„Um uns bleibe der Glanz der Schönheit.“ heißt es in unserem Ritual. Auf den ersten Blick wirkt das wie eine Selbstverständlichkeit. „Schönheit? Na klar doch, unbedingt!“ und dann weiter im Text.
Doch gerade Selbstverständliches muß gelegentlich hinterfragt werden, damit es nicht sinnentleert wird.
Also frage ich: warum nimmt Schönheit in der Freimaurerei einen so wichtigen Platz ein?
Ich denke, es wird für die Beantwortung der Frage nach dem Warum hilfreich sein darzulegen, was Schönheit ist. Um genauer zu sein: was Schönheit im maurerischen Sinne ist; um noch genauer zu sein: was Schönheit im Sinne dieses hier vor Euch stehenden und in sich schauenden Freimaurerlehrlings ist.
Und weil Schönheit so ein sperriges Ding ist; ein Luxusgut? ein nice-to-have? und obendrein auch noch Geschmackssache? werfe ich zuerst einen Blick auf das, was andere Freimaurer zu dem Thema zu Papier gebracht haben, also ins Lexikon (Quelle Lennhoff Posner Binder):
„Schönheit bildet mit Weisheit und Stärke die drei (…) Säulen (…), auf denen der symbolische Bau der Freimaurerei ruht, die drei Tugenden, die ihn befördern. Die Schönheit ziert, schmückt den Bau, den Weisheit leitet und Stärke ausführt (…)“
Der Nicht-Freimaurer wird hier intervenieren und ausrufen „Aber Schönheit ist doch keine Tugend; was soll denn das Gerede?!“ Worauf der Freimaurer entspannt antwortet: oh doch, Schönheit ist im freimaurerischen Sinne durchaus nicht nur körperlich gemeint, sondern auch ethisch und moralisch, die Arbeit an sich selbst vom rauhen zum schön behauenen Stein; womit Schönheit sich tatsächlich zur Tugend qualifizieren kann.
Doch Tugend hin oder her; darum geht es mir heute nicht, sondern wir halten einfach fest: Schönheit hat nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine qualitative Komponente, hier gemeint in Bezug auf Verhalten und zwischenmenschliche Beziehungen.
Diese Unterscheidung bringt mich in der Betrachtung der Bedeutung von Schönheit in der Freimaurerei ein kleines Stück, jedoch noch nicht viel weiter. Besonders diese Kaugummidehnbarkeit des Schönheitsempfindens macht mir sehr zu schaffen.
Denn natürlich gibt es nicht die absolute, für alle und jeden gültige Schönheit! Ein Beispiel: was dem einen als schöne, appetitlich angerichtete Wurstplatte erscheint, empfindet der andere als gefühllos-grausame Ästhetik des Schreckens: Berge totes Fleisch. Doch selbst der vorbehaltloseste Wurstplattenliebhaber wird das ganze Arrangement nicht mehr schön finden und stattdessen äußerst mißtrauisch beäugen, wenn auch nur eine einzige Scheibe Mortadella grünlich schillert. Und das, obwohl es keineswegs unüblich ist, Fleischfarben mit etwas Grün zu akzentuieren. Denken wir etwa an die Stange Lauch oder den beliebten Bund Petersilie. Doch weil Grün eben nicht gleich Grün ist, stellen wir auch hier fest: Schönheit hat nicht nur eine ästhetische, sondern ebenso eine qualitative Komponente.
Doch läßt sich diese qualitative Komponente näher eingrenzen? Oder ist sie total beliebig? Abhängig von meinen Erfahrungen und meinem Gesichtskreis, welcher äußerst unterschiedlich sein kann, je nachdem, ob ich z.B. als Amöbe, Mensch oder Alien auf diese Welt schaue? Auch diese Frage könnte ich sicher mit dem Wurstplattenvergleich untersuchen, aber davon möchte ich jetzt gern mal weg. Also mache ich jetzt einen Schlenz in ein Themengebiet, das mir mindestens genau so nahe und vertraut ist: die Architektur, um der Schönheit ein wenig dichter auf die Spur zu kommen.
Stellen wir uns unser Logengebäude vor. Stattlich steht es am Platze, Bäume davor, Sockel, Säulen und Pilaster, Giebel, Tympanon. Jetzt haben wahrscheinlich alle in etwa das Gleiche vor ihren Augen; das Haus dürfte ja hinreichend bekannt sein. Was wäre nun, wenn dieses Gebäude statt des gewohnten wohlgestalteten Eingangsportals eine schnöde Wand hätte und Ihr ohne Suchen erstmal gar keinen Eingang fändet, weil dieser ein verschämtes Loch am falschen Ort ist? Das schöne Eingangsportal sieht also nicht nur gut aus, sondern seine durchaus nicht zufällige Lage, die Symmetrie und die den Eingang betonende Gestaltung hilft uns bei der Orientierung, dabei, den Eingang ganz wie von selbst zu finden. Ich könnte zahllose weitere Beispiele anführen um zu zeigen, daß der Ausdruck (im Sinne der Gestaltung) und der Gebrauch von kleinen und großen Dingen einander beeinflussen. Das ist für uns im Alltag so selbstverständlich, daß wir nicht lange überlegen müssen, an welchem Ende wir z.B. die Schere anfassen müssen, um sie im Sinne des Erfinders zu benutzen. Worauf ich hinaus will: die qualitative Komponente von Schönheit macht sich in dem Umstand bemerkbar, dass ich mich auf bestimmte Dinge verlassen kann. Dass das, was wie Schere aussieht, bei entsprechendem Gebrauch auch zum Schneiden geeignet ist. Daß das Grüne auf der Wurstplatte kein Gammelfleisch sondern Petersilie ist; daß das, was nach Wohnhaus Kirche Museum aussieht auch Wohnhaus Kirche Museum ist; dass ich den Ausgang einer Wohnung im Flur und nicht im Bad finde und so weiter und so weiter. Ich behaupte, dass ich mit großer Sicherheit Dinge vor allem dann schön finden werde, wenn sie mir nicht erst einmal eine unangenehme oder irritierende Überraschung bereiten, indem sie sich anders verhalten, als ich es erwartet habe.
Damit ist zwar noch lange keine Definition des Schönheitsbegriffs geliefert. Doch ich denke, an dieser Stelle bietet sich dennoch eine gute Gelegenheit, zur Lehrlingssäule, der Säule der Schönheit, zurückzukehren. Denn auch im zwischenmenschlichen Verhalten ist es unbedingt notwendig, dass man sich auf gewisse Dinge verlassen kann.
Eine von der Idee der Humanität geprägte Gesellschaft oder wenigstens allgemein ein wertschätzendes Umfeld wird nur dann entstehen, wenn jeder Einzelne jeden Tag jede seiner Handlungen darauf prüft, ob sie diesem Geist entspricht, also schön ist, oder ob man sich gerade von Ignoranz und Eitelkeit (die ich hier mal als Ausdruck des Hässlichen, des Gegensatzes von Schönheit bemühe) dazu hinreißen ließ, jemandem eine unangenehme Erfahrung zu bereiten. In einem Satz: darum ist uns Freimaurern Schönheit so wichtig: nur wo Schönheit ist, wird gutes Zusammenleben möglich. Schönheit macht das Leben gewissermaßen berechenbar in dem Sinne, dass ich mich in dieser Runde zum Beispiel darauf verlassen kann, eine ehrliche Antwort auf eine Frage zu bekommen, statt ausgelacht, verprügelt oder Schlimmeres zu werden.
„Suchet, so werdet ihr finden. Klopfet an, so wird euch aufgetan. Bittet, so wird euch gegeben.“
Ich fände es schön, wenn es tatsächlich so wäre. Das mag Wunschdenken sein, doch das ist schönes Wunschdenken und Wert, daran zu arbeiten: „Nicht immer ist das Schöne gut, aber immer ist das Gute schön.“ (Jüd. Sprichwort)
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