Selbsterkenntnis, Selbstbeurteilung, Selbstkritik als Rezept, um erfolgreich, gut und recht zu leben?

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„Erkenne Dich Selbst“ ist in der Freimaurerei ein Gebot von Bedeutung. Nach Sokrates ist Selbsterkenntnis Vorbedingung der Sittlichkeit. Lessing nennt sie den Mittelpunkt aller menschlichen Weisheit; Kant aller menschlichen Weisheit Anfang. Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung der Selbstveredelung, der Arbeit an einem selbst.

Dazu eine Geschichte, die Dale Carnegie in seinem viel beachteten und in vielen Sprachen verbreitetem Buch „Sorge Dich nicht, lebe“ unter der Überschrift „Finde Dich selbst und sei Du selbst: Denke immer daran, daß kein anderer Mensch auf Erden so ist wie Du“ folgendermaßen beschrieb: „Ein junges Mädchen wünschte sich sehnlichst, Sängerin zu werden. Doch ihr Gesicht war ihr Unglück. Sie hatte einen großen Mund und vorstehende Zähne. Als sie das erstemal öffentlich sang, versuchte sie, ihre Oberlippe herunterzuziehen, um ihr Gebiß zu verdecken. Sie machte sich lächerlich. Sie konnte auf diese Weise zu nichts kommen. Ein Mann, der das Mädchen auf diese Weise singen hörte und fand, sie hätte Talent, sagte geradeheraus zu ihr: „Hören Sie mal: ich habe Ihnen vorhin zugeschaut und ich weiß, was Sie verbergen möchten. Sie schämen sich Ihrer Zähne.“ Das Mädchen wurde darauf verlegen. Doch der Mann fuhr fort: „Was schadet denn das? Ist es etwa ein Verbrechen, wenn man Raffzähne hat? Versuchen Sie doch nicht, sie zu verbergen! Machen Sie den Mund ordentlich auf, und die Zuhörer werden begeistert sein, sobald sie merken, daß Sie sich nicht genieren.“ Das Mädchen befolgte seinen Rat und ließ ihre Zähne Zähne sein. Von da an dachte sie nur noch an ihr Publikum. Sie machte den Mund weit auf und sang mit solcher Lebensfreude und solchem Schwung, daß sie ein führender Star wurde.

Was besagt diese Geschichte, ganz gleich, ob sie wahr oder erfunden ist? Die Frage, ob man bereit ist, seiner eigenen Natur gemäß zu handeln, ist so alt wie die menschliche Geschichte und so weit verbreitet, wie das menschliche Leben. In der Nichtbereitschaft, sich selber treu zu sein, liegt die verborgene Ursache vieler Neurosen, Psychosen und Komplexe. Dale Carnegie kommt daher zum Schluß: „Ahmt nicht andere nach, Erkennt Euer eigenes Ich und lernt, ihm gemäß zu handeln.“

Dazu gehört jedoch die Selbsterkenntnis, aus der Selbstvertrauen wird. Ich denke, das sind logische Folgerungen von Bedeutung. Demzufolge sollte man jedoch zu einer einigermaßen zutreffenden Selbsterkenntnis kommen. Die Wahrheit über unser Inneres sollte uns freimachen und der erste Weg zur Korrektur von Fehlern sein.

Aber es gibt nun die, wie im weiteren erläutert, nur scheinbar richtige Annahme in unserer Kultur, daß Menschen ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Selbsterkenntnis haben.

Doch nach einer Fülle von psychologischen Forschungsarbeiten bleibt nur der ernüchternde Schluß, daß die Selbsterhöhung in der Regel über die Selbsterkenntnis geht und daß die meisten Menschen verzerrte Vorstellungen über sich selbst geradezu kultivieren. Denn wenn es wirklich einen Drang nach Selbsterkenntnis gäbe, müßten die Menschen wenigstens halbwegs realistische Kenntnisse über ihre Persönlichkeit besitzen. Es wurde jedoch in zahlreichen Studien der University of Washington der Intelligenzquotient von Versuchspersonen gestestet, die zuvor ein Urteil über ihren eigenen Intellekt abzugeben hatten. Das Ergebnis: Zwischen Selbsteinschätzung und Testergebnissen bestand nur ein geringer Zusammenhang. Versuchspersonen, die ein Bild von ihrer Persönlichkeit abgegeben hatten, kamen zu einer gänzlich anderen Einschätzung als ihre ebenfalls befragten Lebenspartner. In anderen Experimenten beurteilten neutrale Beobachter das Aussehen von Versuchspersonen, die ihre Attraktivität vorher selbst eingeschätzt hatten. Das Ergebnis nach fünftausend Beurteilungen war niederschmetternd. Es gab fast gar keine Übereinstimmung zwischen der eigenen und fremden Sicht. Schulkinder haben völlig verzerrte Vorstellungen davon, wie beliebt sie in Wahrheit bei ihren Kameraden sind. Die Liste solcher Studien, die eine Kluft zwischen subjektivem und objektivem Urteil offenbaren, könnte zahlreich fortgesetzt werden.

Ein Teil der Forschung macht also deutlich, daß Menschen entscheidende Aspekte ihrer Persönlichkeit in einem schiefen Licht sehen. Der andere Teil erbringt den Beweis, daß sie unangenehme Wahrheiten mit Bedacht in den Wind schlagen und stattdessen nach Schmeicheleien und beschönigenden Illusionen suchen. Alle Daten, die einen Schatten auf unser Ego werfen, werden mit Skepsis beäugt, während wir schmeichelhafte Beurteilungen oft unkritisch annehmen. Versuchspersonen, die sich nach Gutdünken mit anderen Menschen vergleichen sollten, wählten überdurchschnittlich häufig Kriterien, die ihnen ein besonders günstiges Resultat bescherten.

Das Untersuchungsergebnis kommt also zu dem Schluß: Es gab immer die feste Überzeugung, daß Menschen sich auf lange Sicht ins Unglück stürzen, wenn sie die Wahrheit über sich selbst verdrängen. Die moderne Erfahrungswissenschaft läßt dagegen kaum noch Zweifel daran, daß die meisten von uns mit einem gesegneten Maß an Selbstbeschönigung besser fahren. Die Evolution hat unser Gehirn auf Selbsterhaltung und nicht auf Selbsterkenntnis optimiert.

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