Da die Freimaurerei ihren Mitgliedern die Arbeit am Rauhen Stein als Hauptaufgabe vorschreibt, stellt sich ihnen die Frage nach dem Inhalt ebenso wie die nach der Möglichkeit, darin Fortschritte festzustellen. Dem Lehrling sagt das Traditionsritual: Erkenne Dich selbst, beherrsche Dich selbst, vervollkommne Dich selbst! Später hört er dann auch: Selbsterkenntnis ist der Weisheit Anfang!
Wer dies hört, könnte meinen, daß hier wohl nichts besonders Schwieriges verlangt werde; vielleicht mag er auch an die ärztliche Methode denken, in der Diagnose, Therapie und Heilung aufeinander folgen. Indes, so einfach ist die Sache nicht. Denn wenn es auch für die ärztliche Diagnose erprobte Techniken gibt, so fehlt es daran im geistig-seelischen Bereich fast ganz.
Das, was wir zu erkennen suchen, sind wir selbst; besser gesagt, unser Charakter als Inbegriff unserer ererbten geistigen Eigenschaften. Diese sind aber äußerlich dem Menschen nicht anzusehen, auch wenn die Volksmeinung glaubt, eine dicke Lippe bedeute Sinnlichkeit. Tatsächlich ist aber Lombroso, der Ähnliches wissenschaftlich nachweisen wollte, längst widerlegt. Es bleibt daher als einziger Weg, die Eigenschaften eines Menschen festzustellen, die Beobachtung seiner Handlungen.
Dabei springt sofort ins Auge, daß diese Methode eben so schwierig wie langwierig sein muß. Schwierig, weil das Handeln des Menschen von vielerlei Faktoren bestimmt wird. Ein genauer und daher allein brauchbarer Schluß von einem bestimmten Verhalten auf die daraus zu folgernde Eigenschaft ist daher nur dann möglich, wenn alle mitwirkenden Motive bekannt sind. Von diesen verbirgt sich aber, wie wir heute wissen, ein bedeutender Teil im Unterbewußtsein, so daß man ihn zwar bei anderen häufig, bei sich selbst aber nur selten entdeckt. Erst recht aber ist das Erkennen von Eigenschaften auf Grund von Handlungen eine äußerst langwierige Methode, hauptsächlich deswegen, weil der Mensch zumeist nur sehr wenig handelt, viel seltener, als er meint. Zumeist lebt er nach den Gesetzen der Konvention, den Gesetzmäßigkeiten seines Berufes und seiner Familie. Er tut, was von ihm erwartet wird, ohne darüber viel nachzudenken. Eigene Entschlüsse werden erst dann notwendig, wenn eine außerordentliche Situation eintritt, die nach den Regeln der Konvention nicht zu meistern ist. Das ist selten im Leben des friedlichen Bürgers, häufiger bei den Außenseitern, wie den Künstlern, Intellektuellen, Heiligen und Verbrechern, über deren Charakter wir relativ viel erfahren. Niemand aber kennt den Charakter eines anderen besser als der Soldat im Kriege (!) den seiner Kameraden; der Grund liegt auf der Hand.
Nehmen wir nun noch hinzu, daß die Zahl der menschlichen Eigenschaften sicher nicht klein ist, so daß also kaum Aussicht ist, im Laufe eines einzigen Lebens so oft und so klar zu handeln, daß sie alle erkennbar werden können, so folgt, daß dem Einzelnen völlige Selbsterkenntnis im Laufe seines Lebens unmöglich bleiben muß. Immer nur einzelne Eigenschaften wird er feststellen können. So bleibt also schon die „Diagnose“ eine unlösbare Aufgabe. Diese Tatsache darf uns andererseits natürlich nicht veranlassen, auf jegliche Selbsterkenntnis zu verzichten; wir würden unser Leben verträumen, statt es zu gestalten. Denken wir etwa an Goethe’s Wort „So kam ich durch, so ging es allenfalls; mach’s einer nach und breche nicht den Hals!“, so sehen wir ein höchstes Maß an Selbsterkenntnis, beim Dichter verstärkt durch intuitives Erfassen, und darauf aufbauend die Gestaltung des Lebens.
Haben wir uns aber nun zum Versuch der Selbsterkenntnis entschlossen im Angesicht der Tatsache, daß der Weg zwar nicht bis zum Ende, jedoch auch keineswegs ohne Aussicht auf Erfolg beschritten wird, so ergibt sich damit naturgemäß gleichzeitig die Pflicht, die Aufgabe mit aller Sorgfalt zu lösen und die dabei in der Regel auftretenden Fehler und Irrtümer zu vermeiden.
Dabei haben wir vor allem dem alten Irrglauben auszuweichen, wonach der Mensch in seinen Handlungen von der Vernunft geleitet werde. Tatsächlich ist es grundsätzlich umgekehrt: Der Mensch tut, was er will, und sein Intellekt liefert ihm die Gründe, je überzeugender, desto besser. Daher werden wir denn auch, wie Schopenhauer sagt, niemanden leichter und eleganter belügen als uns selbst. Jegliche Selbsterkenntnis erfordert mithin unerbittliche Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Schließlich ist viel Wahres daran, daß nach einem alten Wort im Gefängnis lauter Unschuldige sitzen.
Weiterhin nehmen wir gern eine gewisse Einheitlichkeit des Charakters an, indem wir meinen, von der Feststellung einer bestimmten Eigenschaft auf das Vorhandensein einer anderen, gewissermaßen dazugehörigen schließen zu dürfen. Wir glauben z. B, gern, daß ein aufrichtiger und ehrlicher Mensch auch sicher tapfer und ausdauernd oder gerecht oder großzügig sein müsse, und wir wundern uns, wenn er „versagt“. Tatsächlich hat aber der Mensch zahlreiche Eigenschaften, die nicht nur nicht zusammenpassen, sondern einander direkt widersprechen, jedenfalls im Sinne dieses Irrglaubens. Wir stellen uns unsere Eigenschaften offensichtlich zumeist viel zu mechanisch vor, etwa wie eine Maschine, die auf den Druck einer Taste (Motiv) mit Sicherheit immer die gleiche Bewegung macht. Vielleicht ist es richtiger, wie Hermann Hesse im „Steppenwolf“ von einem Schwingen zwischen zahlreichen Polen zu sprechen, so daß der Mensch mehr oder minder in bestimmte Richtungen tendiert.
Ferner haben alle Menschen eine starke Neigung, beim Zeichnen des eigenen oder fremden Charakterbildes unzulässige Vereinfachungen vorzunehmen, die dazu führen, daß eine bestimmte Gruppe von Eigenschaften als allein vorhanden angesehen wird, während alle übrigen einfach außer acht gelassen werden. Ich meine damit die vor allem bei Auseinandersetzungen zur Abwertung benutzte Methode, andere als Träumer oder Betrüger oder Mörder oder Geizhals zu kennzeichnen, während wir uns umgekehrt gern einen anständigen Menschen nennen oder einen Idealisten oder einen Realisten. Immer wird hier der Versuch unternommen, die Vielfältigkeit des Lebens in einen Begriff zu pressen, das Individuelle zu typisieren.
So wird z. B. im Logenleben gern vom Freimaurer im Gegensatz zum Logenbruder gesprochen und es wird dabei stets übersehen, daß keiner dieser Typen in der Wirklichkeit vorkommen kann. Man schreibt dabei dem Freimaurer das Suchen nach Wahrheit, Bereitschaft zur Kritik, Opferfreudigkeit und ähnliches zu, während dem Logenbruder Oberflächlichkeit, Vereinsmeierei und anderes nachgesagt werden. Dabei ist zweierlei falsch: Einmal, daß kein Mensch hundertprozentig Freimaurer oder Logenbruder ist, d. h. daß er also außer den diesem Typ eigenen Qualitäten eine Fülle anderer Eigenschaften besitzt, die in ihrer Wirkung jene Qualitäten durchaus überdecken oder sogar aufheben können. Zum anderen wird übersehen, daß beide Typen notwendig außer den „gemeinten“ Eigenschaften andere enthalten, die in ganz andere Richtungen wirken. Der Freimaurer an sich kann alo gerade wegen seiner oben erwähnten Eigenschaften auf der anderen Seite zu Neuerungssucht, Traditionsfeindschaft und Relativismus neigen, während umgekehrt der Logenbruder die für Leben und Fortbestand der Freimaurerei wichtigen Wesenszüge der Treue, Beharrlichkeit und Liebe zur Tradition mitbringen wird. Wir können daraus ohne Mühe erkennen, daß ein rechter Bruder nur denkbar ist, wenn er die guten Eigenschaften beider Typen harmonisch in sich vereinigt; was nebenbei auch ein weiteres Mal den Begriff des „Bruders ohne Schurz“ widerlegt. –
Wir haben festgestellt, wie schwer und langwierig der Selbsterkenntnis Aufgabe und Weg ist, wie zahlreich die Möglichkeiten des Irrtums. Dennoch aber gibt es keinen Grund zur Mutlosigkeit. Ein Ziel auf diesem Wege können wir, wenn wir uns nur wirklich Mühe geben, ohne weiteres erreichen, das nämlich, was Schopenhauer den „erworbenen Charakter“ nennt. Scheinbar besteht hier ein Gegensatz zu dem anfänglich dargelegten Begriff, denn wenn ich meinen Charakter ererbt habe, kann ich ihn nicht nachträglich erwerben. Tatsächlich ist aber etwas anderes gemeint, nämlich der im Volksmund verwendete Begriff, der einem Manne nachsagt, er „habe Charakter“ oder auch, er sei „ein Mann von Charakter“. Damit ist ganz einfach ein Mensch gemeint, der einen festen Standpunkt besitzt, der, mit anderen Worten, weiß, was er will und was er kann. Hierher können wir kommen, diesen Charakter können wir erwerben. Freilich, ganz so einfach liegen auch hier die Dinge nicht. Wenn wir einmal aus unserer Haut schlüpfen, indem wir unseren Beruf, unsere Familie, unser Vermögen und die anderen Besitztümer fortdenken und uns ehrlich die Frage vorlegen: Was will ich sein, was will ich haben, was will ich tun?, so merken wir alsbald, welch vertrackte Frage da beantwortet sein will. Klar ist dabei lediglich, daß uns die Antwort umso leichter fallen wird, je weiter wir es in der Selbsterkenntnis gebracht haben. –
Damit sind einige Gedanken über das „Erkenne Dich selbst“ dargelegt. Wie steht es nun mit der weiteren Aufgabe, uns zu beherrschen und zu vervollkommnen?
Zunächst ist klar, daß es sich hierbei um Erziehung handelt. Erziehung bedeutet das Einprägen – ganz wörtlich! – von Wertungen und zwar nur von diesen. Davon zu unterscheiden ist der bloße Unterricht, der Bekanntmachen mit Tatsachen, Beziehungen und Wertungen, kurz mit allem Erkennbaren bedeutet. Daß beide Begriffe so oft vermengt werden, kommt daher, daß es zwar Unterricht ohne Erziehung gibt, daß aber umgekehrt jegliche Erziehung notwendig gleichzeitig auch unterrichtet. Ein Beispiel für Unterricht ohne Erziehung ist die Volkshochschule, deren starke Anziehung nicht zuletzt auf ihrer Unverbindlichkeit beruht. Umgekehrt muß zwangsläufig dem zu Erziehenden das Erziehungsprogramm mitgeteilt werden. Daher erfährt der Rekrut zuvorderst die Kriegsartikel, der Mönch die Ordensregel. Merkwürdig bleibt allerdings, daß ein Haupterziehungsobjekt, nämlich der junge Mensch als Schüler, niemals das für ihn verbindliche Erziehungsprogramm kennenlernt, da es gar nicht existiert, wenn man von einigen elitären Instituten absieht.
Die Wertungen nun, welche die Erziehung einprägt, sind fast ausschließlich moralischer Natur. Auch wo man von politischer Erziehung spricht, meint man durchweg moralisches Verhalten. Der Erzieher sagt also seinem Zögling, was er für gut oder für böse zu halten hat und wie er sich demgemäß in den Situationen zu verhalten hat, die für das betreffende System besonders wichtig sind. Denn nicht alle Erzieher wollen für das gesamte Leben unter allen Aspekten wirken, manchen kommt es nur auf einen Teilbereich an, wie z. B. den militärischen. Umgekehrt ist klar, daß die Freimaurerei den ganzen Menschen für sein ganzes restliches Leben beeinflussen will.
Hierbei fällt vor allem auf, daß in der Freimaurerei der eigentliche Erzieher völlig fehlt. Auch die anderen Brüder können und dürfen für uns niemals an seine Stelle treten, da ihnen allenfalls einmal ein brüderlicher Wink, niemals aber eine Erziehungsmaßnahme gestattet ist. Freimaurerei ist also ausschließlich und allein Selbsterziehung. Daraus folgt, daß es hier niemand gibt, der mir sagt, was gut ist und wie ich mich jeweils zu verhalten habe. Vielmehr ist es allein meine eigene Aufgabe, Ziel und Inhalt der Erziehung zu bestimmen. Nicht allerdings in der Weise, daß man gezwungen wäre, mit oder gleich nach der Aufnahme in die Loge ein umfassendes Programm aufzustellen. Denn da nur erwachsene Männer eintreten, bringen sie ja ohnehin durchweg sehr klare Vorstellungen darüber mit, was ihnen heilig, gut, wichtig oder jedenfalls vorrangig erscheint. Außerdem sind gerade diese Wertvorstellungen bei der Untersuchung ihrer Eignung zum Freimaurer geprüft und gebilligt worden, sonst hätte man den Betreffenden ja nicht aufgenommen. Erst im Laufe seiner Zugehörigkeit zur Loge soll er also feststellen und wird es auch, daß er nicht mehr der alte ist, daß sich vielmehr seine früheren Wertbegriffe verändert, vielleicht auch erweitert haben. Einer wahren Meisterschaft wird es dann Hauptaufgabe werden, hier ganz bewußt auszuwählen und festzulegen, Standpunkte zu gewinnen und sich einzuordnen. Dieses so gewonnene Schema, Weltbild, Programm wird natürlich immer wieder zu korrigieren sein. Wenn aber Weisheit Pate stand, werden die Korrekturen zunehmend nur noch einzelne, kleinere Züge betreffen, das Bild aber hält stand.
Etwas muß nun die oben getroffene Feststellung eingeschränkt werden, wonach es ausschließlich Sache des Freimaurers selbst ist, Ziel und Inhalt der Selbsterziehung zu bestimmen. Immerhin gibt ihm dabei die Freimaurerei eindringliche Hinweise, so daß ein Suchender, dem vielleicht Schulung und Übersicht fehlen, schon nach diesen Hinweisen allein sich richtend den – im freimaurerischen Sinne – rechten Weg kaum verfehlen kann. Denn der Katalog der Ideale, den ihm die Freimaurerei anbietet, ist auf Grund jahrhundertelanger Erfahrung so sorgfältig und zugleich weise zusammengestellt, daß er sicher sein darf, außerhalb desselben nichts Wichtiges zu versäumen, den religiösen Bereich natürlich ausgenommen. –
Wie wirkt nun die Erziehung auf den Charakter? Sicher ist, daß sie ihn nicht verändern kann. Es steht aber auch fest, daß es außerordentlich starke und recht schwache Charaktere gibt. Überdies kann man davon ausgehen, daß sehr starke selten sind. Weiterhin kann das Erziehungsideal den Neigungen des Charakters entgegenkommen oder zumindest nicht ganz unsympathisch sein. Insgesamt darf also ein nicht zu extremes Erziehungssystem bei der ganz überwiegenden Zahl seiner Objekte auf guten Erfolg rechnen. Dieser besteht darin, daß Charakter und durch Erziehung in „Fleisch und Blut“ übergegangene Grundsätze eine Einheit werden, die uns als Persönlichkeit aus einem Guß gegenübertritt, so daß am Ende nicht mehr zu erkennen ist, was daran Charakter ist und was Erziehungsprodukt.
Dieser Erfolg ist natürlich im Wege der Sebsterziehung ganz besonders schwer zu erreichen. Denn sie muß gerade auf die wirkungsvollsten Erziehungsmittel verzichten, die anderen Systemen in reichem Maße zur Verfügung stehen, wie z. B. Strafe und Belohnung, Überredung, Vorbilder, Beeinflussung des Unterbewußtseins, Suggestion und anderes. Wer dagegen allein am Rauhen Stein arbeitet, ist auf sein bißchen Energie und Beharrlichkeit angewiesen. Nur zu verständlich ist es daher, wenn er hin und wieder einen kleinen Fortschritt sehen möchte, um beruhigt und mit neuem Mut weiter arbeiten zu können. Im übrigen ist ja auch kein Bruder jemals wirklich allein. Es hilft ihm nicht nur die tröstliche Tatsache, daß seine Brüder auf dem gleichen Wege pilgern und mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Außerdem hilft ihm auch die Freimaurerei selbst im Ritual, das ihn zu immer neuem Nachdenken zwingt, mit der festlichen Gestaltung der Arbeiten, die sein Gemüt bewegt und Begeisterung weckt, mit ihrer Geselligkeit schließlich, die Freude schenkt und Sorgen vergessen läßt. Insgesamt hat also dieser Erzieher und zugleich Erzogene in diesen seinen beiden Funktionen doch recht wirksame und vor allem humane Erziehungshilfen zur Verfügung.
„Lang ist der Weg, der dahin führt!“ Das hat uns allen der Meister zu Beginn unserer Wanderung zugerufen. Besonders jene Ungeduldigen sollten sich darauf besinnen, denen das Ausbleiben schneller Erfolge Sorge macht.
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