Die Selbsterkenntnis als philosophischer Begriff begleitet uns Menschen bereits aus der Antike. Die Inschrift Gnothi seauton (γνῶθι σεαυτόν) „Erkenne Dich selbst“ schmückte den antiken Apollontempel als eine der apollonischen Weisheiten.
Der griechische Philosoph Sokrates interpretierte diesen Leitsatz und erkannte den zwingenden Zusammenhang zwischen der Selbsterkenntnis und der daraus resultierenden, positiven Wirkung auf die Interaktion zwischen den Menschen untereinander und der Menschen mit der Gesellschaft.
„Mein Bester, vergiß nicht, dich selbst zu erkennen, und mache nicht den Fehler, den die meisten Menschen machen! Denn die meisten sind darauf aus, vor den Türen anderer zu kehren und kommen nicht dazu, vor ihrer eigenen zu kehren. Versäume also dieses ja nicht, sondern bemühe dich vielmehr, auf dich selbst zu achten und vernachlässige ja nicht den Staat, wenn du etwas zu seiner Besserung beitragen kannst. Denn wenn es mit diesem gut steht, so werden nicht nur die übrigen Bürger, sondern auch deine Freunde und du selbst den meisten Nutzen davon haben.“
Sokrates
In der Bibel finden wir ebenfalls den Hinweis auf die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis in den Worten Jesus.
„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“
Bibel
In der Freimaurerei hat die Selbsterkenntnis eine zentrale Bedeutung. Sie ist der erste Schritt auf dem Weg, zu einem besseren Menschen zu werden. So arbeitet jeder Freimaurer sinnbildlich mit dem Spitzhammer, seinen unvollkommenen Stein formend.
Der freimaurerische Spitzhammer zusammen mit dem unbehauenen Stein stehen für mich zuerst als Sinnbild der Lehrlingsarbeit. Wie der Mauerer-Lehrling zu dem Spitzhammer greift, um dem rohen, unbehauenen Stein den gewünschten Umriss zu geben, so ist ein Freimaurer-Lehrling bemüht, an sich selbst zu arbeiten, um zu einem besseren Menschen zu werden. Dabei nutzt er die Selbsterkenntnis als Werkzeug. Daraus folgend, sollte der vollkommene Zustand eines Steins ein „behauener Stein“ sein, der sich im Tempel der Humanität mühelos einfügen lässt.
Hierzu denke ich, dass das Streben nach Vollkommenheit ein hehres Ziel ist, welches in der kontinuierlichen Arbeit an sich selbst, seine eigentliche Vollendung findet und nicht in der angestrebten Vollkommenheit. Deshalb sehe ich diese, aus meiner Sicht nie endende, Arbeit an sich selbst als oberste Pflicht eines jeden Freimaurers, ob Lehrling, Geselle oder Meister.
Was soll genau das Ziel des Spitzhammers sein oder mit anderen Worten wie könnte unser Tempel, den ich als Metapher für die ideale Gesellschaft annehme, aussehen?
Einerseits könnte man denken, wenn man sich eine Konstruktion aus behauenen Steinen als Sinnbild einer Gesellschaft vorstellt, dass die Aufgabe des Spitzhammers sei, einen viereckigen, kubischen Stein zu schlagen, der sich mit vielen anderen ähnlichen Steinen reibungslos zusammenfügen lässt. Beeindruckende Konstruktionen wie die Klagemauer in Jerusalem oder Castel del Monte in Italien sind exzellente Beispiele dafür. Treibt man diesen Gedanken auf die Spitze, würde der freimaurerische Tempel der Humanität aus glatten, makellosen Steinen gebaut werden, die sich nicht oder geringfügig untereinander unterscheiden.
Anderseits könnte der Spitzhammer, unter Berücksichtigung der Umgebung in der sich der zu bearbeitende Stein befindet, auf die noch herumliegenden Steine ebenfalls achten und den Stein so bearbeiten, dass seine Ecken und Kanten ideale Umrisse für die eigene Umgebung erhält. Das Resultat einer solchen Arbeit würde sein, dass alle Steine den eigenen Charakter behalten und damit ein bewegtes, einzigartiges Muster erzeugen würden, wie wir in vielen Konstruktionen aus dem Mittelalter bewundern.
Aus dem Vorherigen entwickelt sich die Frage: Soll der Freimaurer auf die eigene Individualität größtenteils verzichten zugunsten eines makellosen Tempels, oder vielmehr versuchen, die eigenen Ecken und Kanten in die Gesellschaft und zugunsten dieser zu integrieren?
Die Menschheit lebt in unterschiedlichen Gesellschaften und Gesellschaftsformen, so soll der Freimaurer der den Spitzhammer führt, auf die eigene Umgebung achten und selbst entscheiden, welche Form des Steins für ebendiese oder jene Gesellschaft vonnöten ist. Ich sehe diesen Vorgang als Teil der Selbsterkenntnis; Ein Freimaurer soll in der Lage sein, die eigenen Ecken und Kanten zu schlagen, in Relation zu den Menschen mit denen er am engsten ist bzw. zu der Gesellschaft in der er lebt.
Ein gut geführter Spitzhammer ist in der Lage, selbst extrem schwierige Kanten zu bearbeiten; Der Freimaurer muss lediglich geduldig und beharrlich arbeiten, um sein Werk zu meistern, also damit er zu einem besseren Menschen werden kann. Gleichzeitig ist dieser Zustand aus meiner Sicht nie vollkommen, er ist sogar umkehrbar. Der Mensch ist sehr volatil in seinem Wesen, erleidet Rückschläge und ist als Teil der Gesellschaft von dieser geprägt und wird im Guten sowie im Schlechten von seiner Umgebung beeinflusst. So kann der Stein hin und wieder herunterfallen und seinen hart erarbeiteten Schliff verlieren. An so einer Stelle geht die Arbeit dann weiter: Der Spitzhammer muss wieder her und der Lehrling sowie auch der Geselle oder Meister werden die vom Fall angerichteten Schäden beseitigen.
Wie ich bereits sagte: Die Arbeit an sich selbst findet in unserem Leben nie ein Ende, der stetige Wechsel fordert die Selbsterkenntnis immer wieder heraus und macht den Spitzhammer zum permanenten Lebensbegleiter aller Freimaurer.