I
„Erkenne Dich selbst!“ Ich frage mich oft, wenn ich diese Worte höre, wie ich das denn machen soll. Das Ritual gibt uns viele Hinweise auf Selbsterkenntnis, ich werde später noch darauf eingehen. Auch gibt es philosophische und andere Literatur, die sich mit dem Thema beschäftigt. Und doch: Wonach soll ich denn schauen, wenn ich „in mich schauen“ und mich selbst erkennen will?
Von einem für mich wichtigen und interessanten Moment auf meinem Weg der Selbsterkenntnis und von den Gedanken, die daraus folgten, möchte ich Euch berichten. Bei einem längeren Gespräch mit einem Bruder kam folgende Frage auf: „Was ist Dir überhaupt wichtig?“ Ich musste länger überlegen, und mit meinen Antworten war der Bruder nicht zufrieden. Er fragte weiter: „Aha. Und warum ist Dir das wichtig?“ Und nach der Antwort wieder: „Warum das?“
Dieser Dialog und die nachfolgenden Überlegungen über die „Wichtigkeit“ waren für mich und mein Verständnis von Selbsterkenntnis sehr erhellend, und ich möchte euch einige meiner Schlussfolgerungen nun darlegen.
II
Je mehr ich über das Gespräch und die Frage nach der „Wichtigkeit“ nachgedacht habe, merkte ich, wie entscheidend die Beantwortung der Frage ist. Nur wenn ich weiß, was mir wichtig ist, kann ich überhaupt erst einordnen, ob das was mir im Leben passiert, überhaupt irgendwie „gut“ oder „schlecht“ ist. „There is nothing either good or bad, but thinking makes it so“ steht in Shakespeares Hamlet.
Bei der Beantwortung der Frage helfen pauschale Aussagen wie: „Meine Familie“, Beruf etc. alleine noch nicht weiter. Interessant ist es hier, hinter die Fassade zu schauen. Warum ist Dir denn Dein Beruf wichtig? Und bei mir und vielleicht auch vielen anderen wird es dann schnell dünn. „Ja, warum eigentlich?“ Außerhalb von gesellschaftlich weiter gegebenen Antworten wie: „Naja, man muss ja schauen, dass Brot auf den Tisch kommt“ oder „man muss ja was machen im Leben“ muss man sich schon anstrengen, eine Antwort zu finden.
Die Frage nach dem „Was“ und „Warum“ der Wichtigkeit bringt dann vielleicht unsere wahre Motivation hervor. Vielleicht macht man etwas, hinter dem man voll und ganz steht. Vielleicht merke ich jedoch auch, dass ich etwas mache, einfach weil es sich eingeschlichen hat, weil „ich es doch schon immer so gemacht habe“. Aber vielleicht hat sich ja mein Leben, mein Umfeld, schlicht: mein Grund für dieses und jenes geändert. Sollte mir dann nicht auch etwas anderes wichtig sein, sollte ich nicht auch etwas ändern?
Bei der Beantwortung der Frage nach der Wichtigkeit kommen auch all die Normen hervor, die man vielleicht auch – die Juristen mögen mir verzeihen – als die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Gesellschaft bezeichnen kann: Nie im Detail gelesen und dennoch akzeptiert; Und es ist ein guter Zeitpunkt, zu hinterfragen, ob man diese Normen, dieses „Soll“, auch erfüllen möchte. Oft wird man die Frage bejahen können oder vielleicht müssen? Manchmal jedoch wird man sich fragen, ob man selber nicht einen anderen Weg gehen möchte.
Und wenn man dann stetig weiter fragt: „Warum ist Dir das wichtig?“ kommt man vielleicht auch an Grenzen. Es werden sehr schnell die Fragen gestellt, mit denen sich Philosophie und Religion schon viele Jahrhunderte beschäftigen. „Warum bin ich hier?“ „Was gibt meinen Leben einen Sinn?“ An irgend einem Punkt kommt man so wohl immer zu den Fragen, auf die es wohl keine Antworten gibt. Dann kommen Glaube und Spiritualität ins Spiel. Mit diesen Fragen muss jeder für sich umgehen. Wichtig ist jedoch meines Erachtens, dass man sich mit ihnen beschäftigt. Antworten sind nicht so wichtig wie die Beschäftigung mit der Frage. Ich selbst habe für mich noch keine Antworten gefunden.
Als Freimaurer geben wir uns einige Vorgaben darüber, was uns wichtig ist beziehungsweise sein sollte, zum Beispiel das Buch des heiligen Gesetzes oder das Wirken der ewigen Gesetzmäßigkeiten.
Auch haben wir im Ritual eine Vielzahl von Vorschlägen darüber, was uns wichtig sein sollte, auf persönlicher, sozialer und auch spiritueller Ebene. Ein gutes Beispiel und schönes Werkzeug ist der 24zöllige Maßstab, eines der Werkzeuge des Lehrlings. Er besagt, dass wir die Zeit, die uns gegeben ist, „mit Weisheit“ einteilen sollen. Was aber ist diese Weisheit? Wir sollten Arbeit; Familie; Schlaf und Erholung; und der „Arbeit an uns selbst“ gleich viel unserer Zeit schenken. Hier muss ich fragen: Warum eigentlich?
Ich nehme an, dass dieser Vorschlag auf Weisheit und der Erfahrung Vieler beruht. Ein in den vier Aspekten ausgeglichenes Leben führt wahrscheinlich zu einem „sinnvollen“ Leben. Trotzdem kann auch diese Einteilung für mich nur als Richtungsweiser und Empfehlung derer dienen, die länger gelebt haben als ich. Den vier Aspekten sollte ich also Beachtung schenken, wenn ich darüber nachdenke, was mir wichtig ist. Letztendlich kann uns aber niemand Vorgaben darüber machen, erst recht nicht die Freimaurerei. Jeder muss jeder sich selber an die Antworten heran wagen, und die können meines Erachtens auch gerne vom ausgeglichenen Ideal des Maßstabs abweichen.
Natürlich wird man jedoch nie eine „vollständige Zielhierarchie der abgestimmten Wichtigkeitspräferenzen“ aufstellen können, und das ist auch gar nicht das Ziel. So eine Aufstellung wäre ein sehr fragwürdiges Ideal, es würde uns zu starr werden lassen und darüber hinaus auch nicht dem menschlichen Geist entsprechen, der wohl eher einem vernetzten System denn einer Struktur klarer Hierarchien und linearer Beziehungen ähnelt.
Wenn man jedoch herausgefunden hat, was denn wirklich wichtig ist, kommen interessante Ziele und Richtungen hervor. Viele Dinge, die geschehen, können eingeordnet werden. Ich kann leichter entscheiden, ob ich für etwas bin oder dagegen, da ich es anhand meiner Vorstellungen darüber, was mir wichtig ist, relativ gut einordnen kann.
Liebe Brüder, manchen von Euch werden diese Ausführungen vielleicht selbstverständlich vorkommen („Na, das ist doch alles klar“) oder aber als ziemlich verkopftes Gerede über Selbsterkenntnis. Mir jedoch hat die an mich selbst gerichtete Frage nach dem „Warum“ sehr geholfen. Sie regte für mich wertvolle Denkprozesse an.
Das Stellen der Fragen „Was ist Dir wichtig? Und Warum?“ und ihre Beantwortung sind meines Erachtens also ganz wesentliche Bestandteile der Selbsterkenntnis. Aber sind sie ausreichend? Nein, sicher nicht. Bei einem Beantwortungsversuch der Frage kann man es nicht beruhen lassen.
III
Auf die Frage: „Bist Du ein Freimaurer?“ folgt die Antwort: „Meine Brüder Meister und Gesellen erkennen mich dafür.“ Was aber erkennen denn die Brüder? Meine Selbsterkenntnis? Das, was mir wichtig ist? Mein Denken? Nein – dies sind Dinge, die erst einmal in meinem Kopf vorgehen. Was meine Brüder erkennen sind meine Handlungen, im weiteren Sinne. Sie erkennen meine Worte, meine Bewegungen, meine Taten. Meine Gedanken lesen kann – wahrscheinlich – keiner von ihnen.
Bei der freimaurerischen Losung: „Erkenne Dich selbst“ habe ich mich nicht nur gefragt „Wie?“, sondern auch: „Und was dann?“ Was folgt denn aus der Selbsterkenntnis? Meines Erachtens wird diesem Aspekt zu wenig Beachtung geschenkt. Es wird oft automatisch angenommen, dass man handelt beziehungsweise sich ändert, sobald man sich selbst erkennt.
Ich denke jedoch, dass dies beileibe nicht der Fall ist. Wir verändern uns nicht automatisch; dies ist ein eigener, schwieriger Prozess. Der Handlungsaspekt wird meines Erachtens oft unterschätzt. Denn was ist Selbsterkenntnis, wenn man nicht dem entsprechend handelt? „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ sagt Erich Kästner.
Denken ist leider nicht automatisch Handeln, wie viele Studien belegen und wie ich auch aus eigener Erfahrung weiß. Handeln ist harte Arbeit. Handeln ist wichtig. Daher muss ich auch aktiv daran arbeiten, dass ich nach dem, was ich als wichtig erkannt habe, auch lebe, also auch dementsprechend handele. Dem Denken ist irgendwann genug getan, es müssen Taten folgen.
Reflexion über das Wichtige alleine, ohne dem entsprechendes Handeln, ist entweder Zeitverschwendung oder aber eher Fluch als Segen. Denn wenn ich nur denke, dass ich mich selbst erkannt habe – mithin also auch weiß, was mir wichtig ist – aber nicht entsprechend handele, komme ich dem nahe, was eine kognitive Dissonanz genannt wird. Im geringsten Fall bedeutet das dann eine Menge eher nutzloser Fragen, die im Kopf herum schwirren.
Die Beantwortungsversuche auf die Frage nach dem Wichtigen müssen gelebt und getestet werden, genau so, wie sich eine wissenschaftliche Theorie der Realität und der Kritik durch Kollegen stellen muss. Hier zählt auch nicht die Schönheit einer Idee oder eines Gedankenmodells, sondern ob diese der scharfen Klinge der Realität stand halten können.
Wie schwer es aber ist, Dinge tatsächlich umzusetzen, hat vielleicht derjenige schon einmal gemerkt, der sich zum ersten Mal eine Rede ausdenken, und diese dann auch tatsächlich zum Beispiel vor mehreren Dutzend Menschen frei halten musste. Das Umsetzen stellt sich manchmal als – gelinde gesagt – recht schwer heraus.
„Spectemur agendo“ – an ihrem Handlungen soll man sie erkennen. Auch dies ein Wahlspruch einiger Freimaurer. Wir sollen zurück gehen in die Welt, und uns als Freimaurer bewähren. Gedanken sind schön, man kann viele haben und sie austauschen, Gedankenmodelle aufstellen und sie wieder verwerfen: sie sind virtuell. Unsere Handlungen, unsere Worte, Bewegungen und dergleichen werden jedoch manifest, sie werden real.
Erst unsere Handlungen und dann das „Feedback“, das aus ihnen folgt, zeigen uns also, was unsere Gedanken wert sind. Erst bei dieser Prüfung merkt man, ob alles richtig bedacht wurde. Auch merkt man dann die Konsequenzen, die die Handlungen haben.
Das zu tun, was einem wichtig ist, bedeutet daher oft, etwas zu wagen. Im Gegensatz zum Denken bedeutet Handeln immer, etwas zu wagen. „To live is to risk – wer nichts wagt, der lebt auch nicht.“ Wenn man das tut, was einem wichtig ist, sollte man die Konsequenzen seines Handelns auch nicht fürchten und zu ihnen stehen.
In Bezug auf das „Wichtige“ kommen dann vielleicht auch Dinge, vielleicht soziale oder andere Zwänge, hervor, die wir vorher nicht bedacht haben – oder vielleicht auch nicht beachten wollten. Handeln selbst ist also auch wieder Selbsterkenntnis, und das umso mehr, wie auch eine Reflexion erfolgt.
Nun kann man fragen: Muss man wirklich die ganze Zeit reflektieren? Die Fähigkeit zur Reflexion ist etwas, das uns Menschen wahrscheinlich vor allen anderen auszeichnet. Ich meine, wir sollten diese Fähigkeit auch in Bezug auf uns selbst einsetzen, ohne natürlich das Hier und Jetzt wegen zu vieler Gedanken zu lange zu verlassen.
IV
Zusammenfassend denke ich also, dass das konsequente Fragen nach dem Wichtigen und reflektierendes Handeln helfen können, die Frage nach dem „Wie“ der Selbsterkenntnis zu beantworten. Nach dem, was uns wichtig ist, sollten wir uns selbst fragen. Und nach den Antworten sollten wir unsere Handlungen ausrichten – und mit den Konsequenzen leben. Und wenn man handelt, merkt man noch mehr, was einem denn wirklich wichtig ist. Ein Zyklus entsteht. Denken und Handeln werden dann vielleicht eine Einheit.
Eine solche Einheit zeichnet meines Erachtens große Menschen – reale und fiktive – aus. Diese handeln entsprechend dem, was ihnen wichtig ist. Denken und Handeln sollten eins werden – dort liegt meines Erachtens ein Ideal, einer der Schlüssel zur Vervollkommnung des Menschen.
Eine Einschränkung muss ich jedoch machen: Meine Überlegungen gehen davon aus, dass wir uns wirklich ändern können, dass wir einen freien und bewussten Willen haben. Ist das so? Ist die Idee der „bewussten Entscheidungen“ vielleicht nichts als eine Illusion, die uns unser Gehirn vorgaukelt, damit wir ob der Komplexität des Lebens nicht verrückt werden? Vielleicht – Ich denke jedoch schon, dass man sich ändern kann. Wenn auch nicht in allen Bereichen, so doch in einigen.
So einfach sich der obige Zyklus anhört, ich kann für mich sagen, dass seine Verwirklichung extrem schwer ist. An manchen Stellen erreiche ich eine Annäherung an das Ideal, an anderen scheitere ich regelmäßig – Selbsterkenntnis wird dort eher zum Fluch für mich. Ich hoffe jedoch, dass ich mich weiter dem Ideal entgegen bewegen werde. Auch hoffe ich, dass das Teilen meiner Gedanken auch Euch zum Nachdenken angeregt hat.
Zum Abschluss möchte ich daher auch Dich, meinen Bruder, fragen; ohne an Dir zu arbeiten, sondern um mehr über Dich und dadurch vielleicht auch über mich zu lernen:
Was ist Dir wichtig, mein Bruder?
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