Die Dynamik der Rituale

Kategorie(n): , , , ,

Was ist ein Ritual? Jeder von uns Freimaurern, dem es vergönnt ist, hier den heutigen Abend gemeinsam mit seinen Brüdern im Tempel zu erleben, wird für sich selbst eine schlüssige und aus subjektiver Sicht auch ganz einfache Antwort auf diese Frage finden. Und doch verbirgt sich hinter dem Begriff des Rituals, losgelöst aus dem Zusammenhang der maurerischen Arbeit, ein komplexer Themenzusammenhang, der Psychologen, Ethnologen und Soziologen seit Jahrhunderten beschäftigt – und die unterschiedlichsten Deutungsansätze hervorgebracht hat. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass alle Rituale, die als solche erkannt werden, im Kern nach völlig identischen Mechanismen funktionieren und sich letztendlich in ihrer Form und Ausführung, nicht jedoch in ihrer Dynamik unterscheiden. Diese Zeichnung wird sich deshalb mit dem Gedanken beschäftigen, warum Fussballfans, Politiker und auch Freimauer in ihrem Tun in mancherlei Hinsicht durchaus vergleichbar sind.

Die Annäherung an eine Deutung des Ritual-Begriffs wird nicht nur durch eine zunächst vage Kenntnis im Vorfeld erschwert, sondern vor allem durch die unüberschaubare Anzahl von über 2 Millionen Suchergebnissen im Internet. Das Spektrum der Inhalte reicht von obsku- ren Angeboten wie beispielsweise „Liebeszauber Online – 7-Tage-Power-Ritual” über seriöse Deutungsversuche bis hin zu profan-esoterischen Heilsversprechen wie den „Handbedufter Ritual”, der die Widrigkeiten des Daseins mit einem Druck auf den Sprühknopf in Luft aufzulösen vermag. Der probate Weg über Wikipedia gibt nur be- dingt Aufschluss, wird dort doch das Ritual als eine (Zitat) „…nach vorgegebenen Regeln ablaufende, feierlich- festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt” bezeichnet. Das ist richtig – aber dennoch greift die Deutung zu kurz. Wer sich auf eine entsprechende Deutung verlässt und den Ritual-Begriff ausschließlich in der mystischen Atmosphäre von Kerzenschein und kontemplativer Verklärung ansiedelt, liegt falsch.

Auch die Annäherung über den historischen Kontext schafft zunächst Verwirrung. Schon die etymologische Herkunft des Begriffes ist unklar: Denkbar ist eine Ableitung aus dem indischen Sprachraum von dem Wort ”rta”, das Ordnung und Wahrheit bedeutet, oder aber die indogermanische Verbalwurzel „ri”, die so viel wie „fließen” bedeutet. Eine unveränderliche kosmologische Ordnung also auf der einen Seite – und im Gegensatz dazu der Bezug auf Wechsel und Dynamik. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Ritual-Begriff zuneh- mend weiter gefasst und fand Eingang in die Soziologie, Ethnologie und Religionswissenschaft. Fast zwangsläufig führte dieser Prozess aber dazu, dass eine scharfe Abgrenzung des Begriffs immer weniger möglich wurde

und sich ein Bedeutungswandel vollzog. Rituale wurden mehr und mehr als kulturelle Sub-Systeme und Handlungskomplexe gesehen, so dass letztendlich jegliches Tun vom Zähneputzen bis zur Krönungsmesse im weitesten Sinne als Ritual bezeichnet wurde.

Erst in den vergangenen 20 Jahren vollzog sich ein Wandel in der wissenschaftlichen Ritual-Theorie, die fortan nicht mehr von einzelnen, separaten Ritualen ausging, sondern die soziologischen oder psychologischen Ritualtheorien miteinander verglich. Diese neue Sichtweise des Ritual-Begriffs eröffnete zum ersten Mal den sinnvollen Ansatz, Rituale als gesonderte Form menschlichen Verhaltens zu verstehen. Grundsätzlich wurde der Ritualbegriff polythetisch aufgefasst, d.h. aus einer Vielzahl von Merkmalen, die sich nicht zwingend überschneiden und gesamthaft gegeben sein müssen. Dennoch gibt es eine Basis von Gemeinsamkeiten, die jede Ritual-Handlung als solche kennzeichnen:

Rituale setzen grundsätzlich eine oder mehrere handelnde Personen voraus. Dabei spielen Aspekte wie Inszenierung und Aufführung eine entscheidende Rolle.

Rituale sind stets durch wiederholte und nachahmbare Handlungen gekennzeichnet. Förmlichkeit ist dabei ein unverzichtbares Kriterium – d.h. eine abgrenzbare Form muss gegeben sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass Rituale nicht einem ständigen Wandel unterliegen können. Es bedarf großer Energie, sie stabil zu halten.

Ritualhandlungen haben einen durch ein Zeichen (z.B. einen Glockenschlag, eine Geste oder einen Kleidungswechsel) signalisierten Beginn, mit dem der Wechsel zwischen Alltagswelt und Ritualwelt markiert wird.

Rituale bewirken einen Wechsel des Status oder der Kompetenz. Derjenige, der dem Ritual beiwohnen darf, wird zum Eingeweihten, er erlebt eine Veränderung. Rituale stabilisieren und solidarisieren soziale Beziehungen.

Im Gegensatz zu routinierten Alltagshandlungen besitzen Rituale immer gewisse kulturelle Ordnungszeichen, die die Überhöhung der Handlungen ausmachen. Unter kulturellen Ordnungszeichen versteht man beispielsweise Herrschaftszeichen, Dekor oder Insignien der Überlieferung.

Nur mit Hilfe dieser – und anderer – Kennzeichnungen ist es möglich, die Ritualhandlung von Alltags- und Routinehandlungen zu trennen. Auffällig ist jedoch, dass immer ein großer Teil der gleichen Merkmale wirksam wird, wenn mehrere Personen eine Handlung vollziehen, die als Ritual definiert werden kann. Sei es der HSV-Fan, der im Stadion mit blauweissem Schal hymnische Gesänge anstimmt, sei es der ansonsten sozialverträgliche Politiker, der im Bundestag medienwirksame Beschimpfungen der wüstesten Art in Richtung Kabinettskollegen schleudert – oder sei es die besinnliche und abgeschiedene Versammlung von uns Freimaurern im Tempel: Stets wirkt eine vergleichbare Dynamik des Rituals. Denn auch wenn Ausprägung und Zielsetzung höchst unterschiedlich sind, die fundamentale Regie für den erfolgreichen Ablauf dieses Schauspiels ist in weiten Teilen identisch.

Die wohl engagierteste Diskussion unter Ritualwissenschaftlern entzündet sich an der Frage, ob ein Ritual welcher Ausprägung auch immer notwendigerweise einem Wandel unterliegen muss oder sich diesem mit aller Macht verschliessen sollte. Denn unbestritten haben Rituale die Tendenz, sich nur wenig zu verändern, wenn sie der Autorität einer Tradition unterliegen und eine gebührliche Achtung anerkannter Werte fordern. Speziell wir Freimauer werden oft mit dieser Fragestellung konfrontiert – und genauso oft mit unterschiedlichen Ansichten zu diesem Thema. Aber unbestritten ist auch, dass jedes Ritual, sei es das soziologische, das religiöse oder das spirituelle, immer in dem gesellschaftlichen Umfeld zu sehen ist, in dem es praktiziert wird. Es kann und soll keine Antwort auf die Frage gegeben werden, ob Wandlung zwingend dem Erhalt der Tradition dient. Aber es ist diskussionswürdig. Denn die Wissenschaft sieht die Dauerhaftigkeit von Ritualen in ihrer (Zitat Niklas Lumann) „dynamischen Stabilität”.

Wie ausgeprägt die Dynamik des Rituals ist, dass zeigt sich vor allem an denen, die es ablehnen. Der Wunsch innerhalb moderner Gesellschaften nach Individualität und Unabhängigkeit äussert sich oft auch in einer Verneinung traditioneller Werte, vermeintlich überkommener Ansichten und Konformismus, mit denen der Begriff „Ritual” in Verbindung gebracht wird. Betrachtet man aber beispielsweise die Bewegung der Hippies in den USA oder die der APO in Deutschland, dann ist bemerkenswert, dass exakt dieselben Prinzipien der Ritualisierung übernommen werden, um der Bewegung gegen eine Ritualisierung Ausdruck zu geben. Die Veränderung von ritualisiertem Handeln und der Bruch mit Traditionen kann jedoch ein hohes Maß an Produktivität und Bestand haben. Martin Luthers Auflehnung gegen die katholische Kirche ist ein Beispiel erfolgreichen Wandels trotz und wegen des Abbaus von Ritualen. Sein Beispiel zeigt aber auch, wie riskant die Veränderung von Ritualkomplexen für den Einzelnen sein kann. Gut etablierte Regelsysteme gelten als Garant für Tradition, Ordnung und Prestige. Wer sie bricht, geht ein hohes Risiko ein, bestraft, geächtet oder ausgelacht zu werden. Für den Kritiker stellt sich deshalb vor allem die Frage nach der kultur-ökonomischen Kostspieligkeit seines Regelbruchs. Daraus läßt sich die überraschende These ableiten, dass es in der heutigen Gesellschaft mehr Rituale gibt als in einer traditionellen: Gerade weil es in der Gegenwart leichter ist, eine abweichende Meinung zu äußern, sie zu kommunizieren und mit geringem gesellschaftlichem Risiko bestehende Systeme zu verändern, ist unser modernes Sozialleben an Ritualen reicher als eine statische, von Dogmen geprägte Gesellschaftsform.

Es ist deshalb auch ein Irrglaube, dass Rituale und Symbole dort ihren fruchtbarsten Nährboden finden, wo es an Fakten und Aufklärung mangelt. Das Gegenteil ist der Fall. Die heutige Gesellschaft, wie ich sie erlebe, wird komplexer, differenzierter, automatischer. Mein Tun wird immer abstrakter und die Folgen meines Handelns werden zunehmend unsichtbar. Der Mensch wird, wie es die Soziologie formuliert, „enthandwerklicht”. Was für ein interessanter Begriff: „enthandwerklicht”. Mir ist das Werkzeug aus der Hand genommen worden, meinem Dasein eine Form zu geben, eine Furche in den Acker zu ziehen, einen Stein zu bearbeiten, eine Spur zu hinterlassen. Aber wir alle, die wir hier versammelt sind, haben auf unsere Weise einen Weg gefunden, dass Werkzeug wieder zu ergreifen. Wir versammeln uns in diesem Tempel zur Arbeit – und wir geben unserem Tun eine Form: Durch das Ritual der Freimaurer.

Und gerade dort liegt der Zauber und die eigentliche Kraft der Rituale. Nicht nur seine Mechanismen lassen das Ritual leben, sondern vor allem das Gefühl, gemeinsam etwas Erstrebenswertes zu schaffen und so sich selbst wieder als produktives Individuum wahrzunehmen, dass den Einfluss auf seine Bestimmung wiedererlangt hat. Das Ritual selbst ist zunächst nur ein Vehikel und für Aussenstehende bedeutungslos, wenn nicht sogar sinnentleert. Entscheidend sind auch nicht ein Raum mit drei großen Leuchtern oder ein Ball auf grünem Rasen. Entscheidend ist, in welchen Bedeutungszusammenhang der Mensch diese Dinge rückt und welche Kraft er aus der Symbolik seines Rituals zieht.

Alle Kennzeichen des freimaurerischen Rituals – der Tempel, der Ablauf, die Vielzahl von Symbolen – formen sich in meinem Verständnis zu etwas Größerem, zu etwas Besonderem. Wir ergeben uns Regularien in dem Wissen, sie zum Instrument unsere Selbstfindung zu machen. Wie viele andere meiner Brüder erlebe ich während des Rituals einen Zustand von großer Ruhe, innerer Einkehr und einer Nähe zu mir selbst, wie ich sie nur selten in einem anderen Zusammenhang herstellen kann. Die Entkopplung von der Realität und der Besitz eines Moments ohne Beeinflussung von aussen sind dabei elementare Voraussetzungen meiner Empfindung. Und dieses Gefühl verstärkt sich nur noch dadurch, dass ich es nicht allein, sondern mit Gleichgesinnten erlebe. So wie es der Fussball-Fan tut – und doch ganz anders.

 * * *