In einer Loge wie dieser, die sich den elitären Anspruch gibt, ein Zusammenschluß von Individualisten zu sein, soll der Versuch erlaubt sein, dem Phänomen der Masse, der Gruppe und ihrer Dynamik nachzuspüren.
Das DTV-Lexikon definiert eine Gruppe als „eine Mehrzahl von Menschen, die als Einheit handeln, weil sie sich von Aufgaben und einer Lage gemeinsam angesprochen und betroffen wissen“, Gruppendynamik als „eine neuere Richtung der Sozialpsychologie, die die psychischen Gesetzmäßigkeiten innerhalb von Gruppen untersucht“. So definiert sind Freimaurer und Gruppen kein Widerspruch, im Gegenteil, die Arbeit am Rauhen Stein ist nur in einer Gemeinschaft von Brüdern, der Gruppe, möglich.
Das Wort Gruppe hat die deutsche Sprache zu Beginn des 18. Jahrunderts aus dem Französischen entlehnt und zunächst in den bildenden Künsten zur Bezeichnung einer Anordnung von zusammengehörenden Figuren und Gegenständen verwendet. Es geht auf das im Althochdeutschen nachgewiesene Wort „Kropf“ zurück, das nicht nur eine Schilddrüsenvergrößerung, sondern auch den „Knoten“ (italienisch groppo) bezeichnet. Wo sich nach Hofstätter Lebens- und Erlebnislinien mehrerer Wesen miteinander mehr oder weniger dauerhaft verknoten, haben wir eine Gruppe vor uns. Einzelne, besonders wichtige Formen der Gruppenbildung, der Staat oder auch die Familie, gehören zu den ältesten Ergebnissen menschlicher Gemeinschaft; nur durch Arbeitsteilung innerhalb der Gruppen konnte bei unseren Altvorderen das Gemeinschaftsinteresse Überleben, Ernähren etc. gewährleistet werden. Wie sehr die Gruppenbildung eine helfende, stützende, heilende Funktion auch ganz besonders in unserer Gesellschaft hat, geben z. B. die Stichworte „Gruppentherapie“ und „Selbsterfahrungsgruppen“ wieder.
Dort aber, wo sich Gruppen gemeinsam angesprochen und betroffen fühlen, wo die Lebens- und Erlebnislinien der Individuen zurücktreten, kommt es zur Vermassung. Ich zitiere Goethes „Faust“:
Daß ich mich nur nicht selbst vergesse,
heiß ich mir das doch eine Messe.
Und Mephisto antwortet:
Der ganze Strudel strebt nach oben;
Du glaubst zu schieben – und Du wirst geschoben.“
Die Masse ist ebenso rätselhaft, wie universell. Einige wenige Leute stehen beisammen; nichts ist angekündigt. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. Von allen Seiten strömen andere zu, so, als hätte die Straße nur eine Richtung. Die Bewegung ist zielgerichtet, dorthin, wo es am schwärzesten ist, dorthin, wo die meisten Menschen beisammen sind. Diese Form der Masse ist offen, ist spontan, und ihre oberste Eigenschaft ist der Drang zum Wachsen. Die natürliche Masse ist die offene Masse; ihrem Wachstum sind keine Grenzen gesetzt. Wächst sie nicht mehr, zerfällt sie, und zerfällt so plötzlich, wie sie entstanden ist. Sie ist in ihrer spontanen Form also außerordentlich empfindlich.
Im Gegensatz zur offenen Masse, die praktisch ins Unendliche wachsen kann, steht die geschlossene Masse, die Übergruppe. Was an ihr auffällt, ist die Grenze. Sie schafft sich ihren Ort, indem sie sich begrenzt. Die Grenze wird respektiert, sei sie aus Stein oder durch Aufnahmeriten und Aufnahmegebühr ausgebildet. Sie grenzt sich ab zu den Außenstehenden. Die Grenze verhindert die regellose Zunahme, aber auch den schnellen Zerfall. Was an Wachstumsmöglichkeiten geopfert wird, gewinnt sie an Beständigkeit.
Betrachten wir die Eigenschaften einer Masse, so sehen wir neben ihrem Wachstumsgesetz das Gesetz der Gleichheit. Das distanzierende „Sie“ verschwindet, das „Du“ tritt an seine Stelle. Die Gleichheit ist von solch absoluter Wichtigkeit, daß man die Masse als den Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. Die Masse liebt die Dichte und sie braucht die Richtung. Die Richtung, die allen Angehörigen gemeinsam ist, stärkt das Gefühl der Gleichheit. Die Masse besteht, solange sie ein unerreichtes Ziel hat. Jede der vier Eigenschaften kann mehr oder weniger dominieren; alle vier gehören zu den Erscheinungsformen der Masse. Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die Entladung. Sie ist ein massebestimmendes Phänomen. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheit loswerden und das Gleiche fühlen. Die Verschiedenheiten, insbesondere die äußeren Ranges, Standes und Besitzes, die einen Abstand zum Nächsten schaffen, werden durch die Entladung beseitigt. Sie fühlen sich frei. Doch das ist die Gefahr für die Masse: Dem Gefühl folgt die Realität. Besteht die Massenpsychose nicht in einer fortwährenden Entladung, suchen die Angehörigen ihre alte Identität wieder. Die Masse zerfällt.
Eine Gefahr, aber auch das Charakteristikum einer Masse, ist nach Le Bon ihre Suggestibilität, die sie für den Mißbrauch anfällig werden und in bestimmte Richtungen wie z. B. in ihren gefühlsmäßigen Erscheinungen (Massenhysterie etc.) oder in ihren motorischen Kräften leiten läßt. So unterscheidet Elias Canetti in seinem Buch „Masse und Macht“ Hetzmassen, Fluchtmassen, Verbotsmassen und Umkehrmassen.
Die Hetzmasse bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel. Sie ist auf Verfolgen und Töten aus. Es genügt, dieses Ziel bekanntzugeben und mitzuteilen, wer getötet werden soll, damit die Masse sich bildet. Es kommt zu aktiven und passiven Gemeinschaftsaktionen, aktive Aktionen wie beispielsweise dem Steinigen, wo die Masse und keine Einzelvollstrecker tötet, sowie den passiven, wie bei der Teilnahme an öffentlichen Hinrichtungen beispielsweise während der Französischen Revolution. Heute hört und liest man von Hinrichtungen in den Medien; man sitzt in Ruhe und kann unter 100 Einzelheiten bei denen verweilen, die einen besonders erregen. Im Publikum der Zeitungsleser und Fernsehzuschauer hat sich eine gemilderte, aber durch ihre Distanz von den Ereignissen um so verantwortungslosere Hetzmasse am Leben erhalten.
Die Fluchtmasse wird durch die Richtung gekennzeichnet. Es gehört zu ihr, daß alles flieht; alles wird mitgezogen. Die Gefahr, von der man bedroht wird, ist für alle die gleiche. Man flieht zusammen, weil es in der Masse besser geht. Das Auffallende und Typische an dieser Massenflucht ist ihre gleiche Richtung. Wird sie zu einer Änderung der Richtung gezwungen, entsteht die Panik, in der die Energie durch Zusammenhalt zusammenbricht. Das natürliche Ende der Flucht ist die Erlangung des Ziels. In der Sicherheit löst sich die Masse wieder auf.
Eine besondere Art von Masse bildet sich aus dem Verbot. Viele wollen nicht mehr das tun, was sie bislang als einzelne getan haben. Sie legen sich Verbote selber auf. Das Verbot hat die Unbedingtheit eines Befehls. Sobald das Verbot ausgesprochen ist, beginnt sich die Masse zu bilden. Das beste Beispiel ist der Streik. Der Arbeiter, der bis dahin gewöhnt war, zu bestimmten Zeiten eine Arbeit regelmäßig zu verrichten, erlegt sich selbst ein Verbot auf. Der Streik ist eine Entladung. Kommt es zu einem Streik, werden die Arbeiter in verbindlicher Weise gleich, in der Weigerung weiterzuarbeiten. Das Verbot der Arbeit schafft eine akute und widerstandsfähige Gesinnung: „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!“
Die Umkehrmassen entstehen aus einer Umkehr klassenunterschiedlicher Strukturen und können, je nachdem, Hetz- oder Fluchtmassen sein. So können Erhebungen von Sklaven gegen ihre Herren, Soldaten gegen ihre Offiziere, Farbige gegen Weiße, Massen bilden. Immer haben die einen unter der Gewalt der anderen gestanden. Nach Erreichen des Zieles lösen sich diese Massen auf und bilden neue Gewaltenstrukturen, nur diesmal unter anderen Vorzeichen!
Gemeinsam ist den Massen der Wunsch nach Macht und Gewalt. Macht und Gewalt sind eng miteinander verbunden, aber doch graduell verschieden. Das Verhältnis zwischen Katze und Maus läßt sich hier als Beispiel anführen: Hat die Katze die Maus gefangen und gepackt, so ist sie in der Gewalt der Katze. Sie wird sie töten und verspeisen. Spielt die Katze mit der Maus, läßt sie sie laufen und greift sie wieder, so besitzt die Katze die Macht, die Maus zu töten oder am Leben zu lassen. Macht selbst setzt also einen gewissen Abstand zur Gewalt voraus und beinhaltet einen Entscheidungsprozeß. Dieser, von einer elitären Gruppe getragen, stört die Homogenität der Masse und kann sie zum Zerfall bringen. Daraus folgt, daß im wesentlichen die Gewalt die Ausdrucksform der Masse ist. Dies gilt für die spontane Masse. Wo die Spontaneität verloren geht, zerfällt entweder die Masse oder sie stellt sich unter eine Führung. Die Masse wird dann zu einer folgsamen Herde, die nicht ohne Herrn leben kann. Sie ist bedingungslos bereit zur Unterordnung. Kommt einem Führer das Bedürfnis der Masse zur Unterordnung entgegen, muß er seinerseits Eigenschaften besitzen, welche die Masse fasziniert. Er muß einen starken Glauben an eine Idee haben. Er muß diesen Glauben auf die Masse übertragen können und einen starken, imponierenden Willen besitzen.
Wie sieht es in der Masse selbst aus? Le Bon spricht, widersprochen von der modernen Sozialpsychologie, von einer Massenseele, die impulsiv, wandelbar und reizbar ist. Eine der Ursachen besteht darin, daß das Individuum in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die es allein gezügelt hätte. So schwindet die bewußte Persönlichkeit zu gunsten einer unbewußten. Gedanken und Gefühle werden durch Suggestion und Ansteckung in eine bestimmte Richtung gezwungen, der Tod der Individualität. Die Individualität, die Fähigkeit nach allen Seiten hin offen zu sein, sich kritisch mit sich und seiner Umwelt auseinandersetzen zu können und der Konformität einer Masse zu widerstehen, zeichnet den Freimaurer aus. Der Freimaurer in seiner Geisteshaltung braucht keine abgeschlossene Loge. Der Freimaurer als Mensch in einer ihm mit Unverstand und Abwehr gegenüberstehenden Massengesellschaft braucht die Gruppe, die Loge, die dann, und hier schließt sich der Kreis, auch einmal (scherzhafte) Einstimmigkeit nach außen trägt.
* * *