… seid wachsam auf euch selbst!

heißt es in unserem Ritual. Es lohnt sich zu fragen, wie man diesen Satz eigentlich mit Leben füllen will. Je nach Lebenssituation und persönlichen Präferenzen wird sich jeder von uns darauf eine andere Antwort zurechtgelegt haben. Man kann zum Beispiel im erweiterten Sinne der eigenen Daseinsvorsorge auf eine gesunde Ernährung achten und Sport treiben, vorsichtig und rücksichtsvoll mit dem Auto fahren, Sonntags in die Kirche gehen, sich beim Treppensteigen am Geländer festhalten – oder genau das Gegenteil von all dem tun, schließlich lebt man nur einmal und ein wenig Spaß will man in dem bisschen Zeit, das einem auf Erden bleibt, ja auch haben. Wenn man es SO betrachtet, ist … seid wachsam auf euch selbst! so eine Art Kaugummi-Phrase, die Platz für ungefähr Alles lässt. 

Doch das, was beliebig ausgelegt werden kann, so wie es gerade opportun ist, das, was inflationär interpretierbar ist, verliert an Wert. 

Bei der Anwendung von … seid wachsam auf euch selbst! sollte unser Augenmerk also nicht auf unserem (leiblichen) Wohlergehen liegen. Ich hole jetzt ein wenig aus, bevor ich zum Kern meiner Aussage komme. Wir können beispielsweise auch darauf achten, was wir sagen und wie wir etwas sagen. Denn unsere Worte sind – in der Regel – sowohl Ausdruck unseres Denkens als auch Vorboten unseres Handelns. Indem wir wachsam auf unsere Worte achten, vermeiden wir möglicherweise unerwünschte Effekte. Wir können mit Worten das Denken und Handeln anderer Menschen beeinflussen. Wir können andere mit unseren Worten ermutigen oder demotivieren, reizen oder beruhigen, wachrütteln oder einlullen. Worte haben also eine Wirkung. Auch bei uns selbst funktioniert das, wie jeder weiß, der zum Beispiel vor einer schwierigen Aufgabe schon einmal sich selbst mit einem Du schaffst das! zu Bestleistungen motiviert hat.

Wie mächtig sind also Worte!

Deutlich und gleichzeitig verstörend zeigt sich das derzeit an der Art, wie politische Auseinandersetzungen geführt werden. Dass Menschen, in dem Fall Politiker, andere Menschen mit Worten überzeugen, ihnen, den Politikern, das Mandat für dies oder jenes zu erteilen, was dann in der Folge Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit in einer ganzen Gesellschaft hat, kennen wir zur Genüge. Allerdings hatten wir uns in den letzten Jahrzehnten eine politische Kultur geschaffen, in der es normal und üblich war, unterschiedliche Interessen in manchmal langwierigen Prozessen zu sorgfältig austarierten und daher für alle tragfähigen Kompromissen unter einen Hut zu kriegen. Dieser politische Kultur war zumeist geprägt von gegenseitiger Achtung und Respekt und der Einsicht, dass auch die Bedarfe und Bedürfnisse der jeweils anderen Seite die ihnen gebührende Beachtung verdienen und mit kühlen Kopf in eine schlüssige Lösung integriert werden müssen. 

Warum ich von dieser politischen Kultur in der Vergangenheit spreche? 

Seit einigen Jahren dominieren immer häufiger Emotionen den politischen Diskurs und ganz besonders eine, nämlich die Wut, dicht gefolgt von Neid. Starke Emotionen sind hervorragend geeignet, Menschen hinter sich zu vereinen. Und negative starke Emotionen scheinen aus Gründen, die ich bisher nicht verstanden habe, irgendwie leichter hervorzurufen zu sein, als positive. 

Zwar ist nicht jedes Thema gleichermaßen stark darin, zum Beispiel über die Emotion Wut Einigkeit und Gefolgschaft zu erzeugen. Wenn ich sehe, wie sich unsere traditionellen politischen Parteien mit einer Art Möchtegern-Wut aneinander abarbeiten und wegen scheinbarer oder tatsächlicher Fehler sich gegenseitig versuchen madig zu machen in der Hoffnung, der jeweils anderen Partei ein paar Wählerstimmen abzunehmen, werde ich ganz traurig. Wie viel wichtig wäre es, sich mit gewissen populistischen Emporkömmlingen politisch auseinandersetzen, die es schaffen, in den Herzen der Menschen Zweifel und Hass zu säen und dies nutzen wollen, unsere Demokratie auszuhöhlen und abzuschaffen. 

Man nimmt das mit einem vorsichtig formulierten Der politische Diskurs wird rauer zur Kenntnis. Tatsächlich hat es jedoch kaum noch etwas weder mit Politik noch mit Diskurs zu tun, wenn jemand mit seiner Sprache zum Beispiel anderen Menschen das Menschsein aberkennt mit dem Ziel, das eigene Lichtlein heller leuchten zu lassen. Erinnern wir uns daran, als Alexander Gauland die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz wie Müll in Anatolien entsorgen wollte. Ein Paradebeispiel für die Verschiebung unserer Sprachkultur auf ein wirklich erbärmliches Stammtischniveau, das über kurz oder lang alle Dämme brechen lässt und ungehindert menschenverachtende Rhetorik ermöglicht. Folgerichtig mussten wir später Petr Bystrons Äußerung Solche Menschen müssen wir selbstverständlich entsorgen! und weiter Dieter Görnerts Einlassung Das Pack erschießen oder zurück nach Afrika prügeln! über uns ergehen lassen. Wenn man dieser Deutlichkeit überhaupt etwas Gutes abgewinnen kann, dann die Tatsache, dass spätestens nach Holger Stienens Bemerkung Wir brauchen mal ein paar Jahre einen totalitären Staat alter Prägung, um mit dem Gesocks aufzuräumen und die letzten zehn Jahre Gesetzgebung zu kassieren! später niemand mehr sagen kann, er hätte nicht gewusst, für welche politischen Ziele die Mitglieder dieser Partei stehen, die bei der kommenden Bundestagswahl erneut antritt und in Deutschland Regierungsverantwortung übernehmen möchte. Eine Schreckensvorstellung, dass solchen Worten entsprechende Taten folgen könnten.

Ich muss gestehen, in einer solchen Welt würde ich nicht leben wollen! 

Bevor ich hier vollends in ein politisierendes Pamphlet abgleite, möchte ich mich selbst daran erinnern, dass ich mit dieser haarsträubenden doch leider realen Kaskade von immer extremeren Äußerungen eigentlich nur am konkreten Beispiel zeigen möchte, 

  1. wie wirkungsstark unsere Worte sein können, 
  2. wie Worte Wegbereiter weiterer Worte sind und
  3. dass somit die Art und Weise, WIE wir etwas sagen, sich auf das Umfeld deutlich auswirken kann. 

Nach dem Beispiel aus der Tagespolitik ein zweites aus dem ganz kleinen privaten Bereich. Wenn Dein Kind zu Hause etwas verschüttet, kannst Du es laut schelten und strafen. Oder Du bist nachsichtig und machst kein großes Aufheben um die Sache. Im ersteren Fall sink die Stimmung zu Hause vermutlich schlagartig, es wird laut, ein Wort gibt das andere, Türen knallen, Tränen fließen. Im zweiten Fall ist es fast, als sei nichts geschehen – kann ja mal passieren, man versteht sich. Vermutlich ist die zweite auch die dem Anlass angemessenere Reaktion. 

Auch in diesem kleinen, häuslichen Beispiel steht am Anfang das Wort. Das Wort und die Art, wie es gesagt wird. Schelte ich ein nichtiges „Vergehen“, signalisiere ich möglicherweise nicht nur „Mich stört, dass Du etwas verschüttet hast“. Beim Kind kommt eventuell etwas völlig anderes an, vielleicht etwas im Sinne von „Du bist von Geburt an ein ungeschickter Tölpel und nicht wert, geliebt zu werden.“ und dergleichen, was ursprünglich jedoch gar nicht intendiert war. Als Sender habe ich nur teilweise in der Hand, was beim Empfänger ankommt! Wenn ich meine Botschaften sagen wir mal „nachlässig“ versende, erziele ich mit ihnen möglicherweise Effekte, die ich weder beabsichtigt noch gewollt habe. Indem wir wachsam auf uns selbst sind, nehmen wir bewusst wahr, ob wir drauf und dran sind, positive oder negative Gedanken in Form von Worten in die Welt entlassen und ob positive oder negative Handlungen daraus entstehen werden. 

… seid wachsam auf euch selbst! hat also sehr viel mit Achtsamkeit zu tun. Achtsamkeit gegenüber uns selbst, die zu einer Wirkung auf unser Umfeld wird, wie ich am Beispiel des Wortes bzw. der Rede erläutert habe. Damit steht die Aufforderung in unmittelbarem Zusammenhang mit der freimaurerischen Arbeit am rauhen Stein. Sie erinnert uns daran, dass die Arbeit an uns selbst niemals abgeschlossen ist, dass man zu jeder Zeit seine eigenen Ecken der Unvollkommenheit im Auge behalten muss und zum eigenen Wohle und zum Wohle der Gemeinschaft daran arbeiten soll. 

Das ist natürlich kein Universalrezept für eine heile Welt. Doch der Effekt ist real. Gegenüber dieser Tatsache kann man sein Herz verschließen oder öffnen.