Das Wort leitet sich von dem lateinischen Patria = Vaterland ab. Da man mit „-ismus“ im allgemeinen eine Weltanschauung bezeichnet, ist Patriotismus die Weltanschauung von dem Vaterland oder anders, die zur Weltanschauung erhobene Vaterlandsliebe. Der Duden bezeichnet als einen Patrioten jemanden, der sich für das Wohl des Landes, in dem er geboren wurde und in dem er lebt, mit Mut und Idealismus und ohne auf sich selbst Rücksicht zu nehmen, einsetzt, wenn dem Lande Gefahr droht oder wenn er glaubt, daß dem Lande Schaden zugefügt werden könnte.
Da ich nicht in dem Land lebe, in dem ich geboren wurde, habe ich demnach zwei Vaterländer, was für mich die Sache insofern kompliziert, als es einen Doppelpatriotismus bislang noch nicht gibt – im Gegensatz zu einer doppelten Staatsangehörigkeit. Aber es gibt Weltoffenheit und Weltbürgertum, und darin möchte ich den Gegensatz zum Patriotismus sehen. Welches von beiden dem Geist der Freimaurerei näher kommt, brauche ich Freimaurern nicht zu erklären.
Sinnverwandt mit dem Begriff Patriotismus sind Nationalismus und Chauvinismus. Der Duden definiert diese beiden so: Nationalist ist jemand, der aus überspitztem Nationalbewußtsein die Macht und die Größe der eigenen Nation als höchsten Wert erachtet. Chauvinist ist schließlich jemand, der von solch einer übersteigerten Bewunderung für sein eigenes Land erfüllt ist, daß er den Wert anderer Länder nicht anerkennt, deshalb ihnen gegenüber voreingenommen ist und der sehr einseitig und auch skrupellos und ohne Rücksicht auf die Interessen anderer vorgeht, um Macht und Ansehen seines Landes zu mehren.
Meine Generation hatte das zweifelhafte Vergnügen, diese Steigerung in ihrer krassesten Form mit allen ihren Konsequenzen real zu erleben. Man muß sich fragen, wie es möglich ist, daß Menschen einer derartigen Verblendung verfallen können. Das dürfte verschiedene Ursachen haben.
Da ist einmal ein angeborenes Wir-Gefühl, das sich auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich auswirkt. Familie, Verein, Gemeinde, Volk, Völkergemeinschaft; jedoch auch Berufsgruppe, Klasse, politische Partei usw., vor allem auch Sprache. Ein Mensch fühlt sich dem Volk zugehörig, in dessen Sprache er denkt. Wer wie ich zweisprachig aufgewachsen ist und in zwei Sprachen denken kann, wird meist kein Patriot.
Zu Exzessen des Wir-Gefühls kam und kommt es meist auf zwei Ebenen, auf nationaler Ebene und bei den Hooligans unter den Fußballfans. Auf diesen beiden Ebenen zeigen sich Verhaltensweisen mit einer Rollenverteilung, welche die Eskalation bewirkt. Da sind einmal die Rufer oder Vorsänger, welche die Gesänge intonieren und dabei eine Auswahl aus einem Repertoire von Sprüchen vornehmen, mit denen die gegnerischen Fans gereizt werden. Eine andere Gruppe stellt gegnerische Autoritäten in Zweifel. Sie diffamiert und erniedrigt den Gegner. Dann gibt es Leute, die unberechenbare und unvorhersehbare Handlungen ausführen, Steine werfen, Attentate begehen. Sie sind die Initiatoren von Krawallen und geben das Zeichen für Gewaltanwendung – meist aus der Anonymität heraus. Schließlich ist da noch die Gruppe derer, die etwas zerstören. Das können Sachen oder einzelne Menschen aber auch soziale Situationen sein, von der Mißachtung des Straßenverkehrs bis zur Ausrottung ganzer Völker. Auf beiden Ebenen vollzieht sich hier ein moralischer Verwahrlosungsprozeß.
Auf nationaler Ebene ist Ausgangspunkt einer solchen Entwicklung stets entweder ein Tiefpunkt oder ein Höhepunkt nationaler Macht bzw. Ohnmacht. Beispiele dafür sind etwa die Napoleonische Besetzung Deutschlands mit den darauf folgenden Freiheitskriegen und schnell eskalierendem deutschen Nationalismus und andererseits die Auslösung des deutsch-französischen Krieges 1870/71, wo eine simple Pressemeldung, wonach sich der Preußische König weigert, den französischen Botschafter zu empfangen, in höchster nationaler Empfindlichkeit den Krieg unvermeidbar werden ließ: „Rache für Sadowa“. Keiner hatte den Krieg gewollt, aber beide waren dazu bereit. Auch der Ausbruch des ersten Weltkriegs erfolgte in so einer Situation patriotischen Überschwangs.
Geschichtliches zu diesem Thema kann ich hier nur in groben Zügen auszuführen: Von den alten Römern sind über das Vaterland zwei Sprüche besonders bekannt: „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“und „Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland“. Der erste stammt aus der Phase des Römischen Reiches, in der die Römer ihre „Virtu“, das heißt etwa tugendhafte Tüchtigkeit hochhielten. Der zweite dürfte aus der Zeit stammen, als die römischen Kaiser ihren altgedienten Soldaten zur Belohnung Land gaben, hauptsächlich im heutigen Frankreich, Spanien und Rumänien.
Im Mittelalter spielte der Patriotismus kaum eine Rolle. Damals ging es mehr um religiöse und später auch um materielle Werte. Die eigentliche Geburtsstunde des Patriotismus schlug in der Französischen Revolution. Die Republik brauchte einen geistigen Ersatz für das Königtum, und da verfiel man auf das Vaterland. Dieses Wort kommt auch prompt in der französischen Nationalhymne vor, die aus dieser Zeit stammt. Es heißt dort: „Vorwärts Kinder des Vaterlandes …“ und wie nicht anders möglich, artete dieser französische Patriotismus in einen krassen Nationalismus aus.
In Deutschland begann sein Aufstieg unter der Napoleonischen Besatzung. Hier war er der geistig-moralische Antrieb für die Freiheitskriege. Es begann mit einem anonymen Flugblatt, das mit den Worten: „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“ tituliert war. Im Wortlaut hieß es unter anderem: „…dort, wo seit Jahrhunderten Pläne zum Untergang unseres Vaterlandes geschmiedet und die Mordfackel so oft angezündet worden, im treulosen Pariser Kabinette, entwirft Napoleon, dessen schimpflicher Oberherrschaft unsere Fürsten wie schlaftrunken zusehen, eine neue deutsche Staatsverfassung und damit es weder klein noch groß unter uns in den Sinn kommen möge, dieses neue französische Joch unter uns abzuschütteln, läßt er seine Heere im ohnmächtigen Deutschland zu Hunderttausenden stehen.“Am Schluß dieser Schrift rief der Anonymus dazu auf, den französischen Besatzungssoldaten mit Waffengewalt zu begegnen.
Den Verfasser kennt man bis heute nicht. Aber der Verleger wurde ausfindig gemacht. Es war ein gewisser Johann Philip Palm, Buchhändler ans Nürnberg. Napoleon ließ ihn ordnungsgemäß erschießen, und die deutschen Patrioten hatten ihren ersten Märtyrer. In Berlin sammelte man für die Witwe. „Die Sache ist empörend. Worte muß man darum nicht machen, Gott gebe Kriegt!“ schrieb der Verleger Friedrich Campe. „Es ist die einzige Rettung. … An Hilfe fehlt es wirklich nicht. Es ist nur eine Stimme im ganzen Lande und die gefesselten Länder werden die wütendsten sein.“ Der Krieg, so nachdrücklich von Gott erfleht, kam.
Ein anderer, nicht auf den Krieg hinzielender Ausspruch eines deutschen Patrioten stammt vom Freiherrn von Stein: „Ich habe nur ein Vaterland“, dies war sein Grundsatz, „und das heißt Deutschland und da ich nach alter Verfassung nur ihm und keinen besonderen Teil desselben angehöre, so bin ich auch nur ihm und nicht einem Teil desselben von ganzem Herzen ergeben.“ Er war Hesse, und Preußen mit seinem König und seinen Junkern war ihm Hekuba. Patriotisches, so friedlich formuliert, findet man selten.
Am 20. März 1813 erließ der preußische König seinen Aufruf „An mein Volk“. Zum ersten Mal legte hier ein Monarch Rechenschaft ab über die Ursachen des bevorstehenden Krieges und bat sein Volk, zu dem er auch die Litauer zählte, ihm bei diesem Kampf zu helfen. Dieser Aufruf endete mit den Worten: „Es ist der letzte entscheidende Kampf, den wir bestehen für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unseren Wohlstand; keinen anderen Ausweg gibt es als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem würdet ihr getrost entgegen gehen um der Ehre willen, weil ehrlos der Preuße und der Deutsche nicht zu leben vermag.“Ende des Zitats.
Da haben wir wieder so einen Vorsänger und Rufer. Wer keinen Krieg will, ist ehrlos. Wie tolerant!
Daraufhin meldeten sich etwa 25000 bis 27000 Freiwillige; davon waren rund 2000 Studenten und akademische Berufe sowie Gutsbesitzer und 10300 Handwerker. Auch die Zahl der Kaufleute und Gewerbetreibende war nennenswert. Kaum vertreten waren Arbeiter und Bauern. Die wußten damals noch nicht, für welche Unabhängigkeit und welchen Wohlstand sie kämpfen sollten.
Noch schöner sang und rief der Patriot Scharnhorst: „Es Ist eine grobe und herzerhebende Zeit,. Es wird mir schwer, mich der Tränen im enthalten, wenn ich all diesen Edelmut, diesen hohen deutschen Sinn gewahr werde. Welches Glück gelebt zu haben, bis diese weltgeschichtliche Zeit eintrat. Nun mag man gerne sterben …“
Es gab damals eine Menge solcher Vorsänger: Die Romantiker, die in der ruhmvollen Kaiserzeit des Mittelalters die Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen aufspürten. Die protestantischen Pfarrer, die aus dem Freiheitskampf einen Kreuzzug machten. Publizisten und Poeten wie Arndt, Schenkendorf, Kleist, Körner mit ihren Kriegsliedern. Fichte mit seinen „Reden an die deutsche Nation“, einem Versuch, dem deutschen Volk das Bewußtsein einer Sendung zu geben. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.
Das alles war schon reiner Nationalismus und etwas Chauvinismus und konnte zu gar nichts anderem führen als zu Kriegen, und das tat es dann auch.
Noch einen Vorsänger will ich zitieren. Theodor Körner schrieb in Vorahnung seines Todes einen Brief an seinen Vater, der dokumentarischen Wort für den Geist dieser Zeit hat:: „… Jetzt ist es bei Gott die mächtige Überzeugung, daß kein Opfer zu groß sei für das höchste menschliche Gute, für seines Volkes Freiheit. Vielleicht sagt Dein bestochenes väterliches Herz: Theodor ist zu größeren Zwecken da, er hätte auf einem anderen Feld Wichtigeres und Bedeutendes leisten können… Aber Vater, meine Meinung ist die: Zum Opfertod für die Freiheit und für die Ehre seiner Nation ist keiner zu gut, wohl aber sind viele zu schlecht.“
Nachdem der Sieg errungen war, versammelten sich im Oktober 1817 etwa 500 Studenten, um mit Feuer, Fackeln und Gesang die Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig wachzuhalten. Sie gehörten der Burschenschaft an, einer 1815 in Jena von jungen Kriegsteilnehmern gegründeten Vereinigung, auf deren schwarzrotgoldenen Fahnen der Ruf nach einem einheitlichen Deutschland stand und die Losung: Ehre, Freiheit, Vaterland.
Die Könige und Fürsten nahmen damals diese Worte nicht mehr in den Mund; denen stand der Sinn nicht mehr nach dem deutschen Vaterland sondern nach ihrer eigenen Hausmacht. Das Gebiet, das sich Reich nannte (bis 1806), war in 1790 Herrschaftsgebiete zersplittert.
Als der Theologiestudent Karl Ludwig Sand den Literaten August Kotzebue, einem Agenten des Zaren, erstach, wurde die ganze Burschenschaft verboten, die Zensur wieder eingeführt. Wer patriotische Sprüche machte, wurde als Revolutionär verfolgt und eingesperrt. Das konnten sie auch unter Napoleon haben. So mancher Patriot saß als Emigrant beim bösen Feind in Frankreich. Das war das Ende des ersten Kapitels des deutschen Patriotismus (Karlsbader Beschlüsse).
Den weiteren Verlauf kann ich nur sehr gerafft skizzieren. Mit fast den gleichen Sprüchen und einer enormen Begeisterung zogen Patrioten aller Großmächte Europas in den ersten Weltkrieg, um Ströme von Blut zu vergießen, zumal den Generälen nichts anderes einfiel, als feindliche Maschinengewehrkugeln von der Brust der eigenen Soldaten auffangen zu lassen; zum Beispiel bei Langemark, Verdun und an der Somme. Bis heute weiß man noch nicht genau, worum es im ersten Weltkrieg eigentlich ging. Es waren doch alle kriegführenden Vaterländer frei und im vollem Besitz ihrer Ehre und ihres Staatsgebiets. Warum rief man dann also: „Gott strafe England!“ und ähnliches? Man wollte es den anderen eben mal zeigen, für Ehre und Vaterland, und verfuhr dabei nach dem gleichen Schema wie die Hooligans in den Fußballstadien.
Am 30. Januar 1933 hatte es wieder einmal angefangen mit „Deutschland erwache“ und „Juda verrecke“; von „Blut und Boden“ war die Rede und neuem Lebensraum im Osten. Diesmal gab es nur einen Vorsänger, aber der war ein Genie auf diesem Gebiet. 11 andere Staaten haben wir überfallen und ein Volk nahezu vernichtet. Angefangen hat das mit vaterländischen Sprüchen und geführt hat es zu Völkerhaß und Verachtung. Bei vielen hielten diese Gefühle bis zum Frühjahr 1945 vor. Eine Befragung, die eine Illustrierte bei Kriegsteilnehmern durchgeführt hat, darüber, welche Gefühle sie hatten, als sie bei Kriegende sahen, wie westliche feindliche Truppen Deutschland besetzten, ergab, daß da ein Schnitt durch die Generationen ging, der etwa um den Jahrgang 1926 herum liegt. Die Älteren empfanden ein Gefühl der Bitterkeit, als sie die ersten Amerikaner sahen. Die Jüngeren, und zu denen gehörte auch ich, freuten sich.
Und wie steht es heute in einer Zeit, in der Gefahren nur noch international zu bekämpfen sind, um unseren Patriotismus? Patriotismus heute, das ist der Umweltschutz, das ist die Bewahrung des Rechtsstaats und der Grundrechte, das ist die Bewahrung dessen, was die liberalen Menschen erstritten und die Nationalisten immer wieder zerstört haben. Es ist die Bewahrung des Friedens und zwar um jeden Preis. Man muß Tatsachen, die durch einen Krieg geschaffen wurden, auch einmal hinnehmen und nicht durch einen neuen Krieg zu ändern trachten. Mit Ehre und Vaterland ist da nichts anzufangen.
Ein guter Patriotismus heute hat nicht die Losung Ehre und Vaterland. Das ist der schlechte Patriotismus, der zu Unehre, Krieg und abscheulichen Verbrechen geführt hat. Ein guter Patriotismus heute verlangt nach Vorurteilslosigkeit; das heißt Aufgeschlossenheit gegenüber Problemen anderer Völker, das heißt Toleranz gegenüber Andersdenkenden und das heißt das Streben nach ausschließlich humanen Lösungen der nationalen Probleme. Und nur dieses deckt sich mit freimaurerischen Grundsätzen.
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