Angst und Mäßigung

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1.

  • Ich glaube, daß der Mensch sich ändern kann, und daß er kein Sklave seiner Anlagen und Ängste sein muß.
  • Ich glaube, daß es meine Aufgabe als Mensch und Freimaurer ist, Vollkommenheit und Vollständigkeit anzustreben.
  • Ich glaube, daß die Suche nach Wahrheit meine Pflicht, die Erkenntnis von Unwahrheit meine Möglichkeit, die Erkenntnis von Wahrheit mein „Nordstern“ ist

Dies sind wahrhaft hohe Ziele. Ich nehme nicht an, sie in diesem Leben zu erreichen. So suche ich nach einem Modell, einer Tugend, die das hohe Ziel der Vollkommenheit und Vollständigkeit berücksichtigt ebenso wie die Tatsache, daß ich fehlbar bin, daß ich mich als Prozess begreifen darf, kurz: daß ich nicht schon vollkommen sein muss. Ich suche eine Tugend für den Alltag, ein Werkzeug, daß ich an meine Taten, Wünsche und Gedanken legen kann: vernünftig und praktisch anwendbar.

Werkzeug? Anlegen? Das passende Symbol?
Hilft mir die Beschäftigung mit dem Symbol des 24-zölligen Maßstabs weiter?

Dem Gesellen soll dieses Symbol laut Katechismus II nicht mehr nur als Werkzeug, seine Zeit wohl einzuteilen (in 4 mal 6 Stunden) gelten. „Der Geselle soll sich anhand des Maßstabes eine richtige Kenntnis der Größen verschaffen“.

Ist die Einheit des Maßstabes die objektive Wahrheit?

Es heißt, die Aufgabe des Lehrlings sei es, sich zu befreien von der Knechtschaft der Vorurteile. Entschuldigung! Das Mass des Maßstabes mag objektiv sein- aber ich, der Betrachtende, obgleich Geselle, bin es ja nicht. Ich bin subjektiv in meinen Urteilen, Gedanken, Bildern, Wünschen. Was kann mir ein objektives Instrument helfen, wenn ich nur subjektiv lesen, wenn ich nur meine Wahrheit lesen kann? Dann kann ein solches Instrument in meinen Händen doch geradezu gefährlich für meine Mitmenschen sein!

Komme ich so weiter? In der Annahme der Objektivität des Maßstabes kann ich mir meiner, unser aller Subjektivität bewußt werden. So kann ich mir meine Vorurteile und Ängste wie auch die meiner Mitmenschen deutlich machen. Ich glaube, daß ich um so besser sehen kann, je weniger Vorurteile ich habe. „Der Maßstab“, so heißt es,“ ist für den Gesellen der ernste Prüfstein, das Werkzeug in der Erforschung der Wahrheit.“ Zumindest aber in der Erforschung der Erkenntnis der Unwahrheit … wage ich anzufügen.

2. Was kann denn nun für mich die Einheit des Maßstabes sein?

Ich bin gewiss nicht der Erste, dem die sprachliche Ähnlichkeit auffällt: Das rechte Mass- die Mäßigung. In diesem Stadium meiner Entwicklung bin ich gewillt, den 24zölligen Maßstab für mich als „Das Werkzeug der Mäßigung“ auf dem Weg zur Ausgeglichenheit zu betrachten.

Ich kann aus eigener Erfahrung nicht wirklich sagen, wie sich Vollkommenheit anfühlt; aber ich glaube, daß mir die irdische Tochter der Vollkommenheit, die Erfahrung der inneren Ruhe, der Mitte, die Ausgeglichenheit schon begegnet ist; das fühlte sich so gut an und kam mir dabei so vernünftig vor, daß ich diesen Zustand der Ausgeglichenheit gern immer hätte. Ich glaube, daß es mir in diesem Zustande möglich sein kann, die Dinge um mich herum eher so zu sehen, wie sie sind, von der Knechtschaft der eigenen Vorurteile befreit , um dann besonnen entscheiden und reagieren zu können.

Bevor ich ein Modell der Ausgeglichenheit vorstellen möchte, will ich den Begriff der Mäßigung erläutern.

3. NE QUID NIMIS – Nichts Allzusehr!

Massvoll sein heißt: Mit wenig zufrieden sein können. Entscheidend ist dabei nicht das „wenig“, sondern das „können“: Die Genügsamkeit.
Es gilt, Unabhängigkeit zu bewahren, damit man frei geniessen und frei entscheiden kann. Es geht gar nicht darum, WENIGER, sondern BESSER zu geniessen.
Es gilt, sagt Montaigne, „die lebensnotwendigen Wünsche in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen.“ Spinoza führt aus: „Die Mäßigung ist eine gesunde Behauptung unserer Herrschaft über das Leben. Die Herrschaft unserer Seele über die vernunftwidrigen Regungen unserer Affekte und Gelüste. Die Mäßigung ist das Gegenteil des Überdrusses, nicht des Genusses!
Unser Körper ist keineswegs unersättlich: Die Grenzenlosigkeit der Wünsche, die uns ständig gierig, unzufrieden und unglücklich sein lässt, ist eine Krankheit unserer Phantasie. Unsere Träume sind grösser als unser Bauch. Der Weise setzt den Gelüsten ebenso wie der Furcht eine Grenze.“

Also: Mässigkeit ist vernünftig. Ausgeglichenheit erstrebenswert und beglückend. Was aber macht mich unausgeglichen? Furcht hieß es eben bei Spinoza. Ich sage: Angst.

4. Was hält den Kosmos im Gleichgewicht?

Kann ich bei meiner Suche nach Ausgeglichenheit davon lernen?

Ich will Euch, meine Brüder, ein Modell des Menschlichen „So-Seins“ vorstellen, das, ausgehend von den vier Bewegungen, die unser Sein bestimmen, die vier grundsätzlichen Arten von Angst beschreibt, die uns aus dem Gleichgewicht bringen. Dieses Modell wird in dem Buch „Grundformen der Angst“ von Fritz Riemann ausführlich dargestellt.

Vier Bewegungen, Vier Ängste, vorher vier Segmente des Maßstabes – Warum immer vier, fragt da der an die Drei gewöhnte Freimaurer.

Was symbolisiert denn in der Überlieferung die Zahl Vier?

„Die Zahl Vier“, klärt mich das Lexikon des Geheimwissens auf, „ist seit alters her ein Symbol unserer irdischen Wirklichkeit. Nach antiker Überzeugung schuf Gott aus dem Nichts zunächst die vier Elemente, aus denen er die gesamte Schöpfung wob. Deshalb ist alles, was auf der Erde existiert, eine Mischung aus Feuer, Wasser, Erde und Luft. Vier ist aber auch die Zahl, die unsere zeitliche und räumliche Ordnung strukturiert. Wir gliedern das Jahr in vier Jahreszeiten, das Leben in vier Abschnitte und den Horizont in vier Himmelsrichtungen. Die Elemente haben vier erste Eigenschaften: Kälte, Wärme, Trockenheit und Nässe. Auf vier Grundbestimmungen basiert die Geometrie: auf Punkt, Linie, Fläche und Raum. Auf vier Grundbestimmungen ruht die ganze Natur: Substanz, Qualität, Quantität und Bewegung. Die Vier wird natürlich durch das Quadrat symbolisiert. Die Menschen haben die Neigung, ein Ganzes selbstverständlich immer in vier Segmente zu teilen.“ So eben auch: Vier Bewegungen: Rotation, Revolution, Flieh- und Schwerkraft. Die Erde dreht sich um die eigene Achse, führt also die als Eigendrehung bezeichnete Rotation aus. Gleichzeitig umkreist die Erde die Sonne, bewegt sich also um das Zentralgestirn unseres engeren Weltsystems, welches als „Revolution“ = Umwälzung bezeichnet wird. Hinzu kommen nun noch zwei weitere gegensätzliche Bewegungen: Die Schwerkraft hält unsere Erde zusammen, richtet sich zentripetal nach innen, nach der Mitte strebend, festhaltend, während die Fliehkraft zentrifugal, der Mitte entstrebend, nach außen wirkt. Die Ausgewogenheit dieser vier Impulse garantiert die gesetzmäßige, lebendige Ordnung, die wir Kosmos nennen. Das Überwiegen oder das Ausfallen einer solchen Bewegung würde die große Ordnung stören, bzw. zerstören.

Mir ist einleuchtend, daß, was im Großen für die Welt, auch im Kleinen für den einzelnen Menschen gil; daß der Mensch die beschriebenen Impulse als unbewußte Triebkräfte und zugleich als latente Forderungen in sich trägt. Ich denke mir die Form eines Quadrates. Vier Kräfte, die auf mich einwirken.

Nach Agrippa von Nettesheim entspricht der Schnittpunkt der Diagonalen in einem Quadrat dem Nabel des Menschen. In seiner Mitte zu sein heißt also von jeher, ausgeglichen zu sein. Ich nehme an, daß sich mein Leben im Quadrat zwischen den Eckpunkten dieser Bewegungen abspielt und daß jenes, was mich aus der Mitte dieses Quadrates heraustreibt, eben als Angst bezeichnet werden kann. Nun seien diese Ängste in ihren Extremen, also quasi die Eckpunkte meines gedachten Quadrates, benannt.

5.

Die ersten beiden Grundformen der Angst:

Sich selbst zu verlieren oder aus der Gemeinschaft herauszufallen:

Das erste Angst-Paar besteht aus der Angst des schizoiden Menschen und des depressiven Menschen.
Der schizoide Mensch: Die Erde rotiert um sich selbst und hat somit das Zentrum der Rotation in sich. Übertragen auf die menschliche Psyche bedeutet das, daß der Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen um sich selbst kreist; dabei versucht er die Rotation um andere Menschen so weit wie möglich zu vermeiden. Seine typische Grundangst liegt darin, sich vor Selbsthingabe zu fürchten,die er als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt. Er ist beherrscht von der Angst um seine Existenz.
Der depressive Mensch: Die Erde umkreist die Sonne. Das Zentrum der Rotation liegt außerhalb der Erde.

Genau dieser Effekt tritt auch bei einigen menschlichen Persönlichkeiten auf: Sie rotieren im übertragenen Sinne um andere Menschen herum. Dabei versuchen sie, die Rotation um sich selbst herum so weit wie möglich zu unterbinden. Diese Menschen sind im weitesten Sinne als Gruppenmenschen zu bezeichnen. Die zugrundeliegende Angst ist die Angst vor der Selbstwerdung, die als Ungeborgenheit und Isolation erlebt wird. Die Verlustangst beherrscht ihn.

Die nächsten beiden Grundformen der Angst: Die Angst vor der Wandlung des Vergänglichen und die Angst vor der Notwendigkeit.
Das zweite Angst-Paar besteht aus dem zwanghaften Menschen und dem hysterischen Menschen.
Der zwanghafte Mensch strebt die Dauer an, möchte sich in dieser Welt häuslich niederlassen und die Zukunft planen. Sein Wunsch ist eine feste, verläßliche Zukunft. So wie die Zentripetalkraft möchte er alles verdichten, auf dass es sich nicht mehr bewegt, damit eine Stabilität gegeben ist. Seine Angst betrifft die Vergänglichkeit, das Irrationale und Unvorhergesehene. Alles Neue ist für ihn ein Wagnis, und planen ins Ungewisse ist ihm ein Greuel. DIE GEWISSENSANGST, DIE ANGST vor SCHULD und STRAFE herrscht vor.
Der hysterische Mensch: Er ist immer bereit, sich zu wandeln, Veränderungen und Entwicklung zu bejahen und alles nur als einen Durchgang zu erleben. Das Neue hat für ihn einen unwiderstehlichen Reiz, das Unbekannte zieht ihn magisch an. Er kann Rollen spielen, aber ihm fehlt wirkliches Selbstbewusstsein. Damit verbunden ist die Angst vor Ordnung, Notwendigkeiten, Regeln und Festlegungen. Sein Freiheitsdrang schlägt um in die Angst vor dem Tod als Erstarrung. DIE ANGST vor der Ablehnung als ganzes Selbst herrscht vor.

Diese vier beschriebenen Persönlichkeitstypen stecken allesamt in uns.
Das Ziel ist eine Ausgewogenheit zwischen den verschiedenen Aspekten: Wer genauso schizoid wie depressiv ist und genauso zwanghaft, wie hysterisch wird von Fritz Riemann als ein seelisch gesunder Mensch beschrieben; als ein wirklich ausgeglichener Mensch also.

6.

Die Angst vor der Bedrohtheit unseres Daseins in der Welt, die Angst vor Trennung und Verlust, die Angst vor Schuld und Strafe und schließlich die Angst vor der Bedrohtheit unseres Selbstwertgefühls und unserer Identität – das sind die Grundängste, die unvermeidlich zu unserer menschlichen Existenz gehören.

  • Jedem von uns begegnet die Angst vor der Hingabe in einer ihrer verschiedenen Formen. Denn jedes vertrauende sich Öffnen, jede Zuneigung und Liebe kann uns gefährden, weil wir dann ungeschützter und verwundbarer sind, etwas von uns selbst aufgeben müssen, uns einem anderen ein Stück ausliefern. Deshalb ist alle Angst vor der Hingabe verbunden mit der Angst vor einem möglichen Ich-Verlust.
  • Jedem von uns begegnet auch die Angst vor der Ich-Werdung, vor der Individuation, die immer auch Einsamkeit bedeutet. Je mehr wir wir selbst werden, um so einsamer werden wir.
  • Jedem begegnet die Angst vor der Vergänglichkeit auf seine Weise; immer wieder erfahren wir, daß etwas zu Ende geht, aufhört, plötzlich nicht mehr da ist. Je fester wir etwas halten, beibehalten wollen, um so mehr erliegen wir dieser Angst.
  • Jedem von uns begegnet schließlich auch die Angst vor der Notwendigkeit, vor der Endgültigkeit, der Festlegung. Je mehr wir eine unverbindliche Freiheit anstreben, desto mehr müssen wir die Konsequenz und die Grenzen, welche die Realität uns setzt, fürchten.

Meine Ängste sind meine inneren Gesellen, die mich auf die Stellen hinweisen, an denen die Arbeit an meinem rauhen Stein vonnöten ist. Sie deuten immer dorthin, wo es am meisten wehtut. „Jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht“, heißt es, und jedes Ausweichen vor Angst ist eine Niederlage, die uns schwächt.
Die Grundformen der Angst verlieren wir nie. Aber ich glaube, daß sie in sich und durch sich ihren Ausgleich haben; sie können im Gleichgewicht sein. So ist meine erste Aufgabe, mich nicht von meinen Ängsten beherrschen zu lassen. Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeutet natürlich nichts Statisches, was wir ein für allemal erreichen und dann vollkommen ausgeglichen sind. Es ist dauernde Arbeit.

Im höchsten Haus der Welt in Taipeh ist eine gewaltige freischwebende Kugel in der Mitte seiner Turmspitze aufgehängt, um die Bewegungen, denen das Gebäude ausgesetzt ist, auszugleichen. Diese Kugel ist, auf das Bild meines Lebensquadrates angewandt, die Mäßigung, aufgehängt an meiner Vernunft und meiner Sehnsucht nach Vollkommenheit.

Ich glaube, daß die Art und Intensität der jeweils erlebten Angst abhängig ist von unserer Anlage wie auch von den Umweltbedingungen, in die wir hineingeboren werden. Unsere Ängste haben eine Geschichte und sind sehr durch unsere Kindheit bestimmt. So ist Angst bei jedem Menschen durch Anlage und Umweltbedingungen gefärbt.
Der weitgehend gesunde Mensch, der in seiner Entwicklung nicht gestörte, wird im allgemeinen mit den Ängsten umgehen können. Der in seiner Entwicklung gestörte Mensch erlebt Ängste häufig sowohl intensiver als auch häufiger, und eine der Grundformen der Angst wird bei ihm das Übergewicht haben.

Ich bin auch Freimaurer geworden, um ein empfundenes Zuviel an Selbstumkreisung einerseits und Angst vor Ordnungen und Notwendigkeiten andererseits ausgleichen zu können, bin von der Tendenz her also schizoid/hysterisch. In der Freimaurerei finde ich nun den Kreis von Brüdern, die mein Brudersein und mein Engagement für die Bruderschaft fordern, ohne mir meine Einzigartigkeit abzusprechen. Statt dessen konnte und kann ich die Erfahrung der Einzigartigkeit anderer machen, ohne mich in meinem Selbst bedroht zu fühlen. In der rituellen Arbeit erlebe ich eine Ordnung ohne Dogma, auf die ich mich einlassen kann und lerne dabei, mit meiner Angst vor Festlegung umzugehen.

Ich glaube, daß wir potentiell vier Möglichkeiten haben, uns einer Forderung oder Aufgabe gegenüber zu verhalten:

  • Wir können uns betrachtend von ihr distanzieren.
  • Wir können uns liebend mit ihr identifizieren.
  • Wir können sie wie ein Gesetz auf uns nehmen
  • oder sie unseren Wünschen gemäß umzuwandeln versuchen.

Diese vier Antwortmöglichkeiten zur Verfügung zu haben, sie bei Entscheidungen einbeziehen zu können, ist das Zeichen von Lebendigkeit und Ausgeglichenheit.

Ich nehme unseren 24-zölligen Maßstab und falte ihn zu einem Quadrat. In dieses Quadrat stelle ich mich (und / oder meine Mitmenschen.) An dieses Modell lege ich das Winkelmaß und überprüfe es auf seine Rechtwinkligkeit: Ich sehe die Gesetze der Gerechtigkeit und Menschlichkeit erfüllt.

Bei meiner Aufnahme habe eine Spitze des Zirkels auf mein Herz gesetzt bekommen. Im Katechismus wird das als Aufforderung zur Menschenliebe in den uns gegebenen Grenzen erklärt. Ich ziehe mit dem Zirkel von meiner Mitte ausgehend einen möglichst großen Kreis innerhalb der Grenzen meines Quadrates. Die Eckpunkte des Quadrates werden dabei ausgeklammert; das übersetze ich so: Wer von einer der beschriebenen Grundängste im Extremmaße beherrscht ist, spürt keine Liebe und kann auch nicht lieben.

Ich bin auf der Suche nach einer Umgebung, in der zwei Aspekte meines Seins Anregung, Nahrung und Entfaltung finden können:

Der zeitliche und der ewige Aspekt des menschlichen Seins:

Der zeitliche Aspekt meint mich als zeitlich begrenztes Wesen, als einmaliges Individuum mit meinen Anlagen und Prägungen.
Der ewige Aspekt meint meinen Anteil an überpersönlichen Ordnungen sowie am Menschlichen „an sich“. Davon kommt, so glaube ich, meine Ahnung von Vollkommenheit, wie eingangs im Bild vom „Nordstern“ beschrieben. In der Besinnung auf das uns als Menschen Gemeinsame in einem gesetzmäßigen, lebendigen Kosmos kann ich freier werden von meiner Vergangenheit und der in ihr erworbenen Begrenzungen.

Welcher Mensch nun ist vollkommen?

„Vollkommen und Vollständig ist der, der sowohl die Angst vor der Hingabe verarbeitet hat und sich in liebendem Vertrauen dem Leben und den Mitmenschen öffnen kann; der zugleich seine Individualität in souveräner Weise zu leben wagt, ohne die Angst, aus schützender Geborgenheit zu fallen. Der die Angst vor der Vergänglichkeit angenommen hat und trotzdem sein Leben fruchtbar und sinnvoll gestalten kann und der schließlich die Ordnungen und Gesetze unseres Lebens auf sich nimmt, im Bewußtsein ihrer Notwendigkeit, ohne die Angst, durch sie in seiner Freiheit zu sehr beschnitten zu werden.“

Aber für mich, der ich mit Mäßigung versuchen will, einigermaßen ausgeglichen zu sein, der irrt und unsicher ist, der noch tütenweise Ängste im Kofferraum und Rauhheiten an seinem Steine hat, erscheint es mir wesentlich, überhaupt ein Bild von Vollkommenheit als Zielvorstellung zu haben. Vollkommenheit kann meines Erachtens keine von Menschen erdachte Ideologie sein, sondern eine Entsprechung der großen Ordnungen des Weltsystems auf unserer menschlichen Ebene.
Also: Ich will um mich schauen. Das, was ich da sehe, will ich so frei wie möglich von meinen eigenen Ängsten und Vorurteilen sehen.
Dazu bedarf es der Arbeit und Deutlichmachung meiner Ängste.
Hierbei hilft mir die Mäßigung, um zur Ausgeglichenheit zu kommen, wie das Euch in Grundzügen dargestellte Buch und Modell von Fritz Riemann.

Ich lege das Winkelmass der Vernunft an die Welt.
Aber ich will auch nicht den Satz Voltaires, mit dem ich schon meine vorige Zeichnung beendete, vergessen:

„Wir sind alle voller Irrtümern (und Ängsten).
Vergeben wir uns gegenseitig unsere Torheiten,
das ist das erste Gesetz der Natur.“

* * *

Quellen:

  • Fritz Riemann: Grundformen der Angst, E. Reinhardt Verlag München
  • Franz Carl Endres/Annemarie Schimmel: Das Mysterium der Zahl, Diedrichs Gelbe Reihe
  • Andre Comte-Sponville: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, rororo
  • Baruch de Spinoza: Ethik
  • Christian Jacq: Die 33 Stufen der Weisheit, rororo
  • Katechismus der Gesellen
  • Internationales Freimaurerlexikon
  • Fritz Riemann: Die Fähigkeit zu lieben, Ullstein
  • Rudolf Steiner: Mythen und Sagen – Okkulte Zeichen und Symbole, Steiner Verlag Dornach
  • Miers: Lexikon des Geheimwissens, Goldmann Verlag
  • Montaigne: Essays
  • Jos. Schauberg: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei