu angetan wäre, in vielen Menschen falsche Vorstellungen wachzurufen. Wenigstens muß es offenbar so sein, denn man begegnet diesen falschen Vorstellungen doch sehr oft.
Der Gegensatz zu echter Selbstliebe wäre eine abzulehnende „Ich-Bezogenheit“, welche die meisten für Selbstliebe halten, also ein Umgang mit sich selber, bei welchem das „liebe Ich“ zum Mittelpunkt der Gesamtpersönlichkeit gemacht wird. Dabei ist noch wichtig zu bemerken, daß auch gute Menschen besten Willens so etwas tun, ohne sich dessen recht bewußt zu sein.
Am Beispiel des Essens veranschaulicht: Der Ichbezogene ißt nur, was seinem Ich gerade schmeckt, ohne Rücksicht darauf, was die Gesamtperson gesundheitlich braucht und verträgt. Im Falle echter Selbstliebe ordnet ein Mensch die genießerischen Wünsche seines Ichs den gesundheitlichen Notwendigkeiten der Gesamtperson unter. In beiden Fällen nimmt der Mensch Speise zu sich, aber beide Fälle unterscheiden sich im Beweggrund des Handelns sehr wesentlich voneinander. Der Unterschied zwischen falscher Ichbezogenheit und echter Selbstliebe liegt also in der Zielsetzung.
Das, was die meisten Menschen als ihr Ich empfinden und damit als ihren werttragenden Wesensfaktor, ist meist identisch mit ihrer sozialen Stellung, nicht etwa mit ihrem tieferen, in der Anlage wurzelnden sittlichen Wesenskern, nicht mit ihrer vitalen Eigenart, also nicht mit ihrer Wesensgesamtheit.
Nur wenige Menschen kennen sich selbst, und ihre Selbstliebe ist daher nur eine sehr oberflächliche Ichbezogenheit. Daraus erwachsen den meisten Menschen beim Versuch des rechten Umgangs mit sich selber so große Schwierigkeiten. Das Leben in uns und das Leben um uns ist aber ein Gesamtphänomen, das wiederum nur von einem Menschen, der sich als eine lebendige Gesamtheit erfährt und empfindet, richtig wahrgenommen werden kann. Wer sich mit einem Teil seines Wesens, z. B. mit seiner sozialen Position identifiziert, also sich so fühlt, als ob er „aus weiter nichts als dieser seiner sozialen Position bestünde“ (als Beispiel nichts anderes wäre als Hausmeister, Obersekretär oder Professor), sieht auch das ganze Leben und seine Mitmenschen nicht anders als durch die Brille dieser einseitig sozialen Bewertung und damit wirklichkeitsfremd und schief.
Er bekommt gegenüber Menschen mit höherer sozialer Position Minderwertigkeitsgefühle und gegenüber solchen von niederer Position größenwahnhafte Reaktionen. Er reagiert also den ersteren gegenüber aufgrund seines Minderwertigkeitsgefühls in allem und jedem überempfindlich, wie er sozial niederstehenden Menschen gegenüber meist herzlos und taktlos wirkt. Nach allgemeiner Erfahrung ist aber nun das überempfindliche, von Minderwertigkeitsgefühlen unterhöhlte Verhalten solcher Menschen nicht damit zu beheben, daß man ihnen zur „Nächstenliebe“ rät; sie verarbeiten das innerlich nur im Sinne eines völlig unsachlichen Altruismus (Selbstlosikeit).
Solchen Menschen ist nur zu raten und eventuell zu helfen, wenn man sie aus quasi „halbbewohnten Menschen“ zu „ganzen“ Menschen macht, also zu Menschen, die begreifen lernen, daß ihre als Ich empfundene soziale Stellung nur ein Bruchteil ihres Selbstes, also ihrer Wesensganzheit ausmacht. Erst wenn solche Menschen auch ihren sittlichen Wesenskern samt ihrer vitalen Basis als zu sich gehörig empfunden haben, sind sie in der Lage, zu begreifen, was unter einer echten und gesunden Selbstliebe zu verstehen ist und daß diese nichts gemein hat mit einer „Verliebtheit in sein eigenes Ich“.
Das Selbst allein ist in der Lage, menschlich reif und sachlich zu reagieren. Wo ein Mensch seine Wesensganzheit allein nur auf sein Ich bezogen lebt, ist eine Überempfindlichkeit gegenüber allem, was nicht den Wünschen und Hoffnungen, Ängsten und Besorgtheiten dieses kleinen Ichs entspricht, psychologisch unvermeidlich. Sich selbst richtig lieben, heißt „mit seinem Pfund wuchern, das uns in Form unserer Wesensgesamtheit anvertraut ist“, und nur wer gelernt hat, mit allen seinen Wesensteilen richtig umzugehen, ist auch in der Lage, sich gegenüber den entsprechenden Wesensschichten in anderen Menschen richtig zu verhalten, also auch den Nächsten richtig zu lieben. Deshalb wird hier der Umgang mit sich selber – vielleicht für manchen etwas ungewohnt und verwunderlich – so in den Vordergrund gestellt.
Ich finde, dazu passen auch folgende Worte in Versform:
Der eine braucht den Ozean,
um „Wasser“ zu begreifen,
ein anderer schaut den Dorfteich an
und spürt schon in sich reifen
Erkenntnis von der gleichen Art
und ist damit zufrieden,
hat er sich doch viel Müh gespart, –
das Maß ist halt verschieden.
Erfolg und Mißerfolg im rechten Umgang mit sich selber stehen und fallen mit der rechten „Distanz“, die ein Mensch zu sich selber hat. Indem ich das Wort „Distanz“ ins Gespräch bringe, bin ich mir bewußt, damit sofort Mißverständnisse heraufzubeschwören, denn unter dem Wort Distanz verstehen die meisten Menschen ganz verschiedene Dinge und nicht zu Unrecht, denn es gibt Distanz auf verschiedenen Ebenen. Betrachten wir also das Problem zunächst einmal von der Fragestellung her: Was ist Distanz zum Nächsten?
Hier können wir von einer sozialen oder konventionellen Distanz sprechen. Ausdruck dieser Distanz wäre, daß ein Untergebener vor seinem Vorgesetzten den rechten Abstand wahrt. Erziehung eines Menschen zu solcher Distanz ist ein Problem der Kinderstube, der Schule und der Berufsausbildung. Erklärungen darüber sind nicht nötig, da darüber genug gesagt und geschrieben wird. – Es gibt eine Distanz des menschlichen Taktes, des „Herzens“. Sie findet ihren Ausdruck darin, daß man einem guten, schwächeren, kranken oder hilflosen Menschen gegenüber rücksichtsvoll ist; es ist jene Distanz, auf welcher sich das Ethos der christlichen Nächstenliebe aufbaut. Es ist ebenso bekannt.
Es gibt aber noch eine vitale Distanz; sie ist weniger bekannt und erst vor kurzem bekanntgeworden und spielt in der Psychotherapie eine große Rolle. Diese vitale Distanz wurde vielen Menschen erst dadurch bewußt, daß sie sie eines Tages verloren hatten. – Unter vitaler Distanz muß man jenen Abstand zwischen Menschen verstehen, der nicht durch soziale Unterschiede und nicht durch ein Gefälle im ethischen Niveau bedingt ist, sondern durch die gleichen Gesetze, die einen Gärtner veranlassen, die „einen“ Stecklinge im Beet weiter auseinanderzusetzen als die anderen, weil jede Pflanze eine gewisse vitale Distanz zur anderen braucht, um atmen und wachsen zu können. So hat auch jeder Mensch in sich ein Gesetz der vitalen Distanz, das er kennen muß, um mit sich und mit anderen richtig umgehen zu können, und gerade in dieser Frage wissen nur wenige Menschen Bescheid. Denn es gibt sehr viele Menschen, die – im Unterschied zu jenen, die aus zeitbedingten Gründen auf einen Raum zusammengepfercht sind, – wohl die äußeren Möglichkeiten hätten, sich zueinander in größerer Distanz zu halten, ohne es aber zu tun. Sie hocken aufeinander, „kleben aneinander“, teils, weil sie von solchen Gesetzen der vitalen Distanz nichts wissen, teils, weil sie solche Dinge wohl wissen oder doch spüren, sich aber aus „inneren Trägheitsgründen“ nicht aufraffen können, mit einem solchen Zustand ein Ende zu machen. Solche Menschen müssen über kurz oder lang mit sich selbst und damit zugleich – wie eben immer – auch mit dem Nächsten auf Grund von Überempfindlichkeitsreaktionen in Widerstreit kommen, weil sie der Notwendigkeit, ihre „seelischen Lungen“ einmal in freier Luft atmen zu lassen, nicht Rechnung tragen.
Nun ist das natürlich nicht bei jedem Menschen gleich, sondern nach Temperament, psychologischem Typus, Konstitution, kurz, nach Art seines Naturells verschieden. Je sensitiver er ist, desto größer wird immer sein Bedürfnis nach vitaler Distanz sein. Es ist wie mit der Musik: Wer der Musik gegenüber von Natur aus sehr stumpf reagiert, der kann ohne Schaden für sein seelisches Gleichgewicht die Geräuschkulisse des Radios stundenlang hinter seinem Rücken dulden. Der für ernste und tiefe musikalische Eindrücke empfängliche Mensch wird nach einem Symphoniekonzert das Bedürfnis nach Distanz verspüren, die ihm die innere Verarbeitung des musikalischen Erlebens gestattet.
Je sensitiver ein Mensch ist, desto intensiver ist sein Kontakt mit anderen Menschen, und je intensiver dieser Kontakt ist, desto größere zeitliche und räumliche Distanz braucht er, um seine Erlebnisse mit anderen Menschen innerlich zu verarbeiten. Tut er das nicht, d. h. respektiert er hier nicht das Gesetz seiner Natur, so „überfrißt“ er sich an Reizen und wird nervös und überempfindlich. – Wir müssen uns damit abfinden, daß wir Menschen alle sogenannte „blinde Flecken“ tragen, welche unserer Vollkommenheit Abbruch tun. – Der Mensch ist nun einmal das „tragische Tier“, ein Wesen, das sich wohl Vollkommenheit vorstellen, sie aber nie erreichen kann, und das bewußt bescheiden werden muß in der weisen Erkenntnis: Jeder hat seine Flecken am Gewand, denn hätten wir sie nicht, wären wir Götter und keine Menschen. Wer sich zu solcher Bescheidenheit sich selbst gegenüber nicht durchringt, der wird von sich und anderen zwangsläufig immer eine Vollkommenheit erwarten, die im Bereich irdischer Unzulänglichkeit schlechterdings niemals möglich sein kann. Wo wir aber von anderen oder von uns selbst Vollkommeneres erwarten, als bei der irdischen Unzulänglichkeit möglich ist, da sind Enttäuschungen mit den entsprechenden Überempfindlichkeitsreaktionen unvermeidlich.
Nun will ich Eure Vigilanz nicht weiter strapazieren und zum Schluß kommen. Ich glaube, meine Zeichnung hat nicht viel mit der Freimaurerei zu tun, aber sehr viel mit den Freimaurern, eben mit Menschen. Ich habe Euch viele Fährten gelegt, aber Finden müßt ihr selber.
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