Es gibt eine ganze Menge von Leuten, auch Freimaurer, die das reine, vorbehaltlose, kritische Denken, also die Philosophie und die mit ihr verwandten Disziplinen, die Soziologie z.B., für eine Luxusbeschäftigung von Intellektuellen halten. Diese abschätzige Betrachtungsweise hat im wesentlichen drei Gründe:
- Die anscheinende Unbekümmertheit der Philosophie um die wirklichen Probleme des Menschen,
- ihr offenbar geringer Einfluß auf die Praxis des täglichen Lebens und
- die Schwierigkeit, abstrakt zu denken.
Daher gilt das allgemeine Interesse, wenn es über Parteipolitik und Tagesereignisse hinausreicht, mehr den realitätsbezogenen Wissenschaften. Aber Philosophie ist gewissermaßen die Grundlagenforschung der Realität und verändert diese über das Bewußtsein der Menschen; ein Prozeß, der nicht sofort bemerkt wird, wie z.B. die Erfindung der Dampfmaschine, sondern seine Zeit braucht, dann aber ungeheure Wirkungen zeigen kann. Das haben Männer wie Locke, Adam Smith, Kant, Hegel, Karl Marx u.a. bewiesen. Ein solcher Mann ist auch Herbert Marcuse, dessen Arbeiten das Bewußtsein der heutigen akademischen Jugend beeinflußt und damit verändert haben. Die Auswirkungen seiner Gedanken, über die ich jetzt berichten will, sind noch nicht zu übersehen, die Gegenwart ist jedenfalls beunruhigt. Das ist Grund genug für alle, die über den Tag hinausdenken und geistig interessiert sind, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Herbert Marcuse wurde 1898 in Berlin geboren und studierte an den Universitäten Berlin und Heidelberg Philosophie. Er hat sich aktiv an der Neuentdeckung des Marxismus beteiligt. 1933 emigrierte er nach Genf und ging 1934 nach New York, wo er Mitglied des Institute of Social Research an der Columbia Universität wurde. 1942-1950 war er Sektionschef im Office of Strategy Services im State Department in Washington. Die folgenden Jahre sehen ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter und Dozenten am Russischen Institut der Columbia Universität sowie am Russian Research Center der Harvard Universität. 1954 wurde Marcuse Professor für politische Wissenschaften an der Brandeis-Universität Waltham. Heute, als 76-jähriger, wirkt er an der University of California. Marcuse sieht die Verhältnisse in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, zu der sich nach seiner Ansicht die modernen Staaten in Ost und West entwickelt haben, als unbefriedigend an. Er nennt sie ausbeuterisch, repressiv und grausam.
Was er bietet, ist eine kritische Theorie, die trotz äußerster Abstraktion nicht eigentlich eine Analyse des Bestehenden, sondern mehr eine Beschreibung ist, ganz im Gegensatz zu Karl Marx, der komplexe gesellschaftliche Phänomene in ihre zum Teil widersprüchlichen Elemente zerlegte, dann nach Funktionsgesetzen suchte, die sie erklärbar machten und aus den nun verständlich gewordenen Zusammenhängen nicht nur die gesellschaftliche Gegenwart zu begreifen, sondern auch ihre zukünftige Richtung abzuleiten suchte. Marcuse untersucht nicht von innen, sondern beschreibt das, was er vor sich sieht, gewissermaßen ganzheitlich von außen. Für ihn hat sich der Geist des Kapitalismus, der durch methodische Mittelverwendung zunächst die Produktionssphäre revolutionierte, über alle gesellschaftlichen Lebensbereiche hin ausgebreitet. Seine moderne Äusprägung durchzieht gleichermaßen manipulierten Freizeitraum, versteinerte Parteimaschinerie, entfremdete Arbeit und gigantische Vernichtungsapparate. Motor dieser Entwicklung ist der technische Fortschritt, die technologische Rationalität. Sie ist die Erfahrung, Umgestaltung und Organisation der Natur und des Menschen zum bloßen Stoff von Herrschaft. Ich zitiere:
„Indem diese Entwicklung sich entfaltet, modelt sie das gesamte Universum von Sprache, Handeln, von geistiger und materieller Kultur. Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt. Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft. Technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden. Politische Macht setzt sich heute durch vermittels ihrer Gewalt über den maschinellen Prozeß und die technische Organisation des Apparates.“
Was ist nun Herrschaft in Sinne von Herbert Marcuse?
Er sagt:
„Bei allem Wechsel ist die Herrschaft des Menschen über den Menschen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch immer das geschichtliche Kontinuum, das vortechnische und technische Vernunft verbindet. Jedoch ändert die Gesellschaft, welche die technische Umgestaltung der Natur entwirft und ausführt, die Praxis der Herrschaft, indem sie allmählich die persönliche Abhängigkeit (des Sklaven vom Herrn, des Leibeigenen vom Grundherrn, des Herrn vom Lehnsherrn usw.) durch die Abhängigkeit von der „objektiven Ordnung der Dinge“ (von ökonomischen Gesetzen, vom Markt usw) ersetzt. Freilich ist die „objektive Ordnung der Dinge“ selbst ein Resultat der Herrschaft, aber bei alledem ist wahr, daß die Herrschaft jetzt eine höhere Rationalität hervorbringt, – die einer Gesellschaft, die ihre hierarchische Struktur beibehält, während sie die natürlichen und geistigen Resourcen stets wirksamer ausbeutet und die Erträge dieser in stets wachsendem Größenverhältnis verteilt. Die Grenzen dieser Rationalität und ihre unheilvolle Kraft erscheinen in der fortschreitenden Versklavung des Menschen durch einen Produktionsapparat, der den Kampf ums Dasein verewigt und zu einem totalen, internationalen Kampf ausweitet, der das Leben jener zugrunde richtet, die diesen Apparat aufbauen und benutzen.“
Und an anderer Stelle:
„Herrschaft wird in Verwaltung überführt. Die kapitalistischen Herren und Eigentümer verlieren ihre Identität als verantwortliche Kräfte. Sie nehmen die Funktion von Bürokraten in einer körperschaftlichen Maschine an. In der umfassenden Hierarchie geschäftsführender und managerieller Ausschüsse, die sich weit über die Einzelunternehmen hinaus auf das wissenschaftliche Laboratorium und Forschungsinstitut, die nationale Regierung und das nationale Interesse erstrecken, verschwindet die reale Quelle der Ausbeutung hinter der Fassade objektiver Rationalität. Haß und Enttäuschung werden ihres spezifischen Zieles beraubt und der technologische Schleier verhüllt die Reproduktion von Ungleichheit und Versklavung.“
Die moderne Form der Herrschaft ist nach diesen Zitaten nicht mehr die unmittelbare Herrschaft des Menschen über den Menschen, sondern, wenn man Marcuse folgt, ihre viel wirksamere Art über die Verwaltung und den technologischen Apparat. Mehr und mehr verwandelt sich die Herrschaft in Anonymität. Vor dem Apparat scheint jedermann, selbst wenn er an der Spitze steht, machtlos zu sein. Die Kontrolle wird von Büros ausgeübt, in der die Kontrollierten Vorgesetzte und Angestellte zugleich sind. Der eingebildete, überhebliche und nur an seinen Profit denkende Chef, der kapitalistische Ausbeuter also, ist zu einem Gehalt-beziehenden Mitglied einer Bürokratie geworden, und seine Untergebenen begegnen ihm als Mitglied einer anderen Bürokratie, etwa der der Gewerkschaften. Die Ohnmacht, die Unterdrückung des einzelnen, leitet sich jetzt von einem höchst erfolgreichen und produktiven System her, in dem dieser einzelne einen weit besseren Lebensunterhalt verdient als je zuvor. Seine aggressiven Impulse stoßen ins Leere, der Haß trifft auf lächelnde Kollegen, geschäftige Konkurrenten, höfliche Beamte und hilfsbereite Sozialfürsorger, die alle ihre Pflicht innerhalb dieses Systems tun und dabei selbst unschuldige Opfer dieses Systems von Herrschaft, von technologischer Rationalität sind.
Marcuse beschreibt die Verhältnisse in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft als die einer komfortablen, reibungslosen, vernünftigen und demokratischen Unfreiheit. Technologische Rationalität und Fortschritt haben den Menschen politisch, geistig und gefühlsmäßig gleichgeschaltet, alle nach wie vor bestehenden Gegensätze und Interessenkonflikte in Watte gepackt und im Austausch gegen einen hohen Lebensstandard eingeebnet. In dem Maße, wie Freiheit von Mangel, als die konkrete und gegenständliche Substanz aller Freiheit zur realen Möglichkeit wird, d.h. sobald die materielle Not, wie Hunger, Armut, Obdachlosigkeit durch den technologischen Fortschritt überwunden werden kann, verlieren alle anderen Freiheiten ihren früheren Inhalt und ihre frühere Bedeutung. Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit sowie das Recht zur Opposition, die auf einer geringeren Stufe der Produktivität ihre volle Berechtigung hatten und dazu dienen, eine veraltete materielle und geistige Grundsituation in eine produktivere und rationalere umzuwandeln, werden jetzt in Massenwohlstand ertränkt und ihrer grundlegenden kritischen Funktionen beraubt. Diese Gesellschaft, in der nach Marcuse alle ökonomischen Probleme gelöst sind, kann aus ihrer Sicht verlangen, daß ihre Prinzipien und Institutionen hingenommen werden und daß sich die Kritik ihr gegenüber auf die Diskussion und Förderung alternativer politischer Ideen und Praktiken innerhalb der bestehenden Ordnung beschränkt. Unter den Bedingungen des steigenden Lebensstandards erscheint die Opposition gegen ein so erfolgreiches System als Ganzes gesellschaftlich sinnlos und das umsomehr, als eine solche grundsätzliche Opposition fühlbare wirtschaftliche und politische Nachteile befürchten läßt und den glatten Ablauf des Ganzen gefährdet. Noch nie hat es eine Zeit und eine Ordnung gegeben, die eine so hohe Produktivität aufzuweisen hatte. Könnten nun die ungeheuren Möglichkeiten des modernen Produktionsapparates allein auf die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Menschheit hin organisiert werden und wäre das Individuum nicht mehr gezwungen, entweder unter repressiven Bedingungen zu arbeiten oder zu verhungern und sich auf dem Markt als sogenanntes freies ökonomisches Subjekt ständig zu bewähren, eine Freiheit, die für den überwiegenden Teil der Bevölkerung nichts anderes bedeutet als Mühsahl, Unsicherheit und Angst, dann wäre das die wirkliche Erlösung der Menschheit. Die innere Struktur des menschlichen Daseins würde völlig geändert. Das Individuum würde von fremden und unnötigen Bedürfnissen befreit.
Tatsächlich jedoch macht sich eine entgegengesetzte Tendenz bemerkbar. Es ist die Tendenz, dem Individuum materielle und geistige Bedürfnisse beizubringen, ja einzuimpfen, die nicht lebensnotwendig sind und die es zu harter Arbeit zwingen, um befriedigt werden zu können. Damit werden Aggressivität, Ungerechtigkeit, Elend, Angst und Unterdrückung nicht nur nicht abgebaut, sondert verewigt. Der Kampf ums Dasein wird zu einem Kampf ums bessere Dasein. Dieses bessere Dasein und der ständig steigende Wohlstand, gekennzeichnet dadurch, daß immer mehr Bedürfnisse, echte und falsche, von jedermann befriedigt werden können, korrumpiert und liquidiert den Kampf und die Opposition gegen das System von Ausbeutung und Herrschaft. Der Mensch wird eindimensional, wie Marcuse das nennt; er sieht keine und will auch keine wirkliche Alternative zu der bestehenden Ordnung sehen. Die wachsende Arbeitsproduktivität schafft ein zunehmendes Mehr an Gütern und Leistungen, welches erhöhten Konsum gestattet; gleichgültig ob dieses Mehr an privatem Verbrauch oder staatlicher Investition der Verbesserung der öffentlichen Dienste zugute kommt. Solange diese Entwicklung anhält, schmälert sie den Gebrauchswert der Freiheit, ist also repressiv, denn es besteht ja offenbar kein Grund, auf Selbstbestimmung zu dringen, wenn das verwaltete Leben das bequeme und sogar gute Leben ist. Hier liegt der rationale und materielle Grund für die Einebnung der Gegensätze, für das eindimensionale politische Verhalten. Unterstützt und gefördert wird diese Eindimensionalität durch Reklame, Öffentlichkeitsarbeit und Schulung, durch eine systemkonforme und systemstabilisierende Beeinflussung, die Marcuse Manipulation nennt. Manipuliert wird nun auf allen Gebieten des Lebens, um den Wunsch nach Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung aus dem Bewußtsein zu verdrängen, den Massen die Sklaverei schmackhaft zu machen und die nach wie vor innerhalb des Systems bestehenden Gegensätze vergessen zu lassen.
Ein solcher Gegensatz besteht z. B. zwischen Kapital und Arbeit, zwischen dem Kapitalisten, der über die Produktionsmittel verfügt und dem lohnabhängigen Arbeiter. Ganz abgesehen davon, daß sich die Stellung des Arbeiters im Betrieb durch den technologischen Fortschritt entscheidend gewandelt hat und er heute nicht mehr der Proletarier ist, der seine körperliche Energie im Arbeitsprozeß verausgabt und erschöpft und unter unmenschlichen Bedingungen ausgebeutet wird, nimmt sich heute die Wissenschaft seiner und seiner Probleme in der Produktion an. Soziologen untersuchen seine Beschwerden über Arbeitsbedingungen und Entlohnung. Soziale Einrichtungen wie Werkswohnungen, Kantinen, Sportvereine und Fürsorgeeinrichtungen aller Art binden den Arbeiter an den Betrieb und geben ihm das Gefühl echter Zugehörigkeit. Die Betriebssoziologie und das Management sind zu Wissenschaften geworden, deren Ziel die Verschmelzung des Arbeitnehmers mit den Interessen der Herrschaft ist. Konflikte, die nach Marcuse im System begründet sind, werden privatisiert. Aus dem Klassengegensatz macht der Betriebspsychologe die private Schwierigkeit, die man heilen kann. Dafür stehen Wohltätigkeitsfonds zur Verfügung. Um ein Beispiel zu nennen: Der Arbeiter X stört den Arbeitsfrieden, weil er ständig über zu geringen Lohn schimpft. Der Psychologe nimmt sich seiner an und analysiert den Fall. Er findet beispielsweise heraus, daß die Frau dieses Arbeiters im Krankenhaus liegt und er sich Sorgen macht wegen der teureren Haushaltsführung und wegen des Ausfalls des Arbeitsverdienstes seiner Frau. Er kann seinen Ratenverpflichtungen nicht mehr nachkommen. Damit wird die allgemeine Aussage: „Der Lohn ist zu niedrig“ übersetzt in die private Aussage „ich habe Sorgen“, und das macht die Heilung möglich. Diese und andere wirksame Methoden, mit den Arbeitern umzugehen, schaffen das, was man ein gutes Betriebsklima nennt und ebnen die wahren Gegensätze ein. Der Arbeiter fühlt sich in dem Käfig, in dem er gefangen ist, wohl. Hier ein Zitat:
„Wenn die Individuen – und das macht sogar ihr Glück aus – mit den Gütern und Dienstleistungen zufrieden sind, die ihnen von der Verwaltung heruntergereicht werden, warum sollten sie auf anderen Einrichtungen um einer anderen Produktion anderer Güter und Dienstleistungen willen bestehen. Und wenn die Individuen derart präformiert sind, daß zu den befriedigenden Gütern auch Gedanken, Gefühle und Wünsche gehören, warum sollten sie selbst denken, fühlen und sich etwas vorstellen. Zwar mögen die angebotenen materiellen und geistigen Waren schlecht, verschwenderisch, Schund sein – aber Geist und Erkenntnis sind keine durchschlagenden Argumente gegen die Befriedigung von Bedürfnissen.“
Das bürgerliche Zeitalter, beginnend mit der französischen Revolution, befreite das Individuum aus dem Zwang das Absolutismus. Wenn auch im irdischen Bereich der Mensch nicht frei wurde, sich vielmehr in immer stärkeren Maße dem kapitalistischen Arbeitsprozeß unterworfen sah und mit der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse auf den Warenmarkt verwiesen wurde, waren jetzt doch Seele und Geist unabhängig geworden. Das große Reich der Kultur war dem ökonomischen Wertgesetz nicht unterworfen und wurde nun zu der Stätte, wo der einzelne Glück, Freiheit und Zufriedenheit finden konnte und wo Kunst und Philosophie die wirkliche Alternative, die menschliche und menschenwürdigere Welt erreichen und aufzeigen konnten. Das war ein schöner Ausweg und eine gute Ablenkung von der materiellen Misere. Mochten sich Philosophen und Künstler die Köpfe heißreden über Humanität und Menschenwürde, man war Herr des Produktionsapparates, und das zählte. Man schätzte seine Klassiker, erbaute sich an ihnen, aber man nahm sie und ihre Weisheiten nicht ernst. Erst im letzten Stadium der industriellen Entwicklung, als Automation und Wachstum der Produktion die Grenzen an Freizeit und Befriedigung materieller Bedürfnisse zu überfluten drohte, die im Interesse der repressiven Herrschaft gesetzt waren, hat die Technik der Massenlenkung eine Informations- und Unterhaltungsindustrie entwickelt, welche die Freizeit und damit auch Seele und Geist unter Kontrolle hält, manipuliert und von der wirklichen Alternative ablenkt. Das hatte nach Marcuse eine Entsublimierung der Kultur zur Folge.
Autonomer Charakter, Gerechtigkeit, Humanismus, tragische und romantische Liebe erscheinen heute als das Ideal einer zurückliegenden Entwicklungsstufe. Die moralischen, ästhetischen und gedanklichen Werte dieser Zeit, zu denen sich unsere Gesellschaft theoretisch zwar noch bekennt, gehören eigentlich zu einer Ordnung, die der des Geschäfts, des Erfolgs und der neuen gesellschaftlichen Realität antagonistisch und verneinend gegenüberstehen. Man träumt heute nicht mehr davon, sondern man versucht, sie mit den ungeheuren Möglichkeiten der technologischen Wirklichkeit in die Tat umzusetzen. Die Konflikte zwischen Ideal und Realität werden geheilt. Das besorgen Soziologen, Sozialpädagogen und Psychiater; die kümmern sich um die Don Juans, Hamlets und Fauste, um die Helden und Bösewichter.
Aber dieses System von Herrschaft erschöpft sich nicht darin, nur Gegensätze und echte Konflikte zu übertünchen. Es werden darüber hinaus nach Marcuse die Weichen durch Manipulation so gestellt, das diese Konflikte gar nicht mehr empfunden werden. Diese Manipulation findet auf allen Gebieten statt und die Massenmedien helfen dabei. Zwei Beispiele aus vielen sollen herausgegriffen werden:
Erstens die Sprache:
Ihre Manipulation wird dadurch erreicht, daß man Begriffe, die an sich wertneutral sind, assoziativ mit Wertungen verbindet und zwar mit Wertungen, die systemkonform und systemstabilisierend sind. Das gilt besonders für Begriffe oder Tatbestände, die zur kritischen Einstellung gegenüber dem System herausfordern könnten. Man nötigt dem Menschen fortgesetzt fertige Bilder auf, die sich der Entwicklung von Begriffen und damit dem Denken selbst widersetzen. Dieses Blockieren begrifflicher Entfaltung verhindert die Würdigung der Faktoren über den Fakten, die kritische Untersuchung der Tatsachen auf ihren historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang hin und dient damit als Vehikel der Gleichschaltung und Unterordnung. Wörter und Begriffe neigen dann dazu, zusammenzufallen. Der Begriff hat keinen anderen Inhalt mehr als den, den das Wort im öffentlichen und genormten Gebrauch besitzt, und das Wort soll nichts über das öffentliche und genormte Verhalten hinaus bewirken. Das Wort wird damit zum Klischee. Bei Gegenständen des täglichen Lebens spielt das keine Rolle. Anders ist das aber bei Ausdrücken, die darüber hinausgehen und bei denen es erforderlich ist, ihren Sinn zu erfassen. In diesem Fall bewirkt die Manipulation eine Verkürzung des Sinnes, die politische Bedeutung hat. So beinhalten Substantive wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Frieden automatisch eine bestimmte Anzahl von Attributen, die immer dann aufleuchten, wenn das Substantiv ausgesprochen wird. Im Westen sind das Assoziationen wie: Initiative, Selbstbestimmung, Individuum, freie Wahlen, freie Wirtschaft, Selbstverteidigung. Im Osten: Arbeiter und Bauern, Aufbau des Sozialismus oder Kommunismus, Abschaffung der ausbeutenden Klassen und Sicherung der sozialistischen Errungenschaften. Für uns im Westen sind die Institutionen „frei“, die sich in kapitalistischen Ländern bestätigen; frei die Menschen, die in dieser „freien“ Welt leben, obwohl sie in einem Herrschaftssystem von Zwang und Abhängigkeit existieren müssen. Alle über das westliche Modell hinausgehenden Arten von Freiheit sind entweder Kommunismus, Anarchie oder Propaganda. „Sozialistisch“ sind alle Eingriffe in private Unternehmungen, die nicht seitens der freien Wirtschaft selbst oder durch Verträge mit der Regierung erfolgen und die dem privaten Profit schaden könnten, wie z.B. die Einrichtung öffentlicher Dienste, Schutz von Natur und Umwelt vor allzu großer kommerzieller Ausnutzung oder Begrenzung und Kontrolle der Bodenspekulation.
Damit, sagt Marcuse, wird die Tatsache, daß die herrschende Art der Freiheit Knechtschaft ist und die herrschende Art der Gleichheit von außen auferlegte Ungleichheit, durch verkürzte Definition dieser Begriffe im Sinne der jeweils herrschenden Mächte daran gehindert, Ausdruck zu finden. So wird z. B. eine Partei, die für die Verteidigung und das Wachstum des Kapitalismus arbeitet, „sozialistisch“ genannt, so eine diktatorische Regierung „demokratisch“, und eine farcenhafte Wahl „frei“. So spricht man von „harmlosem atomaren Niederschlag“ und von der „sauberen Bombe“. Es handelt sich im Grunde um die bekannte Technik der Reklame-Industrie, die methodisch ein Image aufbaut, das am Produkt haftet, im Bewußtsein hängenbleibt und dazu beiträgt, Menschen und Güter zu verkaufen. Dieses Image kann „Freiheit“ oder „Frieden“ sein oder „der Kommunist“, „Miss Germany“ oder ein Waschmittel. Vom einzelnen wird erwartet, daß er in der erwünschten, spezifischen Weise reagiert, und das tut er auch. Unsere Sprache trägt durchweg diese Merkmale spezifischer Herrschaft, Organisation und Manipulation. Um zu leben, hängen die Menschen von Chefs, Politikern, Stellungen und Nachbarn ab, die sie dazu anhalten, das zu sagen und zu meinen, was sie sagen und meinen. Wie kommt es denn dazu, daß wir etwas wissen? Wir wissen, weil wir Radio hören, Zeitungen und Illustrierte lesen, fernsehen und mit anderen Menschen reden. So ist der gesprochene Satz Ausdruck des Individuums, das ihn formuliert, und jener, die es dazu anhalten so zu sprechen, wie es spricht. Indem sie ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter. Jede persönliche Aussage, sei sie politisch, wirtschaftlich oder kulturell, enthält auch das, was die Medien der Massenkommunikation ihnen erzählen, und verschmilzt mehr oder weniger mit dem, was die selbst denken und fühlen. Wenn wir einander unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Gefühle und Ressentiments mitteilen, benutzen wir die Ausdrücke unserer Reklamesprüche, Leitartikler, Politiker und Bestseller. Wir verwenden dieselben Worte zum Beschreiben unserer Autos, Nahrungsmittel, Möbel, Konkurrenten und Kollegen, und wir verstehen einander bestens. Das muß notwendigerweise so sein, denn die Sprache ist sehr selten etwas Privates und Persönliches. Das Private und Persönliche ist vielmehr vermittelt durch das verfügbare sprachliche Material, das gesellschaftliches Material ist.
Ein zweites Beispiel die Sexualität:
Auch sie wird nach Marcuse durch das in der modernen Industriegesellschaft verankerte System von Herrschaft manipuliert und korrumpiert. Im Bestreben, alle Konflikte in dieser Gesellschaft aufzulösen und in das System zu integrieren, wird die Sexualität institutionell entsublimiert. Sublimierung ist Ablenkung, Verzögerung oder gar Verzicht auf Trieberfüllung. Sie bringt Bilder von Zuständen hervor, die mit der bestehenden Realität unvereinbar sind, als Bilder der Kultur aber erträglich, ja nützlich und erhebend sein können. Jetzt wird diese Bilderwelt außer Kraft gesetzt. Ihre kommerzielle Freigabe an Geschäft und Vergnügen ist Entsublimierung. Vermittelter Genuß wird durch unmittelbaren Genuß ersetzt. Aber das ist eine Entsublimierung aus der starken Position der Gesellschaft heraus, einer festgefügten Gesellschaft, die es sich leisten kann, mehr als früher zu gewähren, weil ihre Interessen zu den innersten Trieben ihrer Mitglieder geworden sind und weil die von ihr gewährten Freuden sozialen Zusammenhang und Zufriedenheit fördern. Die Sexualität wird in gesellschaftlich stabilisierenden Formen befreit bzw. liberalisiert. Aber diese Art von Entsublimierung ist repressiv, und vergleicht man sie mit dem sublimierten Geschlechtstrieb, so enthält der mehr Freiheit die gesellschaftlichen Tabus abzulehnen und mehr Weigerung, sie zu beachten. Durch die Umwandlung der Arbeitswelt von der früher vergleichsweise gemütlichen Arbeitswelt in die moderne Industriegesellschaft, hat sich im Triebleben der Menschen manches verändert. Die Mechanisierung hat nicht nur Arbeitszeit, sondern damit auch Libido, d. h. nach Freud seelisch nicht bewußte Triebkraft sexuellen Charakters, eingespart und sie von früheren Arten ihrer Verwirklichung abgesperrt. Gemeint ist der romantische Gegensatz zwischen dem wandernden Handwerker und den modernen Reisenden, zwischen Kunsthandwerk und Fließband, zwischen dem selbstgebackenen Laib Brot und dem Industrieerzeugnis, auch zwischen dem verliebten Treiben auf einer Wiese und in einem Auto oder bei einem Spaziergang im Wald außerhalb der Stadtmauern oder auf der Reeperbahn. In den erstgenannten Fällen hat die Arbeitswelt und die Umgebung teil an der libidinösen Besetzung, kommt ihr entgegen und tendiert dazu, erotisiert zu werden. Die Libido geht über die unmittelbar erogenen Zonen hinaus, und dies ist ein Vorgang nichtrepressiver Sublimierung. Das scheint nun durch die mechanisierte Arbeitswelt und die auf ständige Steigerung des Sozialprodukts ausgerichtete Vorstellungswelt unserer Zeit unterbunden. Alle Lust konzentriert sich heute auf die Sexualität. Aber der in der modernen Industriegesellschaft vorhandene höhere Grad an sexueller Freiheit bedeutet eher eine Beschränkung als eine Erweiterung der menschlichen Triebbedürfnisse, und arbeitet nach Marcuse eher für als gegen den status quo allgemeiner Unterdrückung. Der sexuelle Konflikt wird abgebaut. Die Sexualität erhält einen Marktwert. Die Werbung bedient sich ihrer. Fotomodelle, sexy Büro- und Ladenmädchen, der starke und potente jugendliche Chef sind marktgängige Waren, und der Besitz attraktiver Mätressen, einst das Vorrecht von Fürsten und Königen, verleiht dem aufstrebenden Bürgersohn Ansehen und Chancen in der Geschäftswelt. So trägt die manipulierte Sexualität, die den manipulierten Individuen ja durchaus einen Genuß verschafft, dazu bei, die Unterwerfung unter das System von Herrschaft zu fördern und Proteste dagegen abzubauen.
Marcuse ist Marxist.
Für ihn ist alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen in einem dialektischen Prozeß nach ökonomischen Bewegungsgesetzen. Und doch scheint er sich in seiner kritischen Theorie nicht auf die Automatik der marx’schen Verelendungs- und Zusammenbruchstheorie verlassen zu wollen, nach denen die immanenten Widersprüche den Kapitalismus zu seiner unbedingten Aufhebung führen und in die befreite klassenlose Gesellschaft münden müssen. Denn nach seiner Ansicht, die jetzt wohl schon ziemlich klar geworden ist, sind Kritik, Hoffnung und Bedürfnis nach radikaler Umwandlung der gesellschaftlichen Struktur nicht mehr so ganz in einer revolutionären Arbeiterklasse repräsentiert. So sieht er sich gezwungen, die Richtigkeit seiner Forderung nach Veränderung auf psychologischer Ebene abzusichern.
Als Grundlage der Unterdrückung sieht Marcuse das Leistungsprinzip an. Er unternimmt, um diesem Leistungsprinzip auf die Spur zu kommen, eine lange Untersuchung der Triebstruktur des Menschen und befaßt sich daher mit der Psychoanalyse von Siegmund Freud. Dabei versucht er, die Erkenntnisse, die Freud von der Seele des Individuums gewonnen hat, dialektisch auf die Gesellschaft anzuwenden. Er ist sich mit Freud einig, daß die Triebe das Leben des Menschen offen und versteckt lenken und steuern. Dabei handelt es sich im wesentlichen um zwei Triebe, den Sexual- und den Todestrieb. Deshalb haben wir es im menschlichen Leben mit drei psychologischen Faktoren zu tun: mit dem
- Lustprinzip, das den Sexualtrieb und seine Modifikationen vertritt, dem
- Nirwanaprinzip, welches die Tendenz des Todestriebes repräsentiert und dem
- Realitätsprinzip, als dem Einfluß und dem Widerstand der Außenwelt.
Die Lebensnot, der Kampf ums Dasein, führt zu Konflikten zwischen Lust- und Realitätsprinzip und zur Ablenkung, Verzögerung oder gar zum Verzicht auf Erfüllung der Triebziele, weil eben nicht genug Mittel und Hilfsquellen für eine schmerz- oder mühelose Befriedigung der Triebbedürfnisse zur Verfügung stehen. In unserer modernen Industriegesellschaft, die auf Grund ihrer außerordentlichen technologischen Fortschritte und ihrer Leistungsfähigkeit durchaus in der Lage wäre, alle Grundbedürfnisse der Menschheit zu befriedigen, hat das Realitätsprinzip den Charakter des Leistungsprinzips angenommen, weil Herrschaftsinteressen immer neue und immer raffiniertere Bedürfnisse erfinden und manipulieren, um dadurch den Kampf ums Dasein zu verewigen.
Marcuse stimmt mit Freud auch darin überein, daß Kultur im weitesten Sinne des Wortes Triebverzicht ist und damit repressiv. Triebe sind, für sich allein genommen, asozial, ja zerstörerisch. Ihr Ziel ist allein Lustgewinn. Daher kann der Aufbau von Kultur, Zivilisation und humaner Gesellschaft nur durch Ablenkung von Triebenergie in sozial nützliche Arbeit, d. h. durch ihre Sublimierung erreicht werden; und das ist notwendig. Etwas anderes aber ist die zusätzliche Unterdrückung durch das Interesse von Herrschaft über Natur und Menschen. Diese zusätzliche Unterdrückung – nach Marcuse repräsentiert durch das Leistungsprinzip – bedeutet unnötige, mehr und mehr entfremdete Arbeit und erzwingt eine immer vollständigere, repressive Organisation der Triebwelt anstatt ihrer möglichen Befreiung. Die neue gültige Formel heißt: Triebverdrängung – sozial nützliche, mühselige Arbeits-Kultur und müßte heißen: Triebverdrängung – sozial nützliche Arbeits-Kultur.
Die Aufhebung der zusätzlichen Unterdrückung, wie es die zweite Formel voraussetzt, würde zwar nicht die Arbeit abschaffen, aber überflüssige Mühsal, rigorose Entfremdung der Arbeit und die Verwandlung der Menschen in ein Arbeitsinstrument verhindern. Die Frage stellt sich, ob vernünftigerweise ein Kulturzustand vorstellbar ist, in dem menschliche Bedürfnisse in einer Weise und in einem Maße befriedigt werden können, welche die Abschaffung der zusätzlichen Unterdrückung, eben des Leistungsprinzips, erlauben. Die erste Voraussetzung dafür, und die scheint gegeben, wäre die Verkürzung der Arbeitszeit durch umfassende Automatisierung der Arbeit bis zu einem Punkt, wo das Arbeitsquantum die menschliche Entwicklung nicht mehr behindert. Die Verkürzung der Arbeitszeit würde zwar ein merkliches Absinken des Lebensstandards, wie er heute in den führenden Industrieländern vorhanden ist, bedeuten, aber die Rückkehr zu einem niedrigen Lebensstandard, wie ihn der Zusammenbruch das Leistungsprinzips mit sich brächte, spricht nicht gegen den Fortschritt an Freiheit, der damit gewonnen würde. Denn die Definition von Lebensstandard im Sinne von Autos, Fernsehapparaten und Traktoren ist die Definition des Leistungsprinzips und dient nur der Rechtfertigung der Unterdrückung. Jenseits dieses Prinzips würde das Lebensniveau mit anderen Maßstäben gemessen werden: weltweite Befriedigung, menschlichere Grundbedürfnisse und Freiheit von Schuld und Angst wären die neuen Kriterien. Unter den optimalen Bedingungen einer reifen Kultur müßte der materielle und intellektuelle Wohlstand derart sein, daß er eine schmerzlose Bedürfnisbefriedigung zuließe. Das Maß an Triebenergie, das noch auf unvermeidliche, mühevolle aber völlig mechanisierte und rationalisierte Arbeit verwendet werden müßte, wäre so gering, daß ein weites Feld repressiver Zwänge und Triebmodifikationen zusammenbrechen würde. Die antagonistische Beziehung zwischen Lust- und Realitätsprinzip würde sich zugunsten des Lustprinzips verschieben. Sexualität würde sich mehr in Erotik verwandeln und Lebensfreude in einem nie dagewesenen Maße freigesetzt werden. Das würde auch die repressive und ressentimentsgeladene Diffamierung der Ruhe, der Nachsicht, des rezeptiven Seins und auch der sozialen Verantwortung aufheben.
Müßte eine solche Veränderung nun nicht alle Kultur sprengen und zu prähistorischer Wildheit zurückführen, müßte der einzelne nicht infolge der Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Mittel und seiner eigenen Energie zugrunde gehen, müßten nicht durch das Entfallen von Bedürfnis und Zwang alle Energien versiegen, die bisher die materielle und intellektuelle Leistung vorangetrieben haben? Freud bejaht diese Frage; er ist nämlich der Ansicht, daß nur das Fehlen der vollen Befriedigung die Kultur- und gesellschaftsbegründende Organisation der Arbeit aufrecht erhält. Marcuse ist anderer Ansicht. Nach seiner Meinung verlieren jenseits des Leistungsprinzips Produktivität und die bisherigen kulturellen Werte weitgehend ihre Gültigkeit, aber der Kampf ums Dasein geht dort auf neuem Boden und mit neuen Zielen weiter. Er wandelt sich in einen konkreten Kampf gegen jede Beschränkung des freien Spiels der menschlichen Fähigkeiten, gegen Mühsal, Krankheit und Tod. Durch die Entbindung libidinöser Kräfte würde die Versöhnung von Mensch und Natur gefördert, in der Ordnung Schönheit und Arbeit Spiel ist.
Wenn Marcuse von den Anhängern der „reinen Lehre“ des Marxismus-Leninismus bekämpft wird, so fühlt er sich doch als Marxist und sieht als solcher die Realität, wie sie dem Individuum vor aller subjektiven Interpretation erscheint als physische Struktur der Materie und als Form, welche die Materie in der kollektiven, geschichtlichen Praxis erlangt hat. Über diese Auffassung läßt sich streiten, aber für Marcuse ist diese geschichtliche, dialektische Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Geschichte lebt von der Veränderung, also ist die Realität veränderbar. Die Objektwelt, eben diese Realität, ist nach Marcuse immer die Welt eines spezifisch geschichtlichen Entwurfs, der die Materie organisiert, und diese Organisation ist zugleich ein theoretisches wie praktisches Unternehmen. Entwurf bedeutet hier die bestimmte Wahl aus einer Reihe von Möglichkeiten, die Realität zu begreifen, zu organisieren und zu verändern. Die Wahl ist das Vorrecht der zur Herrschaft gelangten Gruppen und soll in diesem Denksystem die Freiheit in der an sich historischen Notwendigkeit betonen. Sie schließt alternative Möglichkeiten aus, die mit dem Entwurf nicht vereinbar sind. Trotzdem bestehen solche. Die Kriterien der Rationalität, also der Vernünftigkeit eines Entwurfs, formuliert er so:
- Sie müssen mit den realen Möglichkeiten übereinstimmen, die auf dem erreichten Niveau der materiellen und geistigen Kultur möglich sind.
- Um die bestehende Ordnung als falsch zu erweisen, muß der neue alternative Entwurf seine höhere Rationalität in dreifachem Sinn belegen:
- Erhaltung und Verbesserung der produktiven Errungenschaften der Zivilisation;
- Bestimmung und Organisation der bestehenden Gesellschaft in ihrer Wesensstruktur, ihren Grundtendenzen und Beziehungen;
- größere Chancen zur Befriedung des Daseins im Rahmen von Institutionen, welche die freie Entfaltung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen besser gewährleisten.
Deshalb wird die etablierte Rationalität irrational, sobald die Möglichkeiten des Systems im Laufe ihrer inneren Entwicklung über dessen Institutionen hinausgewachsen sind.
Die Freiheit der Wahl des historischen Entwurfs, d. h. der Wahl des Gesellschaftssystems durch die herrschenden Gruppen, ist für Marcuse von großer Bedeutung, denn wie sonst könnte er ohne sie die revolutionäre Überwindung der bestehenden Ordnung fordern und für möglich halten. Die Befriedung des Daseins und die Befreiung des Menschen von Not, Unterdrückung und Angst ist nach seiner festen Überzeugung innerhalb des bestehenden Systems nicht möglich. Das kann nur durch einen revolutionären Akt geschehen. Evolution ist für ihn nichts weiter als Manipulation der Massen; sie ist repressiv, denn sie dient nicht der Befreiung sondern der Erhaltung der Herrschaft.
Das Wesen dieser Freiheit erläutert er so:
Entwicklungen, z. B. die Industriealisierung, können auf verschiedene Art vor sich gehen, unter kollektiver oder privater Kontrolle und, selbst unter privater Kontrolle, mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Die Wahl ist in erster Linie das Vorrecht der Gruppen, die zur Kontrolle über den Produktionsprozeß gelangt sind. Ihre Kontrolle entwirft den Lebenszuschnitt des Ganzen. Die sich daraus ergebende und versklavende Notwendigkeit für die übrigen ist das Resultat der Freiheit der zur Macht der Entscheidung gelangten Gruppe. Die Aufhebung dieser Notwendigkeit hängt ab von einem neuen Einbruch der Freiheit. Nicht irgendeiner Freiheit, sondern der von Menschen, welche die gegebenen Notwendigkeiten als unerträgliche Qual und als unnötig begreifen.
Als geschichtlicher Prozeß schließt dieser dialektische Prozeß Bewußtsein ein. Die befreienden Möglichkeiten müssen erkannt und erfaßt werden. In dem Maße, wie das Bewußtsein durch die Erfordernisse und Interessen der bestehenden Gesellschaft bestimmt wird, ist es „unfrei“. In dem Maße, wie die bestehende Gesellschaft irrational ist, wird das Bewußtsein nur im Kampf gegen sie „frei“. Wahrheit und Freiheit des negativen Denkens haben ihre Legitimation in diesem Kampf. Die neue und zur Befreiung der Gesellschaft angetretene Kraft ist nach Marx das revolutionäre Proletariat. Das Proletariat ist die bestimmte Negation des Kapitalismus, wenn es seiner selbst und der Bedingungen und Prozesse bewußt geworden ist, die es versklaven. Dieses Bewußtsein ist ebenso Voraussetzung wie Element der revolutionären Praxis. Diese eigentlich negative Freiheit – das heißt Freiheit von der bedrückenden und ideologischen Macht der gegebenen Tatsachen – ist das Apriori der historischen Dialektik.
Aber an diesem revolutionären Bewußtsein hapert es. Wörtlich sagt Marcuse dazu:
„Wir stehen heute vor dem Problem, daß die Umwandlung objektiv notwendig ist, daß aber das Bedürfnis nach dieser Umwandlung gerade bei den Schichten, die klassisch für die Umwandlung definiert waren, eben nicht vorliegt. Erst einmal müssen die Mechanismen, die dieses Bedürfnis ersticken, beseitigt werden, das wiederum das Bedürfnis nach ihrer Beseitigung voraussetzt. Das ist eine Dialektik, aus der ich keinen Ausweg gefunden habe.“
Wir sind nun soweit, daß wir fragen können, wie denn diese neue repressionsfreie und befriedete Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung eigentlich aussehen und funktionieren soll. Sehr viel Aufschlußreiches ist dabei leider nicht zu erfahren, und die Beantwortung dieser Frage betrachtet Marcuse augenscheinlich auch nicht als seine Aufgabe. Sein Problem ist mehr die kritische Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft, ihrer Unterdrückung, Unmenschlichkeit und grenzenlosen Verschwendung von Rohstoff und Arbeitskraft. Diese Vorschwendung wird am Beispiel der amerikanischen Automobilindustrie klar, wenn man aus einer Untersuchung erfährt, daß sich die Kosten des periodischen Modellwechsels, des aufgeblähten Verkaufsapparates und der unnötigen Ausstattung auf 11 Milliarden Dollars jährlich belaufen sollen. Soviel ist immerhin zu erfahren, daß die Grundlage der technischen Rationalität, die das System von Herrschaft und Leistung hervorgebracht hat, nicht verlassen werden soll. Sie ist vielmehr die Voraussetzung der angestrebten Befriedung des menschlichen Daseins. Die qualitative Änderung liegt im Umbau der technischen Basis und ihre Ausrichtung auf andere Ziele als bisher. Der politische Apparat wird zerstört, der technische erhalten. Sozialistische Planwirtschaft, über deren Institutionen und Organisation nichts Näheres ausgesagt wird, soll die Produktionsbedingungen weiter entwickeln und die Verschwendung von Rohstoff und Arbeitskraft an falsche Bedürfnisse unterbinden. Die Überführung der Produktionsmittel durch einen revolutionären Akt in die Hände der eigentlichen Produzenten soll das befriedete Dasein in Freiheit auf der Basis echter Lebensbedürfnisse ermöglichen, in dem nicht mehr Profit, sondern menschliche Werte das Ziel sind. Die Industriegesellschaft besitzt die Mittel, diese ehemals metaphysischen Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität ins Physische zu übertragen. Sie sollen Gegenstand wissenschaftlicher Tätigkeit werden. Das bedeutet, daß die Wissenschaft nicht mehr neutral bleibt, sondern politisch wird und das wissenschaftliche Bewußtsein als politisches Bewußtsein anerkannt werden muß. Wissenschaft und Technik werden in den Dienst politischer Ziele gestellt und nicht mehr sich selbst überlassen. Begriffe wie Seeleningenieur, wissenschaftliche Betriebsführung, Konsumwissenschaft umreißen dabei – nicht gerade in sehr schöner Weise – die fortschreitende Rationalisierung des Irrationalen, die Absage an die idealistische Kultur. Was sind nun aber richtige und falsche Bedürfnisse?
„In letzter Instanz muß die Frage, was wahre und falsche Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet worden, d. h. sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben. Solange sie davon abgehalten werden, autonom zu sein, solange sie bis in ihre Triebe hinein geschult und manipuliert werden, kann ihre Antwort auf diese Frage nicht als ihre eigene verstanden worden. Deshalb kann sich auch kein Tribunal legitimerweise das Recht anmaßen, darüber zu befinden, welche Bedürfnisse entwickelt und befriedigt werden sollen!“
Die einzigen Bedürfnisse, die nach Marcuse uneingeschränkten Anspruch auf Befriedigung besitzen, sind die vitalen: Nahrung, Kleidung und Wohnung auf dem erreichbaren Kulturniveau.
Was für die Bedürfnisse gilt, gilt auch für Struktur und Organisation in der neuen befriedeten Gesellschaft allgemein. Wir, die wir nur in unserem System von Herrschaft eindimensional zu denken in der Lage sind, haben keine Möglichkeit, uns über diese Dimension zu erheben und gewissermaßen von außen darüber Feststellungen zu treffen. Erst muß diese versklavende Gesellschaft verschwinden, dann wird sich zeigen, was und welche Institutionen gebraucht werden, um frei von Zwang und Furcht eine wahrhaft glückliche und menschliche Gesellschaft aufzubauen. In der gegenwärtigen Periode scheinen sich nach Marcuses Ansicht alle geschichtlichen Entwürfe nach den beiden im Konflikt liegenden Totalitäten zu polarisieren: Kapitalismus und Kommunismus. Wobei zu sagen ist, daß der Kommunismus , wie er sich uns im Osten darstellt, durchaus nicht Marcuses Beifall findet. Nach Marx ist die erste Phase der kommunistischen Revolution zwar noch behaftet mit den Merkmalen der alten Gesellschaft, aber der qualitative Umschlag beginnt in ihr bereits. Die zweite Phase gründet in der ersten. Sie bringt durch eine neue Produktionsweise die qualitative neue Lebensweise hervor, die das Ende des kapitalistischen Systems ist. So soll durch die Kontrolle der unmittelbaren Produzenten eine Entwicklung eingeleitet werden, welche die Geschichte freier Menschen von der Vorgeschichte des unterdrückten Menschen unterscheidet. Das ist eine Gesellschaft , in der die seitherigen Objekte der Produktion zum ersten Mal menschliche Individuen werden; welche die Produktionsinstrumente zur Verwirklichung ihrer eigenen humanen Bedürfnisse und Anlagen planen und benutzen.
Im Gegensatz zu dieser Konzeption schiebt die tatsächliche Entwicklung der gegenwärtigen kommunistischen Gesellschaft den qualitativen Umschlag zur zweiten Phase hinaus, und der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus erscheint trotz der erfolgten Revolution nur als quantitative Änderung. Die Versklavung des Menschen durch seine Arbeitsmittel besteht fort in einer hochrationalisierten, umfassend wirksamen Form. Die außerordentliche Lage feindlicher Koexistenz mochte die terroristischen Züge der stalinistischen Industrialisierung erklären, aber sie setzte auch die Kräfte in Bewegung, die dazu neigen, den technischen Fortschritt als Herrschaftsinstrument zu verewigen. Das Entscheidende aber ist, daß das Sowjetsystem die „unmittelbaren Produzenten“ in der Organisation des Produktionsprozesses von der Kontrolle der Produktionsmittel trennt und damit den Klassenunterschied gerade an der Basis des Systems bewirkt und erhält. Wenn sich auch der Lebensstandard der Massen verbessert haben sollte, so bleibe immer noch das Entscheidende zu fordern, nämlich, daß sich die quantitative Änderung in eine qualitative zu verwandeln habe. Das würde das Verschwinden des Staats, der Partei, des Plans bedeuten, die dem Individuum als unbarmherzige Mächte aufgenötigt wurden. Marcuse bezweifelt, daß eine solche Entwicklung im Sowjetsystem evolutionär möglich ist. Gegen eine revolutionäre Änderung würde sich aber die dortige Bürokratie nach seiner Ansicht mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Marcuses Zukunftsvision einer Gesellschaft jenseits von Herrschaft und Ausbeutung läßt sich wohl am besten mit dem Bild eines blühenden Gartens verdeutlichen, der in Schönheit und Freiheit wachsen kann, während er darin auch menschliche Wesen wachsen und gedeihen läßt, in einer nicht-repressiven und doch funktionierenden Ordnung, in der jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen wahren Bedürfnissen konsumieren kann.
Und nun zur letzten Frage: „Wie soll es zu dem revolutionären Umschwung kommen, der die Menschheit endgültig befriedet?“
Können die kommunistischen Staaten des Ostblocks das Heil bringen? Nein, wir habe es gerade gehört; von Freiheit und befriedetem Dasein kann dort keine Rede sein, und im Sowjetsystem sind auch keine entsprechenden Tendenzen von der dort etablierten Bürokratie zu erkennen. Von innen, von den unterdrückten Massen der vom Kapitalismus beherrschten Länder? Auch nicht, denn alle Befreiung hängt vom Bewußtsein der Knechtschaft ab; Voraussetzung ist unerträgliche Not und Verzweiflung. Das alles ist nicht vorhanden. Das ehemals revolutionäre, klassenbewußte Proletariat ist durch Wohlstand und Manipulation korrumpiert worden, denkt und fühlt eindimensional innerhalb dieses Systems und hat sich zu seiner Stütze entwickelt. Nun gibt es noch eine Gruppe von Außenseitern, die Geächteten, Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und Hautfarben, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses. Ihr Leben bedarf am meisten und unmittelbarsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb auch nicht vom System abgelenkt. Wenn sich diese Unterpriviligierten zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um ihre primitivsten Bürgerrechte zu fordern, dann wissen sie, daß sie nichts zu verlieren haben. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen sich zu weigern, das alte Spiel weiter mitzuspielen, kann das Ende einer Epoche sein und den Anfang einer neuen Zeit markieren. Die große Weigerung, weiter mitzumachen in diesem System von Ausbeutung, Unterdrückung, Verschwendung, eingeplanten vorzeitigem Verschleiß und Unmenschlichkeit, kann die Grundvoraussetzung für die befreiende Umwälzung sein, wenn sie von den Massen akzeptiert wird. Große Teile der akademischen Jungend und der empfindsamen Intelligenz, die Ekel empfinden gegenüber dem ständigen, verantwortungslosen Spiel mit dem Krieg und der sinnlosen Härte, Kumpanei und Brutalität dieser oberflächlichen Konsumgesellschaft, rufen auf zum Kampf gegen die „Tyrannei der Mehrheit“ und versuchen, das Bewußtsein der Massen zu verändern. In der großen Weigerung sieht Marcuse den Ansatz für seine Revolution. Mit ihr beginnt der lange Marsch durch die Institutionen. Auf leisen Sohlen, mit einer intellektuellen Guerilla-Strategie besonders in Verfahrens- und Geschäftsordungsregeln, soll das verhaßte System ausgehöhlt und unterwandert werden, bis es zusammenbricht. Zur revolutionären Taktik gehört die Besetzung von meinungsbildenden und wirtschaftlichen Kommandostellen sowie die Ausnutzung von Interessenkonflikten. Dabei spielen das Generationsproblem und übersteigerte Sozialansprüche, wie Nulltarif für öffentliche Verkehrsmittel, übertriebene Lohn- und Urlaubsansprüche, Mitbestimmung auf allen Ebenen, überzogene Besteuerung der sogenannten Reichen usw. eine wichtige Rolle. Die Annahme derartiger Forderungen brächte Staat und Wirtschaft in beabsichtigte Krisenstituationen. Die Ablehnung aber steigert die allgemeine Unzufriedenheit. Die Rechnung scheint aufzugehen. Marcuses systemüberwindende Mannen sind unterwegs.
Schließlich noch ein paar Worte zur Toleranz, der Marcuse einen langen Aufsatz gewidmet hat.
Für uns ist Toleranz eine Forderung, die sich aus dem Grundwert Menschenwürde ergibt. Sie bedeutet Duldung, Achtung und Schutz des anderen und seiner Ansichten und Lebensgewonheiten. An die Menschenwürde und an die Menschenrechte ist sie gebunden. Sie hat die Überzeugung zur Voraussetzung, daß niemand im Alleinbesitz der Wahrheit ist und daß viele Wege nach Rom führen.
Marcuse bietet seinem Leser leider keine Definition der Toleranz. Er betrachtet sie unter dem verhängnisvollen Gesichtspunkt seiner kritischen Theorie und der angeblichen Eindimensionalität der heutigen Industriegesellschaft. Dabei kommt er zu der Auffassung, daß die Verwirklichung der Toleranz Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen erfordern müßte sowie die Ausdehnung der Toleranz auf politische Praktiken, Gesinnungen und Meinungen, die heute unterdrückt werden. Toleranz sollte wieder das werden, was sie nach seiner Ansicht zu Beginn der Neuzeit war, nämlich ein parteiliches Ziel, ein subversiver, befreiender Begriff und eine ebensolche Praxis. Ziel der Toleranz ist für ihn Wahrheit, und das, was heute als Toleranz verkündet wird, dient in vielem nur den Interessen der Unterdrückung. Unparteiische Toleranz nennt er „abstrakt“ und „rein“, weil sie davon absieht, sich zu einer Seite zu bekennen und damit die etablierte Maschinerie und die Diskriminierung revolutionärer Minderheiten schützt. In diesem System von Herrschaft wirken hintergründige Beschränkungen der Toleranz, wie die durch die Klassenstruktur der Gesellschaft bedingte Ungleichheit der Menschen oder ihre Erziehung zu Aggressivität und Brutalität wegen angeblich drohender innerer und äußerer Feinde, noch vor ihrer ausdrücklichen Einschränkung durch Gerichte, Regierungen, Notstandsgesetze, Bedrohung der nationalen Sicherheit u.s.w. Dazu ein Zitat:
„Der Charakter der liberalistischen Toleranz beruhte zumindest in der Theorie auf dem Grundsatz, daß alle Menschen Individuen wären, die lernen könnten, selbst zu hören, zu sehen und zu fühlen, ihre eigenen Gedanken zu entfalten, ihre wahren Interessen, Rechte und Fähigkeiten zu erfassen, auch gegen die eingerichtete Autorität und Meinung. Das war die rationale Grundlage der Rede- und Versammlungsfreiheit. Allseitige Duldung wird fragwürdig, wenn ihre rationale Grundlage nicht mehr besteht, wenn Toleranz manipulierten und geschulten Individuen verordnet wird, die die Meinung ihrer Herren als ihre eigene nachplappern, für die Heteronomie zur Autonomie geworden ist.“
So ist es auch kein Wunder, daß Marcuse, wörtlich zitiert, zu dem Schluß kommt: „Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links“.
Das war der Bericht über Marcuses kritische Theorie.
Ich will nicht behaupten, daß in unserer modernen Gesellschaft alles gut ist. Produktions- und Wachstumsfetischismus mit allen seinen zerstörenden Folgen in den entwickelten Industriestaaten und die Bevölkerungsexplosion in den unterentwickelten Gebieten der Erde, um nur zwei aktuelle Probleme zu nennen, enthalten viel Zündstoff und können die Menschheit in ernste Konflikte bringen. Aber ich bin nicht der Ansicht, daß unsere Gesellschaft revolutionär verändert werden muß, um dieser und anderer Gefahren Herr zu werden. Dieses System ist flexibel und elastisch genug und hat das auch bewiesen, soziale Schwierigkeiten evolutionär zu überwinden, besser jedenfalls als alle bisher bekannten theoretischen und praktizierten kommunistischen Gesellschaftsordnungen. Dieses System hat es immerhin von der Kinderarbeit zum Jugendschutz, vom 12-Stundentag zur 40-Stundenwoche, vom Proletarier-Elend zum Massenwohlstand gebracht und wird auch weiterhin Mittel und Wege finden, erkannte Mißstände zu beseitigen. Marcuses Vorstellungen von einer befriedeten und besseren Welt, die oft geradezu romantische Züge tragen, für deren Aufbau und Organisation er uns allerdings greifbare und konkrete Vorschläge schuldig bleibt, laufen letzten Endes darauf hinaus, allein die Vernunft zum obersten Leitbild zu machen. Die Vernunft, die so leicht zu verwirren ist, die im abstrakten Raum der Begriffe und Ideen zu Hause ist und daher dem wirklichen Leben meist fremd gegenüber steht, die Verunft, die so oft geirrt hat und in deren Namen so viele Grausamkeiten begangen wurden, daß man an das geistreiche Wort denken muß:
Die revolutionäre Theorie verhält sich zur revolutionären Praxis wie die Behauptung zur Enthauptung.
Zum Schluß und mit Bezug auf Marcuses kritische Theorie kann ich mich eines Zitats aus dem Roman „Königliche Hoheit“ von Thomas Mann nicht enthalten:
„Dies Geschöpf, es lebte in Redensarten, es
kannte vom Leben nicht mehr als die Worte,
es spielte mit den ernstesten und furchtbarsten wie mit bunten
Steinen und begriff nicht, wenn es Ärgernis damit erregte.“