Rituale sind statisch. Die einzigartige Erfahrung beim wiederholten Zelebrieren von Ritualen – über mehrere Jahre hinweg – ist, dass inmitten des ständigen Wandels das Ritual unveränderlich bleibt. Natürlich kann sich die Bedeutung eines Rituals auf Grund historischer oder persönlicher Entwicklungen ändern, aber das Ritual selbst verändert sich nicht: die gleichen rituellen Gegenstände werden an die gleiche Stelle gelegt, die Abfolge der verschiedenen Teile des Rituals bleibt genau gleich, Schritte, Gesten und Worte haben sich nicht verändert.
Man könnte versucht sein zu sagen, dass Rituale einen bestimmten Augenblick, einen Zustand festhalten, indem sie ihn rituell wiedergeben. Denkt man darüber nach, trifft dies offensichtlich nicht zu. Denn der Augenblick, der Zustand eines Rituals hat so nie existiert. Und also kann man nicht sagen, dass ein Ritual ihn „festhält“. Wenn ein Ritual die Zeit „anhält“, dann bewahrt es nicht – wie eine Photographie – einen Augenblick davor, durch nachfolgende Augenblicke verdrängt zu werden. Ich denke an den Rahmen eines Rituals, die dargestellte Situation. Gewiss, wenn man sich mit der Art und Weise befasst, mit der einige Rituale zelebriert werden, entdeckt man, dass Rituale auch als Dokumente der Vergangenheit behandelt werden, als Zeugnisse für etwas, das einst war. Aber diese historische oder historisierende Betrachtungsweise hindert daran, sich mit dem Problem, wie Zeit innerhalb eines Rituals existiert, auseinanderzusetzen.
Die Rituale der alten europäischen und aussereuropäischen Kulturen, aber auch gewisse moderne Rituale implizieren häufig einen Zeitablauf. Der Betrachter sieht das Vorher, Während und Nachher. Ein Hohepriester geht von einem Ort zum andern, ein Licht wird entzündet, jemand wird hereingeführt. Und das ist selbstverständlich analysiert und kommentiert worden. Dennoch bleibt das Ritual statisch, obgleich es sich auf die dynamische Welt außerhalb seiner Selbst bezieht, und damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieses merkwürdigen Kontrasts zwischen statisch und dynamisch. Merkwürdig, weil er so eklatant ist und als so selbstverständlich hingenommen wird.
Die Choreographie eines Rituals selbst gibt eine Teilantwort, auch wenn sie nicht in Worten formuliert wird. Wann erfüllt ein Ritual seinen Zweck? Nicht, wenn es schließlich die Erinnerung an etwas real Existierendes heraufbeschwört, mit diesem übereinstimmt – so wie der linke Schuh mit dem rechten -, sondern wenn der vorausgesehene ideale Augenblick, vollzogen zu werden, sich für das Ritual erfüllt, so wie es die das Ritual Durchführenden fühlen oder damit rechnen, dass er sich erfüllen soll. Der lange oder kurze Prozess, den das Durchführen einer rituellen Handlung bedeutet, ist der Prozess, in dem diese idealen Augenblicke vorbereitet und gebildet werden. In Wirklichkeit können diese Augenblicke – trotz der choreographischen Idealvorstellung – niemals genau bestimmt werden. Sie können von dem Ritual niemals genau bestimmt werden. Dennoch ist ein Ritual ganz auf diesen Augenblick der Erfüllung hin ausgerichtet.
Ob ein Ritual nun perfekt oder lieblos vollzogen wird, macht keinen Unterschied, was dieses seine „Ausrichtung“ angeht. Der Unterschied liegt vielmehr in dem, was ein Ritual preisgibt: das heißt darin, wie genau der Augenblick seiner Erfüllung, der choreographisch vorausbestimmt ist, mit den Interessen im tatsächlichen Augenblick während der rituellen Handlung übereinstimmt, wenn nämlich die äußeren Umstände seiner Entstehung (Personen, Zeit, Ideologie) sich verändert haben.
Was ich sagen will, wird vielleicht deutlicher durch einen Vergleich mit der Photographie. Photographien sind Dokumente der Vergangenheit. (Dass der Photograph und seine Subjektivität bei dieser Dokumentation eine wichtige Rolle spielen, ändert nichts an der Tatsache, dass Photographien Dokumente sind.) Rituale sind Vorhersagen, die aus der Vergangenheit empfangen werden, Vorhersagen über das, was jene, welche das Ritual durchführen, in diesem Augenblick empfinden. Einige Vorhersagen erschöpfen sich rasch – das Ritual verliert seine Adressaten; andere überdauern.
Läßt sich das nicht auch von den verschiedenen Kunstformen sagen? Sind nicht Gedichte, Geschichten, Musik und Malerei in gleicher Weise auf die Zukunft gerichtet? Dennoch ist es bei Ritualen besonders ausgeprägt.
Erstens weil sie, schon ihrem Ursprung nach, keine spontanen Darbietungen sind. In gewissem Sinne unterstreichen ein Gedicht, das gesprochen, oder eine Musik, die gespielt wird, die Gegenwart des Sprechenden oder Spielenden. Während eine rituelle Handlung, solange sie nicht als Maske oder Verkleidung benutzt wird, immer auf etwas Abwesendes hinweist. Das Ritual kommentiert die Abwesenheit jener Situation in der realen Welt, die rituell nachvollzogen, im Ritual abgebildet wird. Der zweite Grund: Während die rein verbale und musikalische Sprache eine symbolische Beziehung zu dem haben, was sie bedeuten, ist die des Rituals eine mimetische, und das heißt, dass ihr statischer Charakter um so auffälliger ist.
Erzählungen, Gedichte, Musik gehören der Zeit an und finden in ihr statt. Das statische Ritual leugnet die Zeit der realen Welt und findet in einer eigenen rituellen Zeit statt. Daher sind seine Voraussagen über die Zeit um so aufregender.
Ich kann jetzt die Frage stellen, die am Anfang willkürlich erschienen wäre: Wie kommt es, dass die unbewegliche Symbolwelt eines Rituals uns Freimaurer interessiert? Was verhindert, dass ein Ritual, nur weil es statisch ist, unzulänglich ist? Die Erklärung, dass Rituale die Erfahrung ihres Vollzugs voraussagen, beantwortet die Frage nicht. Eher setzt ja eine solche Voraussage ein kontinuierliches Interesse an statischen Ritualen voraus. Warum ist eine solche Annahme gerechtfertigt? Die übliche Antwort ist: Weil Rituale statisch sind, haben sie die Fähigkeit, eine umfassende, „greifbare“ Harmonie herzustellen. Nur etwas, das unbewegt, unveränderlich ist, kann so unverzüglich und so vollständig in eine starke Erfahrung eingehen. Eine musikalische Komposition muss, da sie sich in der Zeit vollzieht, notwendig einen Anfang und ein Ende haben. Ein Ritual hat nur insofern einen Anfang und ein Ende, als dass es eine Lücke im Ablauf der äußeren Welt besetzt: In der Endlosschleife der rituellen Zeit selbst – also in dem, was man durch diese Lücke als mit ritueller Bedeutung aufgeladene Handlung erlebt – gibt es weder Anfang und noch Ende.
Eine solche Erklärung ist zugleich einschränkend und ästhetisch. In diesem auffälligen Kontrast von unveränderlichem Ritual und dynamischem, lebendigem Umfeld muss eine besondere Qualität liegen.
Meine bisherige Argumentation kann uns helfen, diese Qualität dingfest zu machen. Die Unveränderlichkeit des Rituals ist ein Symbol für die Zeitlosigkeit. Die Tatsache, dass Rituale ihr eigenes Vollzogenwerden prophetisch vorausnehmen, hat nichts zu tun mit der Auffassung des modernen Avantgardismus, dass die Zukunft den mißverstandenen Propheten rechtfertigen wird. Was Gegenwart und Zukunft gemeinsam haben – und darauf bezieht sich das Ritual gerade durch seine Unveränderlichkeit -, ist eben dieses Substrat, dieser Untergrund von Zeitlosigkeit.
Bis ins 19. Jahrhundert stellten sich alle Kosmologien – auch die der europäischen Aufklärung – die Zeit auf die eine oder andere Weise als von Zeitlosigkeit umgeben oder durchdrungen vor. Diese Zeitlosigkeit bedeutet einen Ort der Zuflucht und der Anziehung. Man betete sie an. Sie war der Bereich, wohin die Toten gingen. Sie war durch Rituale, Geschichten und Moral innig, aber unsichtbar mit der lebendigen Welt verbunden.
Erst während der letzten gut hundert Jahre – da in vielen Kulturkreisen die Darwinsche Evolutionslehre allgemein akzeptiert ist – leben die Menschen in einer Zeit, die alles enthält und alles wegfegt und für die es keinen Bereich der Zeitlosigkeit gibt. In der galaktischen Perspektive einer solchen Kosmologie sind hundert Jahre weniger als ein Augenblick. Sogar im Blick auf die Menschheitsgeschichte lassen sie sich allenfalls als eine Art Aberration betrachten.
Angesichts dieser Menschheitsgeschichte sehen wir uns mit Wechsel und Wiederkehr konfrontiert. Geschichte ist Veränderung. Was immer wiederkehrt, sind die Subjekte (und Objekte) der Geschichte: das Leben bewußter – denkender und empfindender – Männer und Frauen. Die Wirkung eines solchen Bewusstseins ist wiederum der Veränderung unterworfen und gehört zum Stoff der Geschichte. Auch der Charakter eines solchen Bewusstseins ändert sich. Einige Strukturen allerdings haben sich vermutlich seit dem Entstehen der Sprache nicht verändert. Das Bewusstsein stützt sich auf bestimmte Konstanten in den menschlichen Existenzbedingungen: Geburt, sexuelle Anziehung, Zusammenarbeit in der Gesellschaft, Tod. Diese Liste ist keineswegs erschöpfend; man könnte noch äußere Bedingungen wie Hunger, Lust, Furcht hinzufügen.
Die Entdeckung des 19. Jahrhunderts, dass die Geschichte der Raum menschlicher Freiheit ist, führte unvermeidlich dazu, das Unabwendbare und das Beständige zu unterschätzen. Sie bettete das Beständige in den Fluss der Geschichte ein, das heisst, das Beständige wurde das, was eine längere Dauer hatte als das Vergängliche. Früher hatte man sich das Beständige als das Unveränderliche oder Zeitlose außerhalb des Geschichtsflusses vorgestellt.
Die Sprache der Rituale wurde, eben weil sie statisch war, zur Sprache dieser Zeitlosigkeit. Allerdings sprach sie – anders als die Geometrie – vom Sinnlichen, vom Besonderen und Vergänglichen. Ihre Vermittlung zwischen dem Bereich des Zeitlosen und dem des Sichtbaren und Tastbaren ist umfassender und eindringlicher als die irgendeiner bildenden Kunst. Daher ihre ikonische Funktion und ihre besondere Macht.
Durch Introspektion können wir noch eine Spur von dieser Macht entdecken. Man denke an eine Photographie. Ich habe betont, das Photographien im Gegensatz zu Ritualen Dokumente sind. Daher wirken sie als Ikonen nur, wenn dieses Dokument eine Person betrifft und es eine Kontinuität in diesem persönlichem Leben gibt, die durch dies Photographie wiederbelebt wird. Aber trotz allem sind Photographien statische Bilder und beziehen sich auf das Vergängliche. Nehmen wir ein altes Familienphoto. Man wird feststellen, dass die Vorstellung in zwei Richtungen geht: Einmal ist sie damit beschäftigt, den Anlass zu rekonstruieren, sich an das Datum zu erinnern, und zu gleicher Zeit stellt sie sich die Frage: Wo ist dieser Augenblick geblieben? Diese doppelte Beschäftigung ist der Rest einer Antwort auf die ikonische Macht, welche Rituale einst hatten, als man noch bereit war – kosmologisch und philosophisch -, einen Bereich der Zeitlosigkeit zu akzeptieren. Überflüssig zu sagen, dass diese ikonische Macht der Rituale für verschiedene soziale und historische Zwecke benutzt wurde und dass die ideologische Funktion von Ritualen in der Klassengesellschaft Teil dieser Klassengeschichte ist. Überflüssig auch zu betonen, dass im Laufe der Säkularisierung von Ritualen ihr ikonisches Vermögen häufig vergessen wurde. Aber immer, wenn eine rituelle Handlung tiefe Gefühle auslöst, kommt wieder etwas von diesem Vermögen zur Geltung. Denn hätten Rituale nicht diese Macht gehabt – die Macht, in der Sprache der Zeitlosigkeit über das Vergängliche zu sprechen -, hätten weder die Geistlichkeit noch die herrschenden Klassen irgendeine Verwendung für sie gehabt.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Darwinsche Auffassung von Zeit sich zunehmend auf allen Gebieten durchsetzte, wurde die Vermittlung zwischen dem Zeitlosen und dem Vergänglichen immer problematischer, immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Auf der einen Seite wurde der vergängliche Augenblick immer kürzer, schnelllebiger, während die auf fortwährenden Konsum ausgerichtete Gesellschaft das Statische und Zeitlose ganz aufzuheben trachtet. Auch das Vergängliche wird mehr und mehr geächtet, aus der Gesellschaft weitgehend verbannt. Der Relativität von Zeitlosigkeit ist ihr angestammter Platz im Bewusstsein der Menschen abhanden gekommen.
In den letzten Jahrzehnten machen Schriftsteller und Filmemacher diese ungelöste Problematik der Zeit zum Dauerthema ihrer Arbeiten; man denke zum Beispiel an die – zum Teil verfilmten – Bücher von Douglas Adams, Joanne K. Rowling, Haruki Murakami, J.R.R. Tolkien und viele andere. Bücher und Filme beschwören eine Traum-Zeit, denn Träume sind der einzige Bereich des Zeitlosen, der unbeschädigt geblieben ist.
Inzwischen ist außerhalb der Rituale fast nichts mehr da, das vermittelt werden kann, wenn es nicht konsumiert werden kann. Das Zeitlose ist leer. Das Vergängliche ist zur einzigen Zeit-Kategorie geworden. Durch Pragmatismus und Konsumdenken banalisiert, wird es schliesslich aus der alltäglichen Wahrnehmung möglichst ausgeschlossen oder zum Fetisch einer kurzlebigen Mode. Das Vergängliche, das nicht mehr auf das Zeitlose ausgerichtet ist, wird so trivial und flüchtig wie das Modische. Wenn dem Vergänglichen und dem Zeitlosen keine Koexistenz eingeräumt wird, läßt sich weder in der Kunst noch in der Warenproduktion etwas schaffen, was von Bedeutung wäre.
Eine Anerkennung der Koexistenz von Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit muss nicht notwendig eine Rückkehr zu früheren religiösen Formen bedeuten. Sie setzt allerdings voraus, daß etwas, das im jüngsten europäischen Denken meistens verkannt worden ist, radikal in Frage gestellt wird: die Zeitvorstellung, die der europäische Kapitalismus des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und die wir von ihm geerbt haben. Das freimaurerische Ritual bietet hierzu einen aus vor-Darwinscher Epoche überlieferten und somit authentischen, weltanschaulich-religiös neutralen Zugang an.
Quellen
John Berger Das Kunstwerk Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1992