Der Maßstab

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Symbole sind nicht nur ein wesentlicher Bestandteil und Werkzeuge freimaurerischer Arbeit, sondern sie sind Allgemeingut der Menschheit und gehören seit eh und je zum geistigen und kulturellen Leben aller Völker. Von ihnen und besonders vom Symbol des Maßstabs soll heute die Rede sein. Symbole sind Sinnbilder und führen ins Weitläufige, im Gegensatz zu den Begriffen, die präzise sind und eine engumgrenzte Bedeutung besitzen. Sie wenden sich mehr an das Gefühl als an die Vernunft und vermögen deshalb uns tiefer zu ergreifen als logische Argumente. Symbole sind begrifflich nicht auszuschöpfen, da in ihnen eine Vielfalt von tiefen und zum Teil verborgenen Sinnzusammenhängen anschaulich vereint ist, die zwar gefühlsmäßig miteinander verwandt sind, aber keine direkte und logische Verbindung zueinander zu haben brauchen. Die geistige Sphäre, die ein Symbol umgreift, liegt grundsätzlich nicht fest. Die Grenzen sind fließend, zumal sie auch noch von jedem Einzelnen individuell gezogen werden können.

Symbole waren nicht immer nur Ausdruck geistigen und kultischen Lebens, sondern oft auch Sinnbilder historischer Veränderungen. Die alten Führungseliten der Krieger und Priester haben sich ihrer schon sehr frühzeitig bedient, und unter ihren Zeichen fanden großartige und grausame Ereignisse statt.

Es gibt agressive und friedliche Symbole, das Schwert und die Taube, das Kreuz und den Stab des Äskulap z. B. Der Charakter eines Symbols hängt von seinem Sinngehalt ab, und der kann sich ändern oder auch verändert werden. Ein Beispiel dafür ist die bereits zitierte Taube: Ihre Bedeutung hat sich merklich gewandelt, seit Picasso sich ihrer angenommen hat. Das Symbol steht für einen mehr oder weniger großen Sinngehalt; es ist vor aller Begrifflichkeit leicht aufzufassen, weil es eine zum Anfassen anschauliche Realität besitzt. Man bedient sich seiner gern, weil man es jederzeit mitgestalten kann, und es jedem etwas gibt.

Je bedeutender der Sinngehalt, um so bewegender und wirksamer ist das Symbol. Hüten sollte man sich vor Symbolik um jeden Preis, vor Symbolen, denen ein ausreichender Sinngehalt fehlt, und die deshalb hohl und gekünstelt wirken müssen. In unseren freimaurerischen Katechismen finden sich dafür leider Beispiele. So wird u. a. dem Klopfen des Lehrlings eine besondere symbolische Bedeutung zugemessen, die sie so nicht besitzt. Danach sollen die Schläge den Eifer des Freimaurers zur Arbeit und seine Beharrlichkeit bedeuten. Das scheint mir nun doch ein wenig an den Haaren herbeigezogen. Der Sinngehalt ist hier wohl gar zu dürftig. Auf diese Weise kann eine schöne, bilderreiche Ausdrucksweise leicht zu einer leeren Formelsprache entarten. Symbole sind nicht Selbstzweck, sondern Werkzeug. Sie sollen nicht nur zu verständnisvoller Betrachtung anregen, sondern sie sollen etwas bewegen. Freimaurer erwarten von ihnen fruchtbare Anstösse für ihre Arbeit am rauhen Stein, dem Sinnbild des unvollkommenen Menschen.

Symbolde um jeden Preis und ohne verünftigen Sinngehalt sind also von Übel. Aber andererseits kommen manche Symbole in ihrer Bedeutung zu kurz, weil ihr Sinngehalt nicht voll erkannt wird. Ein Beispiel dafür ist der Maßstab, der 24-zöllige Maßstab, der dazu dienen soll, die Zeit mit Weisheit einzuteilen: 6 Stunden zur Arbeit, 6 Stunden Gott zu dienen, 6 Stunden der Familie bzw. einem Freunde oder Bruder zu dienen, 6 Stunden zum Schlaf. Dieses große und inhaltsvolle Sinnbild ist hier wegen der banalen Analogie 24 Zoll = 24 Stunden auf eine recht simple Stundentafel verkürzt worden. Natürlich ist es wichtig, unser kurz bemessenes individuelles Leben klug zu nutzen, aber mit einem Maßstab wird nicht eingeteilt, sondern gemessen. Auch dieses Symbol meint mehr, als es zunächst scheint. Seine Bedeutung erschöpft sich nicht im täglichen Leben, in der Technik, im Beruf, im Sport, wo ständig gemessen wird, und wo der Maßstab gebraucht wird, um Längen, Volumen, Geschwindigkeiten, Stromstärken und vieles andere mehr zu messen. Den Maßstab brauchen wir auch für unser geistiges und sittliches Leben. Wir brauchen ihn für die Ebene, auf der die Entscheidungen getroffen werden, ethische, persönliche, wirtschaftliche und politische Entscheidungen. Mit ihm messen wir, was wahr, was gut und was schön ist. Aber dieser Maßstab wird uns nicht fertig in die Hand gedrückt; den müssen wir uns erarbeiten und in den Wechselfällen des Lebens reifen lassen. Seine Gradeinteilung besteht aus sittlichen Grundsätzen, Lebenserfahrung und vorurteilsfreiem, logischen Denken. Der rechte Maßstab ermöglicht uns, den festen Standpunkt zu finden, von dem aus wir die Welt und ihre drängenden Probleme ruhig und sicher ins Auge fassen können, und er bewahrt uns vor der Gefahr der Maßlosigkeit, der wir heute so oft begegnen. Mit diesem Werkzeug sind wir in der Lage, die uns umgebende Vielfalt zu ordnen und jedem Teil seinen Wert und seine Bedeutung für das Ganze zuzumessen.

Hätten wir den Maßstab nicht, wie sähe unsere Arbeit am rauhen Stein aus? Woher sollten wir wissen, welche Kanten zu glätten sind, und wo wir den Spitzhammer anzusetzen haben. Mit ihm messen wir, und an ihm werden wir mit unseren Taten, Ansichten und Absichten gemessen. Wer Terroristen als Freiheitskämpfer, Gewalttäter als Friedensfreunde, Versager als Menschen auf der Suche nach alternativen Lebensformen bezeichnet, wer meint, daß Krakeeler und Randalierer mehr Demokratie wagen, Feiglinge Mut zur Angst zeigen, Diebe Opfer der Konsumgesellschaft sind, Weinerlichkeit neue Männlichkeit verrät, Pflicht Zwang ist und Gewinn Profit, der offenbart nicht nur seinen Maßstab und dessen Gradeinteilung, sondern auch sich selbst.

Was soll man z. B. von einem erwachsenen Mann halten, der zum Kadi eilt, weil er beim Herunterrutschen auf einem Treppengeländer gegen einen Eisenpfeiler geprallt war und sich dabei verletzt hatte, und der uneinsichtige Hauseigentümer ihm weder die Behandlungskosten noch Schmerzensgeld bezahlen wollte; was von der Geschäftsführerin eines Literaturzentrums und ihrem Anwalt, die vor Gericht nicht einsehen wollten, daß das Überkleben von Wahlplakaten mit provozierenden Parolen Sachbeschädigung sei und die ein Bußgeld ablehnten, weil sie behaupteten, in Notwehr gehandelt zu haben und zwar in Notwehr gegen die Aussagen des Wahlplaktes.

Das sind zwei kuriose Fälle von vielen, die jeden Tag passieren, und die uns Maßlosigkeit oder ein gestörtes Verhältnis zum Recht durch Überschätzung der eigenen Person, also letzlich defekte Maßstäbe aufzeigen. Derartige Vorkommnisse sind zwar ärgerlich, aber davon geht die Welt nicht unter. Jedoch was kann geschehen, wenn an verantwortlicher Stelle der richtige Maßstab fehlt, wenn Wirtschaftsführer, Gewerkschaftsfunktionäre oder gar Regierungen maßlos werden oder falsche Maßstäbe benutzen? Der innere, wenn nicht gar der äußere Frieden kann in Gefahr geraten und unendliches Unglück kann die Folge sein.

Die letzten 150 Jahre haben unser Leben durch wissenschaftliche und technische Entwicklungen sehr verändert und manche sichere Erkenntnis erschüttert. Durch den Übergang vom Agrarstaat zum modernen Industriestaat, durch Atomphysik, Raumfahrt und Computertechnik hat sich die Welt und unser Bewußtsein verändert. Die neuen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse stellen uns vor große Probleme, das ständige Wirtschaftswachstum gefährdet unsere Umwelt, und die drohende Überbevölkerung der Erde gibt Anlaß zu größter Besorgnis.

Ich glaube aber nicht, daß wir angesichts einer solchen Entwicklung, die keineswegs abgeschlossen ist, unseren Maßstab ändern oder gar aufgeben dürfen, sondern daß wir vielmehr darauf zu achten haben, daß bei allem Wandel, der nicht aufzuhalten ist, für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit die sittlichen Grundsätze der Wahrheit, Menschenwürde und Nächstenliebe sowie das vorurteilsfreie, logische Denken nicht angetastet werden und die Menschheit nicht in die Barbarei zurückfällt.

Das ist für mich die Botschaft des Maßstabs.

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