Im vergangenen Jahr wurde mein älterer Sohn eingeschult. Natürlich haben wir uns im Vorfeld sehr genau angeschaut, welcher Schule und welchem Bildungskonzept wir unser Kind anvertrauen.
In diesem Zusammenhang habe ich den Begriff der vorbereiteten Umgebung kennengelernt. Im Schulumfeld bedeutet dies: ausgehend von der Prämisse, dass Kinder selbstorganisiert und eigenverantwortlich lernen können und sollen, wird ihnen hierfür ein möglichst geeignetes Umfeld zur Verfügung gestellt. Damit frei gearbeitet werden kann, müssen Kinder Materialien, Medien und Handwerkszeug geordnet an einem festen Platz vorfinden. Zur vorbereiteten Umgebung gehören aber nicht nur diese äußere Ordnung einschließlich geeigneter Räumlichkeiten usw., sondern selbstverständlich auch ein soziokulturelles Umfeld, welches diese Ideen mit trägt. All dies soll der inneren Ordnung dienen und die Bereitschaft fördern, sich mit Interesse und Eifer dem Schulstoff zu widmen.
Mich hat das spontan an unsere Arbeit in der Freimaurerloge erinnert. Hier im Tempel ist der Raum und dort auf dem Teppich haben die Werkzeuge ihren festen Platz, mit denen ich eigenverantwortlich und selbstorganisiert lernen kann und soll, zum Beispiel: den rauhen Stein zu bearbeiten. Und um mich herum sehe ich Euch meine Brüder, das soziokulturelle Umfeld, welches diese meine Arbeit mitträgt.
In diesem Sinne heiße ich Dich, lieber Bruder A., herzlich willkommen in unserer Loge, in Deinem vorbereiteten Umfeld, in dem Du von nun an als Freimaurer arbeiten willst!
Ich möchte noch einige weitere Worte zur vorbereiteten Umgebung verlieren. Diese Worte bedeuten im oben genannten Kontext etwas überaus Positives: aus einer liebevoll gepflegten äußeren Ordnung soll eine innere Ordnung entstehen, die umfassende Bildung und geistige Entwicklung ermöglicht. Dabei wird die äußere Ordnung von hilfreichen Geistern – Eltern, Lehrenden und Erziehenden – planvoll und bewusst hergestellt. Auch hier gibt es Parallelen zu einer freimaurerischen Idee, nämlich der des Tempelbaus, bei dem durch kontinuierliche Arbeit im Kleinen etwas Größeres entsteht:
aus einem rauhen Stein
wird ein kubischer Stein
wird der Tempelbau.
Damit die Arbeit am rauhen Stein nicht zum Selbstzweck wird, vollzogen um des einzelnen kubischen Steines willen, ist es jedoch notwendig, immer den Blick fest auf das große Ganze, den Tempelbau gerichtet zu haben! Genau so, wie die Lehrenden und Erziehenden die Lernumgebung nicht um der guten Ordnung – zum Beispiel auf dem Schreibtisch – willen formen, sondern um den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen.
Und genau das ist der Haken an der ganzen Angelegenheit: das Konzept unterstellt die mehr oder weniger vollständige, jedenfalls zielstrebig gerichtete Formbarkeit der Umgebung. Leider ist es bei weitem nicht so, dass sich unter menschlichem Einfluss Umgebungen immer so vorbereiten, dass sie diesem Ansatz gerecht werden. Tatsächlich wird unsere Umgebung täglich irgendwie auf irgend etwas vorbereitet, ob wir das bewusst wollen und forcieren oder nicht. Sind die Bedingungen geeignet, braucht es gar nicht viel, um Großes auszulösen, manchmal reicht zum Beispiel eine Schülerin mit einem selbstgemalten Pappschild vor einem Parlamentsgebäude.
Sind die Bedingungen jedoch nicht geeignet, sind selbst gut gemeinte, mit relativ großem Aufwand betriebene Aktionen ergebnislos. Im vergangenen Jahr war ein großer deutscher Lebensmitteldiscounter in der Presse, weil er die erst wenige Monate vorher erfolgte vollständige Umstellung auf „fair“ gehandelte Bananen wieder zurücknahm. Denn leider bewegte sich besagter Discounter in einem (Markt-)Umfeld, in dem fair gehandelte Bananen quasi nicht verkäuflich sind. Der Marktanteil fair gehandelter Bananen liegt in Deutschland nämlich bei gerade einmal um die 10 Prozent. Das Umfeld war für den eigentlich lobenswerten Schritt nicht ausreichend vorbereitet. Es ist den allermeisten Deutschen schlichtweg egal, unter welchen Bedingungen ihre Bananen gepflanzt und geerntet werden, solange sie nur so richtig billig sind. Es ist ihnen sogar so dermaßen egal, dass sie lieber mit ihrem SUV zusätzlich in einen anderen Supermarkt zur absolut billigsten Banane fahren, anstatt fair dort einzukaufen, wo sie ohnehin grad sind. Fair gehandelt heißt für die betroffenen Plantagenarbeiter Arbeitszeiten in einem Umfang, wie wir es hier in Deutschland kennen und ein angemessener Lohn. Man muss es sich in dieser Deutlichkeit vor Augen führen: das Gegenteil von „fair“ ist nicht „konventionell“, sondern „unfair“, ein Prädikat, welches sich eigentlich kein denkender Mensch freiwillig an die Brust heften mag, dennoch tun rund 90 Prozent der Deutschen genau das. Schadenfreude über den missglückten Versuch, etwas Gutes in der Welt zu bewirken, ist jedenfalls völlig unangemessen, denn die Leidtragenden sind die Menschen auf den Plantagen, nicht der Discounter (welcher die Häme am ehesten noch verdient hätte, denn er war keineswegs unbeteiligt daran, über Jahrzehnte dieses nur-der-Preis-zählt-pfeif-auf-die-Menschen-Umfeld zu schaffen).
War Euch das Beispiel zu klein und banal? Es geht natürlich auch wesentlich größer und unangenehmer, nämlich immer dann, wenn sich eine Umgebung dergestalt verändert, dass die Lebensqualität nicht nur für ein paar Plantagenarbeiter in der sogenannten Dritten Welt, sondern für so richtig viele Menschen auch bei uns sinkt statt zu steigen. Spätestens seit Beginn der Industrialisierung arbeiten wir an dem, was wir heute „Klimaerwärmung“ nennen. Wir bereiten seit Generationen unsere Umgebung mit vielen kleinen Maßnahmen, die in ihrer Intention ganz und gar nicht miteinander zusammenhängen müssen und es auch keineswegs tun, darauf vor, sich so zu entwickeln, wie sie es eben jetzt tut: die Erde erwärmt sich messbar mit den bekannten Folgen.
Wer jetzt die Augen verdreht und innerlich ach nee, Klimaerwärmung stöhnt, nehme ein anderes Beispiel: den Müll. Früher dachte ich immer, dass nur der Tölpel, welcher gestern sein Handtuch am jener Stelle ausgebreitet hatte, an welcher ich heute sonnenhungrig am Ostseestrand liege, seinen Müll hat liegen lassen: Zigarettenkippen, Kronenkorken, Plastiktüten usw. Aber ich habe mich gründlich geirrt: alle anderen Strände dieser Welt sehen genau so aus, und oft sogar noch viel schlimmer, weil sie nicht allabendlich geputzt werden wie mein Kurhotelstrand! Und auch die Strände unbewohnter Inseln im Pazifik und die Tiefsee und und und. So sieht es eben aus, wenn einige Milliarden Tölpel einige Jahrzehnte ihren Kram gedankenlos entsorgen, sprich einfach irgendwo fallen lassen. Inzwischen bekommen wir unseren Müll in Form von Mikroplastik in der Nahrungskette wieder zurück, leider wird wohl auch dieser Umstand nur wenige Menschen zum Umdenken bewegen.
Wir bereiten uns zur Zeit auch eine Umgebung des Energie- und Rohstoffmangels vor. Nicht nur Silber, Helium und die sogenannten seltenen Erden werden knapp, sondern auch Sand und Wasser.
Und natürlich bereiten wir uns auch im gesellschaftlichen Bereich einige Umgebungen vor, die sich irgendwo zwischen interessant bis beängstigend einordnen lassen. Denken wir an die Entwicklung der vergangenen Tage in Iran und Irak. Denken wir an die Migrationsbewegungen. An die demographische Entwicklung in unserem Land. Beängstigend hieran ist aus meiner Sicht vor Allem das politische Kapital, welches populistische Kräfte aus diesen Entwicklungen schlagen, auf Grund unserer sehr verbreiteten, jedoch fatalen Vorliebe für sogenannte einfache Lösungen leider durchaus erfolgreich. Obwohl unsere Grundbedürfnisse besser versorgt sind als jemals zuvor, versagen wir regelmäßig an der Aufgabe, Chancen zu sehen und ziehen es vor, uns Ängste schön schwarz ausmalen zu lassen, damit wir nachher tatkräftig – und mit selbstverständlich den allerbesten Absichten – Mauern errichten und Pflugscharen zu Schwertern schmieden können. Damit uns das bloß nicht bewusst wird, was wir da eigentlich gerade tun, vertreiben wir unsere Zeit damit, Schuldzuweisungen auszudenken, anstatt zu überlegen, wie es besser weiter geht.
Diese Beispiele haben eines gemeinsam: viele kleine räumlich, zeitlich und von den Akteuren her sowieso unabhängige Einzelaktionen ergeben insgesamt eine große Wirkung. Ich baue in Hamburg mein Häuschen, Sand wird knapp, weil in aller Welt ein jeder das Gleiche tut. Saleh aus der Gegend von Mossul flüchtet zu uns, doch weil auch viele andere es satt hatten, sich und ihre Familien brandschatzen und vergewaltigen zu lassen und von dort geflüchtet sind, verlieren die gestandenen politischen Parteien in Deutschland massiv in der Wählergunst anstatt Profil zu gewinnen. Und weil heute einfach jeder jederzeit ein neues Handy, Auto und Zweitwagen und überhaupt von Allem das Allerneuste und Allertollste braucht, wird fleissig produziert und ebenso fleissig weggeworfen als säßen wir am Tischlein-deck-Dich.
Diese Beispiele zeigen also, dass vorbereitete Umgebung in unserer täglichen Lebenswirklichkeit etwas unglaublich Komplexes ist, dem räumlich und zeitlich kaum Grenzen gesetzt sind und das alles und jedes durchdringen und beinhalten kann. Kein Wunder also, dass wir regelmäßig versagen, unsere Umgebung so vorzubereiten, wie es eigentlich notwendig wäre! Das menschliche Gehirn ist zwar ungefähr das komplexeste Gebilde im Universum, hat jedoch leider enorme Schwierigkeiten damit, komplexe Sachverhalte zu verstehen, geschweige denn uns dazu zu bringen, in ein komplexes System wie unsere Gesellschaft oder unsere natürliche und gebaute Umwelt so einzugreifen, dass sich dieses System anschließend in einer gewünschten Art und Weise weiterentwickelt.
Du, lieber Bruder A. hast mich vor gut einem Jahr auf einen Roman der Gebrüder Strugazki hingewiesen, welcher dieses Thema auf bemerkenswerte Weise bearbeitet: Es ist schwer, ein Gott zu sein. Selbst wenn wir mit nahezu allmächtigen Mitteln von Außen auf ein System blicken und theoretisch die Wege und Mittel kennen, die gegangen werden müssen bzw. notwendig sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, kriegen wir es nicht hin. Denn wenn wir nicht eingreifen, passiert sowieso: was auch immer. Doch sobald wir eingreifen, kann man mit Sicherheit nur eines sagen: erstens kommt es anders und zweitens als man denkt – meist endet es fatal.
Obwohl das alles natürlich bestens bekannt ist, nennen wir uns Freimaurer: weil wir als freie Männer an dem großen Bau arbeiten, am Tempel der Humanität. Geschrieben steht nicht weil wir am rauhen Stein arbeiten, nein es steht wir bauen den Tempel der Humanität! Oha. Was für eine Aufgabe! Bedeutet das nicht, unser Umfeld so vorzubereiten, dass humanistische Ideen gelebt werden können? Und weil ein Tempel ein ziemlich perfektes Bauwerk ist, welches keine Gerümpelecken kennt oder duldet, bedeutet das dann auch, dass kein Platz mehr ist für menschenverachtende und lebensfeindliche Praktiken, weil alles von Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit durchströmt wird? Na, ich wünsche uns viel Erfolg!
Wie bescheiden nehmen sich im Vergleich zu dieser Aufgabe die Wege und Mittel aus, die uns dafür zur Verfügung stehen! Wirken durch das gute Beispiel, zum Beispiel. Dass diese jede für sich vielleicht wenig wirkungsvollen Einzelmaßnahmen dennoch alle gemeinsam eine durchaus große Wirkung haben können, habe ich Euch aus genau diesem Grunde vorhin (oben) erläutert. Wichtig ist nur, dass man handelt, denn ohne Ursache gibt es bekanntlich keine Wirkung.
Und das macht die Arbeit in unseren Logen so wertvoll: obwohl die allermeisten von uns mit ihrer Stellung in der Gesellschaft einigermaßen zufrieden sein dürften, kann diese Arbeit uns davor bewahren, in das Zufriedenheitskoma zu verfallen, in dem man zwar immer einen Grund findet, über die Gesellschaft zu maulen und zu meckern, jedoch unter dem Strich eigentlich gar nicht mehr handeln kann und will. Wenn die Arbeit am rauhen Stein und am Tempelbau überhaupt irgendetwas bewirkt, dann dass wir nicht vergessen, was alles noch zu tun ist und so lange wir atmen auch zu tun bleibt. Für freie, gerechte, vernünftige und ja auch liebevolle Individuen in einer freien, gerechten, vernünftigen und ja auch liebevollen Gesellschaft.
Ich beende daher meine Zeichnung mit Worten Erich Kästners:
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
An die Arbeit!
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