Manipulation

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Der Begriff ‚Manipulation‘ wird vom Lateinischen ‚manus – die Hand‘ hergeleitet und begegnet uns im mittelalterlichen Latein mit einem Beleg aus dem 13. Jahrhundert. In einer Legende vom heiligen Genulf wird berichtet, daß ein Ehemann seine blinde Frau zu ihm geführt habe und Genulf sie sehend machte. Für das Führen der Blinden an der Hand wird das Wort ‚manipulare‘ verwendet. Das müßte doch eigentlich für uns ein tröstlicher Hinweis sein, daß wir trotz Manipulation sehend werden können.

Der ursprüngliche Sinngehalt steckt noch in manchen Definitionen der Manipulation, wie zum Beispiel in einer ‚kunstgerechten Handhabung‘, ‚Anwendung der nötigen Handgriffe‘; so steht es im Konversationslexikon von Brockhaus aus dem Jahre 1929. Später erklärte man Manipulation kritischer, aber auch nicht sehr viel präziser. In Meyers Enzyklopädischem Lexikon von 1977 findet man dazu: ‚Beeinflussung des Menschen als Einzelwesen oder als Gruppe zum Zwecke einer systematischen, zielgerichteten Lenkung und Prägung des Bewußtseins, der Denkgewohnheiten, der Gefühlslagen. Manipulation verhindert selbständige Entscheidung, gefährdet die personale und soziale Autonomie des Betroffenen, begünstigt emotional-affektuelles, statt rationales Sichentscheiden, baut jedoch gleichzeitig neue, gewünschte soziale Leitwerte und Beurteilungsmaßstäbe auf, auf denen auf gelernte einfache ‚Signale‘ hin reagiert wird.

Diese etwas verworrene Definition lösen wir auf und ergänzen durch weitere ‚essentials‘, nämlich durch erforderliche Bestimmungen.

  1. Manipulation ist eine Beeinflussungsform, aber nicht jede. Es kommt darauf an, sie richtig einzugrenzen. Nach allgemeiner Auffassung deckt sie nur einen kleinen Teil des Gesamtumfanges der Beeinflussung ab. Mit anderen Worten: Erziehung, Therapie, Information, Predigt, sogar Propaganda und Werbung sind zwar auch Beeinflussung, in der Regel aber keine Manipulation. Sie können es sein, wenn sie die nachfolgenden Bestimmungen erkennen lassen. Andererseits geht Manipulation auch über die Beeinflussung hinaus in das Gebiet der Einwirkung.Bei den Manipulationen der direkten Einwirkungen dreht es sich um Hirnreizungen oder sonstige chirurische Eingriffe, um Drogenwirkungen oder rituelle Deformationen, um Eingriffe in Auslese und genetische Vererbung zum Zwecke der Veränderung von Natur und Verhalten des Menschen. Diese werden von mir ebensowenig in die Erörterung einbezogen wie die Manipulation, die, als ‚Manipulator‘ bezeichnet, eine handähnliche technische Verrichtung ist, um z. B. hinter einer Strahlenschutzwand mit radioaktiven Substanzen hantieren zu können. Wir beschäftigen uns jetzt also ausschließlich mit der psychischen Manipulation, aber auch in dieser Einengung ist es noch ein riesiges Gebiet, bei dem wir keine Vollständigkeit erreichen können.
  2. Manipulation unterscheidet sich von vielen Beeinflussungen anderer Art durch ihre ‚Intensität‘. Es handelt sich bei ihr nicht um eine Nebenbei-Beeinflussung, sondern um eine nachhaltige und auch nachdrückliche Beeinflussung, die tief in den von Manipulation Betroffenen eindringen soll – auch wenn das nicht auffallen darf. An dieser Stelle hier liegt die Begründung für die unterschiedlichen Methoden der Manipulation gegenüber anderen Formen von Beeinflussung.
  3. Manipulateure können nicht offen und ehrlich ihre Zwecke ankündigen, sonst müßten sie mit Überzeugungskraft ganz andere Wege der Beeeinflussung beschreiten. Der Manipulateur benutzt vielmehr die Unkenntnis des Betroffenen oder täuscht über seine wahren Absichten hinweg, um – bildlich gesprochen – im Trüben fischen zu können. Manipulation stützt sich auf eine andere Motivierung als die übrigen Formen von Beeinflussung. Es kommt bei ihr auf die verdeckte, verheimlichte, indirekte Zielsetzung an, die den Betroffenen hintergeht, die ihm etwas vormacht, um ihn umso sicherer in die Finger zu bekommen. Manipulation täuscht den Betroffenen, streut ihm Sand in die Augen. Manipulation ist also auch Irreführung.
  4. Manipulation ist zielgerichtete Beeinflussung zum Vorteil des Manipulateurs. Manipulation kann gelegentlich auch im Interesse des Manipulierten liegen; entscheidend ist aber der Eigennutz des Manipulateurs. Der Betroffene wird durch Manipulation geprellt; es zeigen sich für ihn nur Nachteile oder zumindest keine primären Vorteile, denn sonst könnte auf Manipulation verzichtet werden und stattdessen eine offene Erklärung der Vorzüge treten. Vom Thema her liegen die Manipulationsziele auf wirtschaftlichen, politischen, weltanschaulichen, wissenschaftlichen, privaten – eigentlich auf allen Gebieten. Genauso, wie jeder von Manipulation betroffen werden kann, gerät er auch unversehens in Gefahr, selbst andere manipulieren zu wollen. Das Thema ‚Manipulation‘ kann auch der kritischen Selbsterkenntnis dienen.
  5. Mit Manipulation zwingt man jemanden zu einem bestimmten Verhalten, indem man eine Situation schafft, durch die der Betroffene nicht anders kann, als genau wie vorgesehen zu handeln. Man muß also bestimmte psychische Mechanismen einschalten, die die Freiheit des Handelns einzuschränken in der Lage sind. Diese Mechanismen sind theoretisch verankert in einer Reihe von psychologischen Gesetzmäßigkeiten. Daraus ergeben sich fünf Hauptformen von psychischer Manipulation: a) Geistige Manipulation; durch Eingriffe in den Denkablauf; b) Bedürfnismanipulation; Bedürfnisse, die weit über den Bedarf hinausgehen, eignen sich zur manipulierten Überwältigung, wenn ihre Unabdingbarkeit zwingend nahegebracht wird; c) Gefühlsmanipulation; verführte Gefühle dienen zur Überdeckung vernünftiger Gedanken; d) Gleichschaltungsmanipulation; e) Symbolmanipulation. Dem Manipulateur müssen die Zusammenhänge nicht bekannt sein. Es genügt, wenn er die Techniken beherrscht. Im Gegensatz dazu muß sie der Entdecker von Manipulationsmißbrauch zumindest teilweise kennen, zumal die Beseitigung von Manipulation ohnehin schwerer ist als ihr Einsatz.
  6. Zusätzlich zur inhaltlichen Charakteristik ist die Manipulation bestimmt durch ihre suggestive Methodik. Diese dient der psychischen Fesselung. Man unterscheidet zehn Einzelverfahren suggestiver Methodik: 1) Repetition, d. h. die systematische Wiederholung einprägsamer Formeln. 2) Dynamische Strukturierung, d. h. die Gestaltung von Spannungsgefügen. 3) Frappierung, d. h. die Darstellung von vermeintlichen Gewißheiten. 4) Emotionale Gradierung, d. h. die Steigerung von physisch- emotionaler Bewegung. 5) Soziale Regulation, d. h. die Erregung von Außenseiterbesorgnissen. 6) Prospektion, d. h. die Anbindung an zukünftige Ereignisse. 7) Dispensation, d. h. die Entsachlichung realer Bezüge. 8) Stimulation, d. h. die Verwendung bestimmter Schlüsselreize zur Verklammerung mit den Manipulationszielen. 9) Faszination, d. h. die Herstellung von Ausdruck- und Idolbeziehungen. 10) Repudiation, d. h. die ironisch-sophistische Formulierung der Gegenmeinung, um für die eigene Meinung Hemmungen abzubauen.
  7. Notwendigerweise ist Manipulation ein ‚unbekanntes Tun‘; sie darf nicht auffallen, sie muß unerkannt bleiben, weil sie sonst sofort Mißtrauen erregen würde. Sobald dies geschieht, ist ihre erstrebte Wirkung erschwert oder sogar zunichte gemacht, denn die Menschen wollen nicht manipuliert werden. Jeder ist besorgt, seine Integrität oder innere Freiheit zu verlieren. Das ist eine große Chance, die Manipulateure durch Aufdeckung ihrer Handlungsweise zurückzudrängen. Solande dies noch nicht geschehen ist, bleibt die Manipulation eine geheime Beeinflussung.
  8. Manipulation braucht die leichte Zugänglichkeit, die sogenannte Suggestibilität der Manipulierten. Der Manipulateur muß bestimmte Bedingungen einhalten, muß bessere oder schlechtere Voraussetzungen berücksichtigen. Deshalb hat er es leichter bei Schlecht-Informierten und Unwissenden, bei Naiven und Isoliert-Lebenden, bei Nicht-Lesern oder Schwach-Lesern, besonders unter den Berufsinterlektuellen, bei den Unkonzentrierten und nur Halb-Hinhörenden, bei Leuten in Massensituationen, bei den Selbstunsicheren, dem Tagträumer, dem Leichtgläubigen, bei den Wirklichkeitsblinden, die zur Schonung ihrer Anschauungen nicht alles sehen wollen, bei den unkritischen Zeitgenossen mit geringem geistigen Selbstanspruch und bei denjenigen, die den geistigen Mühen aus dem Weg gehen, bei den strammen und fanatischen Parteigängern, bei den Initiativ-Müden, bei den von sich Eingebildeten, bei den Menschen mit starken, scheinbar unabdingbaren Bedürfnissen, bei Leuten mit gering entwickeltem Langzeitgedächtnis und bei denen, die sich nur kurzfristig für etwas interessieren, sowie bei denjenigen mit geistigen Scheuklappen und einem ganz kleinen Gesichtsfeld und bei Ängstlichen, Leichtverletzlichen und bei Aggressiv-Erregbaren. – Irgendwo unter diesen Gruppen finden wir uns wohl alle wieder: Also dürfte jeder von uns reif für einen entsprechenden Manipulateur sein; und wenn alle Stricke reißen, kann man die Suggestibilität, wo sie zu schwach scheint, steigern oder stärken.
  9. Diese eben erwähnte Willfährigkeit der Betroffenen ist die eine Seite der nötigen Leichtzugänglichkeit für Manipulationen. Die andere Seite betrifft die Erleichterung für das Publikum. Die Eingängigkeit wird auf Kosten der Wahrhaftigkeit erreicht. Manipulierte Mitteilungen verheimlichen die Kompliziertheit und Differenziertheit der Themen und stellen sie so einschichtig dar, als ließe sich die Welt auf einen simplen Nenner bringen. Ferner müssen erst möglichst viele Vorurteile bejaht und bestätigt werden, ehe die eigentlichen Beeinflussungen angebracht werden. Diese müssen in leicht verabreichbaren Häppchen gut gesüßt, umhüllt und garniert mit gängigen Floskeln, z. B. für den kritischen Beobachter, serviert werden, damit sie ungehindert eingehen.
  10. Manipulationen vermeiden rationale Schlußfolgerungen und stützen sich auf verschiedenartige Abwege. Dabei nützen irrationaler Aberglaube ebenso wie unbegründete Hoffnung, platte Selbstverständlichkeit und leere Versprechungen ebenso wie unsachliche Behauptung. Bei Manipulation geht es mehr um Stimmungen und Bilder als um logische Begründungen – in der Hoffnung, daß sich diese intensiver als Vorurteile niederschlagen, anstatt als Urteile alsbald wieder vergessen zu werden. Aus dem vorher Gesagten geht nun hervor, daß zur Manipulation nicht nur ein bedenkenloser Manipulateur gehört, sondern auch jemand, der sich manipulieren läßt, weil er die Widerstände dagegen nicht kennt oder die Situation es nicht anders zuläßt.
  11. Manipulationen sind schwer aufhebbar, weil diejenigen, die sie anzuwenden gelernt haben, selten ein Interesse daran haben, sie in ihrer Wirkung abzuschwächen. Da sich nun einmal Massen in ihrem heutigen, noch unaufgeklärten Zustand besser durch Suggestionen als durch Einsichten und Kenntnisse dirigieren lassen, ist es für alle Herrschenden bequemer und erfolgsversprechender, nicht allzuviel auf Wissenschaft und geistige Minderheiten Wert zu legen. Es gibt also kaum ein Interesse der Mächtigen, die Manipulation zu entlarven. Man würde es sich dadurch nur schwerer machen. Außerdem könnte das eigene Tun unmoralisch aussehen. Folglich enthält Manipulation in sich bereits eine Tendenz zum Widerstand gegen ihre eigene Aufhebung.
  12. Kennzeichen der Manipulation ist die Unterschätzung ihrer Wirkung auf einen selbst. Man trifft selten einen Menschen, der von sich sagt, er sei auch ein Produkt geistiger Manipulation. Schon Goethe hat sich darüber lustig gemacht; von ihm stammt folgender Vers:

    Ein Jemand sagt: Ich bin von keiner Schule
    Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;
    Auch bin ich weit davon entfernt,
    Dass ich von Toten was gelernt.
    Das Heisst – wenn ich ihn recht verstand –
    Ich bin ein Narr auf eigne Hand.

    Nicht die Leugnung von Manipulationswirkungen auf uns und die Verkennung von Manipulationsmaßnahmen durch uns beseitigt die Gefahren, sondern allein der richtige Abbau von Manipulationsbestrebungen. Es ist zwar der Sinn aller Manipulationen, uns wehrlos zu machen, wir sind aber nicht wehrlos. Es gibt eine Reihe von Gegenmitteln, die uns wie bei Infektionskrankheiten mehr oder weniger immun machen können, und die will ich nun zum Schluß aufzählen: 1) Kritische Kenntnis der Manipulation, dazu das alte Sprichwort ‚Wissen ist Macht‘. 2) Die Verstärkung autonomen Selbstbewußtseins. 3) Der Abbau der Faszination. 4) Der Aufbau aktiven Widerstands. 5) Die öffentliche Gegenwehr. 6) Die Gegenmanipulation.

Ich hoffe, mit meinen Ausführungen einen Impuls gegeben zu haben für weitere Anstrengungen, um auf dem steinigen Pfad der geistigen Emanzipation voranzukommen.

 

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