Heute möchte ich zu Euch sprechen über ein Thema, das für diese Loge von besonderer Symbolkraft ist: über den rauhen Stein. Dabei werde ich versuchen, möglichst viele abstrakte Thesen aufzustellen, kann und werde aber für konkrete Beispiele natürlich nur auf mein eigenes Erleben zurückgreifen.
Unsere Loge nennt sich programmatisch „Am Rauhen Stein“, ich lege eine Lehrlingszeichnung auf, und doch waren beide Aspekte kein ausschlaggebender Grund für mich, zum heutigen Termin dieses Thema zu wählen! Vielmehr stelle ich mir selbst schon seit geraumer Zeit – und mal wieder – die Frage, wie man das eigentlich macht, dieses „Arbeiten am rauhen Stein“.
Ich muss in diesem Kreise nicht darüber philosophieren, dass mein Horizont und mein Wissen begrenzt sind und ich deshalb lieber an mir als an anderen arbeiten sollte. Allein, diese Erkenntnis mag unnötigen Streit vermeiden, mir selbst auf meinem Weg hilft sie nur sehr bedingt weiter! Wenn man nicht am rauen Stein des anderen arbeiten soll, dann heißt das für mich auch, dass – grundsätzlich – andere mir bei dieser Arbeit nicht helfen können und dass ich mir selbst helfen muss, dass ich für mich allein verantwortlich bin und dass ich in diesem existenziellen Sinne auch alleine bin.
Vielleicht bin ich alleine, jedenfalls bin ich aber nicht einsam! Denn ich habe mich einem Bund Gleichgesinnter angeschlossen, der aus Menschen besteht, die ähnliche Ziele verfolgen, deshalb auf vergleichbare Probleme gestoßen sind und mich so besser verstehen als andere, die meine Intentionen regelmäßig in geringerem Maße nachvollziehen können.
Will man eine beschwerliche Reise beginnen, so ist es sehr gut, wenn man verlässliche Gefährten an seiner Seite weiß!
Meine Reise solle zu meinem Grund führen, in diesem Kontext möchte ich sagen, zu meinem Steinmetzgrund. Der raue Stein ist in der Freimaurerei das Sinnbild für die Unvollkommenheit – namentlich den Verstand und den Lehrling. Ein unbehauener Stein taugt nicht für den Bau einer großen Kirche! Ein unbehauener Stein ist nicht nur nicht nützlich, er kann im schlimmsten Falle sogar das Ganze gefährden! Es gibt also viele gute Gründe dafür, mit Fleiß, Sorgfalt und Kompetenz aus einem rauen Stein ein nützliches Objekt zu machen, das sich erstens in das Bestehende planmäßig einfügt und zweitens eine Rendite dahingehend abwirft, dass es eines Tages sogar andere Steine auf seine geraden Kanten tragen kann.
Das Freimaurer-Lexikon sagt zum rauen Stein das Folgende: „Wer nicht nur rein äußerlich Freimaurer sein will, muss darum bemüht sein, die Kanten und Ecken zu beseitigen, die seine Schwächen und Leidenschaften und üblen Gewohnheiten darstellen. Wer zur Freimaurerei kommt, ist noch keineswegs ein vollkommener Mensch. Die Erziehung in der Loge soll dazu dienen, den rauen – zum behauenen, zum kubischen Stein zu gestalten, an den erst das Winkelmaß angelegt werden kann.“
Soweit das Freimaurer-Lexikon. – Leider wird einem hier nicht verraten, wie man das macht, an seinem rauen Stein zu arbeiten! Wie setze ich den Meißel an, rechtwinklig oder lotrecht? Wie stark und wie oft muss ich zuschlagen und welchen Hammer gilt es, sinnvollerweise zu verwenden?
Im Folgenden möchte ich versuchen, vor dem Hintergrund meiner – subjektiv-individuellen – Erfahrungen, die Arbeit am rauen Stein, an meinem rauen Stein, etwas zu systematisieren. Ich sehe dabei die Grundlagen der Arbeit, sozusagen Aspekte der Arbeitsvorbereitung, und ich sehe die Durchführung inkl. Nachbereitung der Arbeit, hier einmal als Werkzeug- oder Instrumentenkasten bezeichnet. Hinsichtlich der Grundlagen der Arbeit stellt sich die Frage, wie man diese sich schafft oder – wie auch immer – herbeiführt. Hinsichtlich der Durchführung stellt sich die Frage nach dem richtigen Umgang mit den dann vorliegenden Werkzeugen.
Dieser Systematik folgend, möchte ich jetzt mit der Arbeitsvorbereitung als erstem Untersuchungsgegenstand beginnen.
Was brauche ich also, um erfolgreich an meinem rauen Stein arbeiten zu können? Ich brauche insbesondere …
- den Glauben daran, dass man sich, dass ich mich ändern kann, dass es Werkzeuge gibt und dass ich ihren Gebrauch zu erlernen vermag.
- Der Glaube an die bloße Möglichkeit allein reicht allerdings nicht aus, um mich zur Arbeit zu bewegen. Ich brauche daneben auch noch die Motivation, mich selbst als rauen Stein zu begreifen, anzunehmen und mein Ich in Frage zu stellen.
- Woraus könnte diese Kraft resultieren, auf dass ich dann motiviert bin, meine erkannten Möglichkeiten auch zu nutzen? Diese Kraft kann sich aus der Hoffnung ergeben, als Mensch zugleich moralischer und glücklicher zu werden!
- Wenn ich etwas verändern will, dann muss ich das Bestehende in Frage stellen können. Ich muss kritikfähig sein. Und damit meine ich primär nicht, auf das klopfende Geräusch des fremden Meißels zu hören! Vielmehr meine ich das Streben nach, das Bedürfnis nach Integrität: Ehrlichkeit nicht nur anderen gegenüber, sondern zuerst einmal Ehrlichkeit mir selbst gegenüber!
- Wie erkenne ich mein Selbst, wie erkenne ich, warum ich mich so verhalten, wie ich mich verhalte, woher dieses manchmal oder häufig kritikwürdige Verhalten kommt? Ich erkenne es, indem ich darauf achte, was mein Handeln motiviert; indem ich darauf achte, wie diese Gefühlsregungen sich in Handeln umsetzen; indem ich verstehe, unter welchen Bedingungen Gefühle entstehen. So kann ich lernen, dass meine Wertungen meine Gefühle bedingen und dass diese wiederum mein Handeln leiten.
- Ich muss also denken. Um zu denken, brauche ich Begriffe. Das Studium einschlägiger Literatur, ob allgemein philosophischer, freimaurerischer oder buddhistischer Natur, dieses Studium hilft mir, mich selbst und meine Erfahrungen in einen größeren Kontext einzuordnen, mein Wissen zu ergänzen oder ggf. zu relativieren.
- Ferner brauche ich, als eine weitere wichtige Grundlage für meine langwierige Arbeit an meinem rauen Stein, Ausdauer, Nachsicht und Selbstliebe! Der Weg ist zu lang, als dass ich ihn mit Ungeduld und Selbsthass gehen könnte.
- Und schließlich hilft es mir, Brüder an meiner Seite zu wissen, die vielleicht einen ähnlichen Weg gehen, an meiner Seite wandeln, und mit denen ich mich so fruchtbar austauschen kann, an denen ich mir ein Vorbild nehme.
Eine gute, Erfolg versprechende Arbeit bedarf also einer sorgfältigen und durchdachten Arbeitsvorbereitung. Wie erreiche ich diese Dinge, die ich als Grundlage brauche, also Glaube, Motivation, Hoffnung, Integrität, Achtsamkeit, Begriffe, Selbstliebe und Begleitung?
- Ich nehme mir für meinen Weg die Zeit, die ich brauche.
- Ich umgebe mich mit Menschen, deren Gegenwart für mich den Gang meines Weges einfacher macht.
- Ich schule meinen Geist, ob durch intellektuell-diskursive Betätigung oder durch Meditation.
- Ich verzeihe mir Misserfolge und vermeide Selbsthass.
- Ich überwinde meine Trägheit durch bewusste Eigenmotivation.
- Ich bekenne mich zu mir und meinem individuellen Weg.
- Ich mache mir die Wechselwirkung zwischen Sein und Bewusstsein bewusst.
- Ich erkenne, dass Glück kein Begrenztes Gut ist, das ich jemandem wegnehmen könnte, das man mir wegnehmen könnte, sondern dass das Glück sich selbst aus sich selbst hervorbringt.
Auf diese Weise – oder ähnlich – kann ich mir selbst helfen und meine Arbeitsvorbereitung effektiv unterstützen. – Die Arbeitsvorbereitung geht naturgemäß sukzessive in die eigentliche Arbeit über. Hat man seinen Arbeitsplatz gut aufgeräumt und alles bereit gelegt, sich also eine entsprechende Mühe gemacht, dann will man plötzlich sogar arbeiten und freut sich darauf, den Lohn dieser guten Arbeitsvorbereitung in Empfang zu nehmen.
Aber was habe ich denn dann für Werkzeuge bei der Hand, mit denen ich meinen rauen Stein bearbeiten kann? Und wie benutze ich sie rechtwinklig oder lotrecht?
- Ich habe zuallererst das Vorbild – und ggf. den nachgefragten Rat – meiner Brüder. Ihr Wissen, ihre Weisheit, ihr bewusstes oder unbewusstes Feedback können mir sehr dabei helfen, mich und meine Interaktion mit der Umwelt besser zu verstehen. Mit ihnen kann ich mich vergleichen, ohne diese Vergleiche überzubewerten, an ihnen kann ich versuchen, Neid und Vorurteil zu überwinden.
- Weiterhin kann ich, wenn ich meine Triebe als Übel und Ursache vieler Fehlsteuerungen erkannt habe, versuchen, diese einzudämmen, weiter zu reduzieren und in Teilen gar aufzuheben. Dazu kann ich meine Weisheit entwickeln oder mittels meditativer Versenkung eine anderweitige Relativierung herbei führen.
- Ich kann mein Verhalten bewusst am Kant’schen Imperativ ausrichten und so leben, dass mein Verhalten zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte. Ich mache mir bewusst, dass es letztlich keinen Widerspruch zwischen meinen Interessen und den Interessen der Allgemeinheit gibt.
- Durch philosophische Reflexion gewinne ich an Distanz – allgemeine Distanz zur Welt, persönliche, selbst-reflexive Distanz zu mir selbst und meinem Ego, zu meiner Identität. Distanz schafft Objektivität, Objektivität schafft Freiheit.
Dieses sind die Werkzeuge, die ich sehe, wie sie für die Arbeit an meinem rauen Stein bereit stehen und auf mich warten.
- Ich benutze sie recht, wenn ich versuche, niemanden zu verletzen, also weder andere, noch mich selbst.
- Ich benutze sie recht, wenn ich mich bei der Arbeit immer als Teil eines größeren Ganzen begreife, dem ich diene.
- Ich benutze sie recht, wenn mir bei der Arbeit bewusst ist, dass sich Freiheit und Verantwortung gegenseitig bedingen.
Vorangehend habe ich versucht darzulegen, welche Grundlagen gelegt werden sollten, um eine erfolgreiche Arbeit erwarten zu können, und ich habe versucht zu spezifizieren, wie man diese Grundlagen vielleicht legen, sich erarbeiten kann. Darüber hinaus habe ich einzelne Werkzeuge aufgezeigt, wie ich sie sehe, und wie ich meine, dass man sie, wie ich meine, dass ich sie benutzen sollte.
Alles zusammengefasst möchte ich an dieser Stelle nur noch eine Kernthese aufstellen: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein UND das Bewusstsein bestimmt das Sein.“ Es ist wie mit dem Gehen: Sein und Bewusstsein sollten nicht „hüpfend“ voranschreiten, also parallel, sondern viel effektiver ist es doch, wenn sich das linke und das rechte Bein in ruhigem Schwung abwechseln. Einem kleinen Schritt der Erkenntnis sollte ein kleiner Schritt in der Verhaltenssteuerung kommen, und nach einem veränderten Verhalten braucht es eine neue Erkenntnis.
Ausreichend ist es, wenn das Sein, das Handeln, dem Bewusstsein, der Erkenntnis, folgt. Noch besser ist es jedoch, wenn auch das Handeln teilweise in Führung geht und insofern dem Bewusstsein neue Horizonte erschließt.
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