Freimaurei und Ordnung

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Abhandlung zur „Studie über die alten Pflichten“ von Br. Bernhard Beyer 

Unser heutiges Oberthema lautet „Freimaurerei und Ordnung“, und wer nun eine Aufzählung darüber erwartet, wie Freimaurer sich anzusprechen haben, wie sie sich in geöffneter Loge oder in Anwesenheit von Nichtfreimaurern im Einzelnen zu verhalten haben, wird enttäuscht werden. Das ist alles nachzulesen und bedarf meines Erachtens hier nicht einer weiteren Vorstellung.

Zum Thema „Stil und Form des Freimaurers“ will ich es dabei belassen, Br. Endres „Geheimnis des Freimaurers“ zu zitieren:

„Im Ritual finden wir, ohne daß Worte es intellektuell begründeten, unsere Gemeinschaft als ein Erlebnis. Nachlässigkeiten in ritueller Hinsicht sind große Fehler. Die Menschen, die Formen mißachten, beweisen damit keineswegs, daß sie besonders freiheitlich gesinnt seien. Wie die verantwortungslose Willkür nichts mit Freiheit zu tun hat, so hat auch betonte Formlosigkeit nichts mit der Freiheit zu tun, sondern viel eher etwas mit dem, was wir „Schlechte Kinderstube“ nennen. Formen sind außerordentlich gute Disziplinierungsmittel, nicht im Sinne eines starren Gehorsams oder der Unterdrückung der Persönlichkeit, sondern im Sinne der Selbstzucht und einer gewissen Bewegungswürde, die sehr vielen Menschen recht notwendig ist. Die Mißachtung oder schlechte Ausführung ritueller Formen bedeutet stets ein Verkennen ihres Wesens. Es gibt sehr tüchtige Menschen, die im Leben ganz formlos sind. Das beweist aber nicht, daß Formlosigkeit eine Voraussetzung der Tüchtigkeit ist. Ebenso gibt es sehr formgebildete Menschen, die sehr untüchtig sind. Auch das beweist nichts gegen die Form. Die gute Form bedeutet für den Tüchtigen ein großes Plus seiner Wirkung auf andere. Sie bedeutet – mehr noch als das – ihm selbst auch eine Harmonie im Äußerlichen, die vor manchem Fehler behütet und an Würde der Bewegung, auch in alltäglichen Dingen, mahnt. Anarchisten der Form mögen in ihrem Rowdytum sich gegenseitig sehr gut gefallen und mögen auf die Menschen, die sich guter Form befleißigen, mitleidig herabblicken. Es muß auch solche Käuze geben. Die Welt ist ohnehin formloser geworden. Eine gewisse Reaktion gegen das Übertriebene früherer Zeiten, in denen die Form vor dem Wesen ging, war sicher am Platze. Aber die Menschen neigen dazu, stets zu übertreiben. Sie pendeln zwischen den Extremen. Die Form wird das Wesen nie ersetzen können. Aber zu tiefem Wesen gehört schöne Form.“

Hauptsächlich wollen wir uns jetzt auf die die „Alten Pflichten“ betreffende Interpretationen Bernhard Beyers, des Gründers der deutschen Forschungsloge „Quatuor Coronatis“, konzentrieren. Dabei werde ich Beyers Erklärungen den ersten Punkt der „Alten Pflichten“ – „Gott und die Religionen betreffend“ – zusammenfassen.

1. Gott und die Religion betreffend

Ein Maurer ist durch seine Berufspflicht (by bis tenure) gehalten, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst (Art) recht versteht, wird er nie ein törichter Gottesleugner (stupid Atheist) oder ein ungläubiger Freigeist (irreligious Libertine) sein. Aber obwohl in alten Zeiten die Maurer verpflichtet waren, in jedem Lande der Religion jenes Landes oder Volkes anzugehören, welche es auch war, so wird es doch jetzt für zweckmäßiger gehalten, sie nur zu derjenigen Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen, indem man ihre besonderen Meinungen ihnen selbst überläßt, nämlich: gute und redliche Männer zu sein, Männer von Ehre und Rechtschaffenheit, durch was für Benennungen oder Überzeugungen sie sich auch unterscheiden mögen. Dadurch wird die Maurerei der Einigungspunkt und das Mittel, unter Leuten, die einander beständig hätten fremd bleiben müssen, treue Freundschaft zu stiften.

So gut wie alle Großlogen der Welt erklären dies für bindend.

Natürlich stellen sich dem Leser ersteinmal Fragen wie: 

* Müssen Freimaurer Christen sein ?

* Dürfen Freimaurer Atheisten sein ?

* Dürfen Freimaurer Materialisten sein ?

2. Welche Religion ist das denn, von der es da heißt, daß in ihr alle Menschen übereinstimmen ?

Beyer erläutert in seiner Studie den historischen Kontext der „Alten Pflichten“, die kurz nach der Gründung der ersten Freimaurer-Großloge aus vier Steinmetzbauhütten(1717) von James Anderson im Auftrage des ersten Großmeisters, des Herzogs von Montague zusammengetragen, erstellt und veröffentlicht wurden. Damals herschte in England die Denk- bzw. Glaubensrichtung des „Deismus“ vor.

„Unter Deismus versteht man eine in England im 17. und 18. Jahrhundert herrschende Richtung „des verständigen Fragens und Forschens in Rücksicht auf die Religion mit dem Bestreben, alle positiven Religionen aus der einen natürlichen Religion abzuleiten“.

Als das Wertvolle an der persönlichen Religiosität erschien nicht mehr das Fürwahrhalten der einzelnen Dogmen, sondern die Annahme einiger allgemeiner dem vernünftigen Denken von selbst einleuchtender Sätze, ein sittlich gutes Leben oder die innere Kraft des Herzens. Von den verschiedenen positiven Religionen erscheint nicht mehr die christliche als allein wahre, sondern hinter allen Religionen sucht man die eine, allein ganz wahre „natürliche“ Religion, die in allen positiven wenigstens zum Teil enthalten, aber in jeder durch mancherlei Zusätze abgeändert ist.

Begründet durch Thomas Morus, Herbert von Cherbury, Thomas Hobbes u. a., erreicht der englische Deismus seine Blüte in der Zeit von 1689-1742. Schon seit dem Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich allmählich bei allen fortschrittlichen Geistern Europas eine Richtung ausgebildet, die bestrebt war, allen konstruktiven, auf das Leben bezüglichen Wissenschaften eine neue Grundlage zu geben. Sie sollten nicht mehr aus der Tradition oder aus dem „Lichte der Offenbarung“, sondern aus dem „natürlichen Lichte“, d. h. aus der menschlichen Vernunft gewonnen werden. Die „Natur“, gleichbedeutend mit der Vernunft, soll die Quelle aller Wissenschaft sein, auch derjenigen, die man bisher nur unmittelbar göttlicher Offenbarung zu verdanken glaubte.

Der wichtigste Teil aber dieser naturgemäßen Wissenschaften war die natürliche Religion. Im 16. Jahrhundert entsprungen, ist sie, wie alle neueren Ideen desselben, ein Erzeugnis der fruchtbaren Berührung der Gedanken des Altertums mit der christlichen Weltanschauung. Als man nicht mehr bloß Aristoteles, sondern auch die übrigen Philosophen des Altertums genauer kennenlernte, fand man bei ihnen insgesamt gewisse Lehren vor, die man bis dahin für die sonst nirgends erkannten Hauptstücke der christlichen Lehre, der durch Christus uns zuteil gewordenen Offenbarung ansah. Man wußte längst, daß Aristoteles einen einzigen außerweltlichen Gott lehrte, neben ihm nur ihm untergeordnete Dämonen; man erkannte aber, daß auch Plato und die Stoa einen einzigen, alles beherrschenden Gott annahmen, zu dem sich alle anderen Götter nur als dienende Naturgewalten verhielten, und daß dieser Gott, allgütig wie der christliche, die Menschen durch seine Vorsehung lenkte. Man fand ferner, daß der Stoiker Seneca die Unsterblichkeit der Seele in lebhaften Zügen ausmalte und daß Plato im 10. Buche seines „Staates“ ein Totengericht schilderte, in dem die Guten, zur Rechten der Richter stehend, belohnt, die Bösen, zur Linken stehend, bestraft wurden, ganz ähnlich wie in dem Totengericht des 25. Kap. des Mattheus Evangeliums.

So ergaben sich im wesentlichen drei metaphysische, über alle Erfahrung hinausreichende gemeinsame Bestandteile des Christentums und der antiken Philosophie: Gott, Unsterblichkeit und Vergeltung nach dem Tode.

Diese drei Ideen sind die nie fehlenden Elemente einer „natürlichen Religion“ geworden. Cicero und Seneca, wohl die bekanntesten der antiken Autoren lehrten nicht bloß beide nach stoischen Quellen die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, sondern bewiesen beides auch dadurch, daß das Wissen davon nebst den einfachsten Begriffen der Tugend und des Rechts die „notiones communes“ bilde, die nicht von außen kommen, sondern der Anlage nach allen Menschen angeboren seien. Worüber alle von Natur eins sind, das muß wahr sein. Dieser Beweis Gottes ex consensu gentium lebte jetzt wieder auf. In ihm liegt die Anerkennung einer natürlichen Religion.

3. Ist also wirklich gemeint, daß Freimaurer „Deisten“ sein müssen, resp. Anhänger der natürlichen Religion (auch wenn es sich beim Deismus um eine wahrhaft aufklärerische Denk- und Glaubensrichtung ohne Dogmata handelt)?

In Wirklichkeit kann darüber kein Zweifel bestehen, führt Beyer aus, dass die Grundforderungen der Alten Pflichten so herabgesetzt sind, dass eigentlich überhaupt nicht mehr von einer Religion die Rede sein kann, denn „gut“ oder „treu“ oder „ehrenhaft“ resp. „rechtschaffen“ – wie man die englischen Worte auch übersetzen mag – sind wohl ethische, aber beim besten Willen keine religiösen Begriffe. Und so wird, streng genommen, in den Alten Pflichten von den Maurern überhaupt keine besondere religiöse Überzeugung verlangt, Ja, noch mehr! Es wird sogar dekretiert, dass nicht einmal Atheisten aus dem Bunde ausgeschlossen werden müssen; denn die Stelle: „und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein stumpfsinniger Gottesleugner … sein“, kann nur dahin ausgelegt werden, daß ein Atheist sehr wohl in der Loge sein kann, nur wird er in ihr angesehen als einer, der die Kunst nicht recht versteht, das heißt natürlich, daß er keine Amts- oder Ehrenstellung in der Loge bekommen kann.

Aus dem Wortlaute der „Alten Pflichten“ könnte man höchstens folgern, dass ein „stumpfsinniger Gottesleugner“ überhaupt nicht in die Loge aufgenommen werden sollte, da es widersinnig wäre, jemand zum Maurer zu machen, von dem man von vornherein annehmen muß, daß er die Kunst doch nicht recht verstehen werde.

Wenn man übrigens bei den beiden Worten „stupid atheist“ die Betonung auf das erste, also „stupid“ legt, so würde der Sinn der sein, daß nur ein stumpfsinniger Gottesleugner die Kunst nicht recht versteht, während ein durch wissenschaftliche Forschung und Überzeugung zum Atheisten Gewordener ganz anders zu beurteilen ist.

Richtig ist allerdings, daß „später“ alle Freimaurer den Glauben an Gott als den „Allmächtigen Baumeister der Welt“ postuliert haben; so orthodox aber waren – und das muß immer wieder scharf betont werden – die „Alten Pflichten“ noch keineswegs, die vielmehr nur bestimmten, daß derjenige, der diesen Glauben nicht habe, als Maurer niemals ein rechter Künstler sein könne. Die Fähigkeit aber, überhaupt als Maurer aufgenommen zu werden, wird durch die „Alten Pflichten“ auch dem Atheisten nicht absolut abgesprochen.

Die Freimaurerei ist aber nicht nur ein Hort aufklärerischen Gedankentums, die Loge nicht nur ein Kreis debattierfreudiger Brüder, sondern auch ein Mysterienbund in einer Kette von Mysterienbünden, die laut Definition alle folgende Merkmale haben:

* Geheimhaltung des Brauchtums,

* Verehrung irgendeiner Gottheit, oder, wenn man das Mysterium auf ein

urmenschliches Mysterium schlechthin zurückführt: des Gottes,

* Prüfungen oder Mutproben für die Neophyten,

* Vermittlung des Weistums durch Symbole oder symbolische Handlungen, 

* Wiedergeburt nach innerer Wandlung.

Diese Kernstücke aller echten Mysterien finden wir auch im Freimaurerbunde; alles darüber Hinausgehende ist mehr oder weniger belanglose Zutat.

Wenn nun auch die Alten Pflichten noch nicht unbedingt die Forderung des Gottesglaubens aufstellten, so ist doch nach 1723 eine weitere Purifikation unseres Mysteriums in diesem Sinne eingetreten, insofern nämlich, als die Forderung des Glaubens an den allen Menschen gemeinsamen Gott immer klarer und eindeutiger herausgestellt wurde. Eine Loge ohne Forderung des Gottesglaubens, der ja unbedingt zu den Kriterien eines echten Mysterienbundes gehört, wäre nur ein profaner, ethischer Verein mit rituellen Gebräuchen; aber die Aufnahme in einen solchen Verein könnte niemals als ein heiliger Akt hingestellt und auch nie so empfunden werden.

Hier begegnen sich also wiederum Deismus und Mysteriengeist in sehr harmonischer Weise; und es ist sicherlich nicht allein aus der Zeitströmung heraus zu erklären, daß die Alten Pflichten uns so intensiv deistischen Geist empfinden lassen.

Wenn die These richtig ist, daß unser Freimaurerbund der einzige noch bestehende echte Mysterienbund ist und wenn man sich dann vor Augen hält, daß jeder der früheren Mysterienbünde eine ganz bestimmte Gottheit zum Mittelpunkt hatte, so ist darauf der Schluß berechtigt, daß dies dann ja auch für den Freimaurerbund zutreffen müßte. Tatsächlich unterliegt es nun für mich keinem Zweifel, daß auch im Brauchtum unseres Mysterienbundes bereits in vorfreimaurerischen Zeiten eine ganz bestimmte Zentralgottheit verehrt wurde. Sicherlich wurde also in der Steinmetzbruderschaft ein heidnisches Mysterium christianisiert. Als nun im Jahre 1717

4. die Erneuerung des Mysteriums

einsetzte, da trat wiederum ein harmonisches Zusammenklingen vom Mysterium und Deismus in die Erscheinung: die heidnische Gottheit war versunken, und das Christentum war in so viele sich gegenseitig tödlich bekämpfende Spielarten zerfallen, daß das Mysterium damals unter dem Einflusse des Deismus den schon lange herangereiften entscheidenden Schritt tat und sich in seinem Brauchtum sowohl vom Heidentum als auch vom Christentum freimachte, um von nun an nur noch dem – wenn man so sagen darf – neutralen“ Gotte zu huldigen.

Dies war, arg gerafft und zusammengefasst, was Bernhard Beyer zu den Fragen, ob der Freimaurer Christ oder Deist sein müsse und Atheist sein dürfe, ausführt. Die „Alten Pflichten“ fordern dies nicht von uns; die Freimaurerei als Mysterienbund jedoch setzt per Definition voraus, daß der Freimaurer die Existenz eines höchsten Wesens, einer höchsten Wesenheit akzeptiert, weil, „salopp“ gesagt, das Mysterium nur in Hinsicht auf eine Gottheit „funktionieren“ kann.

5. Wie sieht es nun mit dem in den „Alten Pflichten“ angeführten „Sittengesetz“ aus? Was ist darunter zu verstehen?

„Das Sittengesetz ist – im Sinne der „natürlichen Religion“ – das Ergebnis des jedem guten Menschen (und nur solche kommen ja für die Freimaurerei in Frage) angeborenen Gewissens. Und dieses wiederum ist ein Ausfluß Gottes, ein göttlicher Funke, der dem Menschen mitgegeben ist. Die Gottheit offenbart sich am klarsten im Gewissen. Denn das Gewissen ist nicht bloß maßgebend für das Handeln, sondern auch eine Quelle der Erkenntnis. Es sagt uns z. B., ob wir für eine Frage die richtige unserer geistigen Fähigkeiten anwenden. Letzten Endes finden wir also in den Alten Pflichten die Forderung nach dem reinen Menschentum aufgestellt, das mit dem goldenen Winkelmaße des Gewissens bestimmt wird, das Gott in jedes guten Menschen Herz gelegt hat. Das Gewissen ist sozusagen das Organ, durch das wir geistig oder seelisch mit dem Kosmos und mit Gott in Verbindung stehen.

So kommt man immer wieder auf die Tatsache, daß der Freimaureibund ein Mysterienbund ist. Ein Sittengesetz im Sinne der Alten Pflichten wäre ohne überweltliches Band, also ohne Anknüpfung an Gott unsinnig; denn das Gewissen ist nicht etwas Erlernbares oder dem Menschen Anerziehbares, sondern ebenso wie die „natürliche Religion“ ihm schon von Geburt an innewohnend. Es erstreckt sich auch nicht allein auf das Verhalten den Mitmenschen gegenüber, sondern bezieht sich auf die ganze lebende und leblose Natur, ja wirkt sich auch bis ins Kosmische hinein aus, indem jede gegen das Sittengesetz verstoßende Handlung, jedes ungute Wort, ja jeder schlechte Gedanke die aus dem Vorhandensein eines „Sittengesetzes“ ohne weiteres zu folgende sittliche Weltordnung stören muß.“

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