Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?
Ausgehend von diesen drei Fragen hatte Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 seine Philosophie der Aufklärung entwickelt. Später ergänzte er sie um die vierte Frage Was ist der Mensch?.
Ich möchte heute einige Gedanken der zweiten Frage widmen: Was soll ich tun?
Der Zeremonienmeister hat eben jedem hier Anwesenden ein Samenkorn gegeben. Du hältst es nun in Deiner Hand. Schau es Dir in Ruhe an. Es ist so klein und enthält doch so Vieles! Welche Pflanze wohl daraus wachsen wird, wenn Du es einpflanzt und wachsen lässt? Welche Form werden die Blätter haben, wie groß wird die Pflanze werden? Wird sie gerade wachsen oder rankend auf der Suche nach Licht sich winden? Welche Art werden ihre Blüten sein und Früchte? Wird sie duftend Dich erfreuen? Kannst Du später vielleicht aus ihrem Holz oder aus ihren Fasern allerlei Nützliches herstellen? Vielleicht ist sie auch schmackhaft, für Dich oder die Vögel?
Was auch immer sich daraus entwickeln mag, was auch immer Du möglicherweise später damit anfängst: es ist bereits in diesem kleinen Samenkorn fertig angelegt!
Dennoch ist es ein weiter Weg vom Samenkorn bis zur fertigen Pflanze. Und erwartest Du gar eine ganz bestimmte Pflanze und eine ganz bestimmte Frucht, musst Du vielerlei Dinge beachten.
Zum einen musst Du natürlich den richtigen Samen auswählen. Möchtest Du Bohnen ernten, säe keinen Weizen. Der Samen darf auch nicht zu alt sein, muss jedoch auch seinerseits lange genug an der Pflanze gereift sein, um keimen zu können. Auch solltest Du wissen, ob Dein Samen zum Beispiel Licht oder Dunkelheit, Kälte oder Hitze zur Keimung benötigt.
Zum anderen muss der Boden in einer Weise beschaffen und vorbereitet sein, welche für das Gedeihen der jeweiligen Art von Pflanze förderlich und geeignet ist. Er darf nicht zu feucht sein und nicht zu trocken, nicht zu schwer und nicht zu krümelig, nicht zu sauer und nicht zu basisch und so weiter.
Drittens wirst Du vermutlich dem Pflänzchen helfen müssen, zu wachsen. Du wirst es schützen und stützen, düngen und wässern, vielleicht in seinem Umkreis unerwünschte Kräuter jäten und Fressfeinde, Frost und Hagel fernhalten müssen.
Vieles kann schiefgehen – lang und voller Gefahren ist der Weg von der Saat bis zur Ernte! Ein positives Ergebnis ist Dir am Anfang keineswegs sicher!
Warum bemühe ich mich, Dir dieses Bild heraufzubeschwören?
Vielleicht erinnert es Dich an die Parabel von der biblischen Vertreibung aus dem Paradies: im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot verdienen. Erwartest Du ernsthaft, dass Dir die gebratenen Tauben von selbst in den Mund fliegen, wirst Du sehr schnell des Hungers sterben.
Allerdings – und darauf will ich hinaus – ist dieses Bild auch ein Gleichnis für unsere freimaurerische Arbeit am rauhen Stein und am großen Tempelbau. Es ist eine Aufforderung, tätig zu werden – und tätig zu bleiben. Wie schnell der Boden für ganz andere Dinge als die Ideen von Freiheit, Toleranz und Humanität bereitet ist, hast Du gerade wieder einmal bei den Wahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika gesehen. Und vermutlich blüht uns in Deutschland demnächst ein ebenso gewöhnungsbedürftiges Wahlergebnis. Es ist also notwendig, Rückschläge in unserer Arbeit zu verkraften und im Zweifelsfalle oder sogar turnusmäßig auch mal ganz von vorne anfangen zu können. Unbeirrt vom Lärm der Zeit geht der Maurer seinen Weg. Denn eines ist ganz sicher:
Du musst auf jeden Fall erst säen, um (vielleicht) jemals ernten zu können!
Wie einfach! Und gleichzeitig wie schwer! Es ist wahrhaftig eine lebensfüllende Aufgabe.
In diesem Sinne ist das Samenkorn mit dem darin implizierten Gleichnis vom Säen und Ernten eine Antwort auf die zweite Kantische Frage „Was soll ich tun?“. An der Verwirklichung einer Idee zu arbeiten ist eine Tätigkeit, deren Ziel nicht in sich selbst liegt, sondern die auf ein Ziel außerhalb dieses Tätigseins gerichtet ist. Genauso, wie Du vielleicht schon den Bratenduft in der Nase spürst, wenn Du die Kartoffeln in die Erde legst, erfolgt die Arbeit am rauhen Stein und am Tempelbau der Humanität nicht um ihrer selbst willen! Und auch nicht nur für Dich selbst, denn der Tempelbau ist eine gemeinschaftliche, eine gesellschaftliche Aufgabe. Dennoch ist es genau Deine Arbeit, auf die es ankommt, es ist genau Dein Beitrag, der geleistet werden muss!
Denn legst Du frustriert und resigniert oder einfach, weil es Dich nicht interessiert die Hände in den Schoß, bedeutet das Stillstand und Tod. Hast Du die Arbeit erst einmal begonnen, musst Du sie mit Eifer und Beharrlichkeit und auch mit einer Portion Wissen und Geschick vorantreiben. Möglicherweise brauchst Du Hilfe und Unterstützung dabei. Lass das zu, nimm guten Rat an! Und lass Dich nicht entmutigen von dem Gedanken, dass Dein Beitrag am großen Bau möglicherweise sehr klein sein mag und im großen Getriebe der Welt wenig mehr als Nichts zählen könnte. Denn selbst wenn Du persönlich in Deinen gesamten bisherigen und zukünftigen Leben (scheinbar) nichts von Bedeutung oder Wert zu erschaffen vermagst, musst Du doch der Zukunft eine Chance geben! Jener Zukunft, die in dem bescheidenen Samenkorn ruht, welches die Idee vom Tempelbau der Humanität darstellt – und die darauf wartet, dass wir die Bedingungen bereiten, unter denen sie die in ihr liegenden Möglichkeiten entwickeln kann.