Freimaurerische Motive in Werk und Gedankengut Hermann Hesses
Mit seiner Aufnahme in unseren Bruderbund der Freimaurer hat sich der Neophyt einer Gemeinschaft von Suchenden angeschlossen, deren ideelles Streben dahin gerichtet ist, in engem brüderlichen Austausch an der eigenen ethisch-sittlichen Vervollkommnung zu arbeiten. Während des Aufnahmerituals wird der Suchende angehalten, Wahrheiten in seinem Inneren zu reflektieren bzw. zu suchen. Dies Kernelement der darauf aufbauenden freimaurerischen Ethik ist eine Erkenntnis, die wir sowohl in den alten Orakeln – so im Delphischen „Erkenne Dich selbst“-, als auch in der Alchemie finden:
Visita interiora terrae, rectificando invenies occultum lapidem“
(„Erforsche das Innere der Erde, und indem Du dich läuterst, wirst Du den Verborgenen Stein finden“).
Im freimaurerischen Sinne ist dieser Verborgene Stein jener noch raue und unbehandelte Stein, der zugleich jedoch all diejenigen Anlagen in sich trägt, auf denen letztlich der individuelle Beitrag des Einzelnen zum Bau des Tempels der Humanität basieren kann. Denn die Freimaurerei gründet sich auf der aufklärerischen Überzeugung, daß die reflektierte Beschäftigung mit dem eigenen Selbst zu einer Öffnung und Weitung der Ansichten, zu Menschenfreude und zu Toleranz führt.
Warum sage ich dies alles hier an dieser Stelle?
Ich sage dies, weil Herrmann Hesse auch als Suchender in diesem Sinne gesehen werden kann, wie ich in dieser Zeichnung darlegen möchte.
Bevor ich darauf jedoch näher eingehe, möchte ich zunächst einige biografische Anmerkungen für diejenigen geben, die mit der Person und dem Werk Hermann Hesses nicht vertraut sind:
Hermann Hesse wurde am 2. Juli 1877 in Calw/Württemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und einer württembergischen Missionarstochter geboren. 1946 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er starb am 9. August 1962 in Montagnola bei Lugano.
Hesses Bücher, Romane, Erzählungen, Betrachtungen, Gedichte sowie seine politischen, literatur- und kulturkritischen Schriften sind in einer Auflage von mehr als 70 Millionen Exemplaren in aller Welt verbreitet und haben ihn zum meistgelesenen europäischen Autor des 20. Jahrhunderts in den USA und in Japan gemacht – übrigens vor allem in Krisenzeiten. Zu seinen Hauptwerken zählen die Romane „Peter Camenzind“, „Demian“, „Siddhartha“, „Narziß und Goldmund“, „Der Steppenwolf“ und das Alterswerk „Das Glasperlenspiel“.
Die Zerrissenheit, Sensibilität und Labilität von Hermann Hesse bestimmt in höchstem Maße seine Werke, in denen es weniger um äußere Aktion als vielmehr um Veränderungen, Modulationen innerer Handlungen geht.
Bereits als Kind zum Dichter berufen gefühlt, hat Hesse ein schwieriges Leben gehabt.
Eine Erschwernis wurde durch seine dauerhaften physischen Krankheiten verursacht. So litt er etwa zeitlebens unter schweren Kopfschmerzen; am Ende unter zunehmender Erblindung. – Wesentlicher und vermutlich auch Grund für seine physischen Krankheiten sind jedoch die Spannungen im geistig-seelischen Bereich:
Streng pietistisch erzogen galt er in seiner Jugend als schwer erziehbar und widerspenstig. 1892 trat er als Schüler die Flucht aus dem evangelisch-theologischen Seminar in Maulbronn an; danach wurde er für einige Zeit in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten gebracht wurde, einem Heim für geistig zurückgebildete und epileptische Kinder. Die schulische Odyssee endete später in der bürgerlichen – oft abgebrochen – Arbeit als Buchhändler (zeitweise auch als Uhrenmacher), die Hesse jedoch stets unbefriedigte.
Schon der Hintergrund der bereits in seiner Jugend vorhandenen eigenen psychologischen Probleme, die immer wieder in seinem Leben die Form schwerer Depressionen annahmen, legt eine nach innen gerichtete literarische Arbeit Hesses nahe. Diese Veranlagung wurde zusätzlich durch andere Umstände verstärkt: zwei unglückliche geschiedene Ehen (und hier vor allem die Einweisung seiner ersten Frau in eine Nervenheilanstalt), der Tod eines seiner Kinder, der Selbstmord seines Bruders Hans, das Leid von zwei Weltkriegen.
Im Ergebnis führte diese Gemengelage dazu, daß der Beschäftigung mit der menschlichen Psyche und ihren Konflikten, also der Blick nach Innen, das zentrale Interesse Hermann Hesses galt.
Die seelischen, inneren Konflikte des Menschen und die oft nur angedeuteten Antworten auf die sich daraus ergebenen Fragen entsprechen nun dem, was nach meiner Auffassung Hermann Hesse und die Freimaurerei zu einem großen Teil verbindet. Konkret sehe ich ein geistiges Einvernehmen in drei sich wechselseitig tragenden und ergänzenden Aspekten:
- dem auf dem Pfeiler der Selbsterkenntnis- und Weisheitssuche basierende Prinzip der eigenbestimmten Entwicklung des Menschen;
- dem Prinzip der Einheit im Gegensätzlichen;
- den Grundgedanken der Universalität und Toleranz.
Ich möchte diese Punkte skizzenhaft an einigen Stellen im Werk Hesses veranschaulichen:
- Zentrales und durchgängiges Motiv in Hesses Arbeit ist vor dem Hintergrund der geschilderten psychischen Zerrissenheit des Autors die Auseinandersetzung eines sich entwickeln-wollenden Einzelnen mit seiner Umgebung.Dieses Prinzip der eigenbestimmten Entwicklung des Menschen hat Hesse schon in einem seiner frühen Werke, Unterm Rad, aufgegriffen. Hier attackiert Hesse das kaiserlich-wilhelminische Erziehungssystem seiner Zeit mit dessen drillhafter Erziehung, wobei die auftretenden Personen hier, wie auch in seinen anderen Romanen, in hohem Maße autobiografische Züge tragen. Flucht und Heimeinweisung des Schülers Hesse, die in dem Roman aufgearbeitet werden, hatte ich ja bereits angesprochen.Ein anderes Beispiel ist der Musikerroman Gertrud, in dem der Künstler als Außenseiter im Konflikt mit der bürgerlichen Welt steht.Die Auseinandersetzung des Individuums mit der Moderne fließt später vor allem in den Steppenwolf, eines seiner wichtigsten Bücher, ein. Entscheidend für die Ausgestaltung dieses Romans wurde für ihn vor allem die Begegnung und Auseinandersetzung mit der psychologischen Lehre C.G. Jungs, die dazu führte, daß Hesse lange Jahre bei einem Schüler Jungs, Dr. Lang, in therapeutischer Behandlung war.
Im Steppenwolf wird das Geschehen im Unterschied zu den vorangegangenen Romanen in die Stadt verlagert, dem Symbol der Moderne. Im Mittelpunkt des Geschehens steht das Seelenleben Harry Hallers. Der diesen Roman durchziehende Konflikt basiert auf dem abendländischen Dualismus Böse-Gut in Form des Konflikts Natur-Geist. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnis wird der Bestimmung des Menschen nachgegangen. Eine Schlüsselrolle im Roman nimmt das sogenannte „Tractat vom Steppenwolf“ ein, das Harry Haller zugespielt wird und das ihn über seine eigene Situation und die des Menschen an sich aufklärt. So ist zu lesen:
Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung, …, er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geiste hin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung – nach der Natur, zur Mutter zurück zieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll bebend sein Leben.
Zwischen dem Geist auf der einen Seite – repräsentiert in den sogenannten Unsterblichen (z. B. Mozart) – und der Natur, dem Wolf, auf der anderen Seite steht nun der Bürger als Mensch der Konvention, als Mensch des Kompromisses. Dieser Menschentypus wird jedoch von Hesse abgelehnt:
Was die Menschen jeweils unter dem Begriff Mensch verstehen ist stets nur eine vergängliche bürgerliche Übereinkunft. Gewisse roheste Triebe werden von dieser Konvention abgelehnt und verpönt, ein Stück Bewusstsein, Gesittung und Entbestialisierung wird verlangt, ein klein wenig Geist ist nicht nur erlaubt, sondern wird sogar gefordert. Der „Mensch“ dieser Konvention ist, wie jedes Bürgerideal, ein Kompromiss, ein schüchterner und naivschlauer Versuch, sowohl die böse Urmutter Natur wie den lästigen Urvater Geist um ihre heftigen Forderungen zu prellen und in lauer Mitte zwischen ihnen zu wohnen.
Das Problem ist, daß der mögliche Weg, der zu einer Überwindung des „Bürgers“ führt, schmerzhaft ist und die Überwindung tradierter und etablierter Vorstellungen bedeutet:
Den Weg zum wahren Menschen, den Weg zu den Unsterblichen kann Harry zwar recht wohl ahnen, geht ihn auch hie und da ein winziges, zögerndes Stückchen weit und bezahlt das mit schweren Leiden, mit schmerzlicher Vereinsamung. …
Obwohl ihm vom Ziel der Menschwerdung mehr bewusst ist als den Bürgern, macht er doch die Augen zu und will nicht wissen, daß das verzweifelte Hängen am Ich, das verzweifelte Nichtsterbenwollen der sicherste Weg zum ewigen Tode ist …Was aber ist der Weg, der eingeschlagen werden kann? Der Weg zurück zur Mutter Natur ist verstellt:
Harry kann niemals wieder ganz zum Wolfe werden … wer ein Wolf zu sein begehrt, begeht dieselbe Vergesslichkeit wie der Mann mit jenem Liede „O selig, ein Kind noch zu sein!“ Der sympathische, aber sentimentale Mann, der das Lied vom seligen Kinde singt, möchte ebenfalls zur Natur, zur Unschuld, zu den Anfängen zurück und hat doch ganz vergessen, daß die Kinder keineswegs selig sind, daß sie vieler Konflikte, daß sie vieler Zwiespältigkeiten, daß sie aller Leiden fähig sind. (Siehe Anmerkung 1)
Die Lösung des Konflikts liegt bei Hesse entsprechend nicht in einem Rousseauschen „Zurück zur Natur“, sondern in der Sublimierung, Entselbstung und Menschwerdung des Individuums. „Menschwerdung“ bedeutet nach Hesse in letzter Konsequenz die eigene Wandlung und die Überwindung des Ich als Individuum – damit aber auch zugleich auch dessen Vollendung:
… du wirst schon den längeren, den mühevolleren und schwereren Weg der Menschwerdung gehen, du wirst deine Zweiheit noch oft vervielfachen, deine Kompliziertheit noch viel weiter komplizieren müssen. Statt deine Welt zu verengern, deine Seele zu vereinfachen, wirst du immer mehr Welt, wirst schließlich die ganze Welt in deine schmerzlich erweiterte Seele aufnehmen müssen, um vielleicht einmal zum Ende, zur Ruhe zu kommen. … Jede Geburt bedeutet Trennung vom All, bedeutet Umgrenzung, Absonderung von Gott, leidvolle Neuwerdung. Rückkehr ins All, Aufhebung der leidvollen Individuation, Gottwerden bedeutet: seine Seele so erweitert haben, daß sie das All wieder zu umfassen vermag.
Es liegt auf der Hand, daß dieser (innere) Weg nur von wenigen vollendet werden kann (Anmerkung 2). Aber es ist genau der Weg, der vom Menschen beschritten werden muss um Mensch zu werden. Ihn gilt es also, zu finden und zu beschreiten.
Finden setzt zunächst einmal Bewegung voraus. Das Veränderungs-Motiv nimmt insofern in Hesses Akteuren eine besondere Gestalt an. Der Wanderer, der Nomade, der Zigeuner, der fahrende Gesell, der Einzelgänger, ja der Einsiedler sind das Selbstverständnis und Ideal des Autors.
Auch in der Freimaurerei nimmt das Veränderungsmotiv eine vergleichbare zentrale Rolle ein. – „Suchet, so werdet ihr finden“ steht für den zweiten Schlag des Suchenden an die Tempeltür. Und nur durch Wanderungen und die Überwindung von Erschwernissen, im Aufnahmeritual durch die Reisen symbolisiert, kann der Suchende zum Licht gelangen.
In der Person Hesses selbst steht dem eigenen literarischen Ideal des unsteten Wanderers nun allerdings die Realität des dreifachen Ehemanns und Familienvaters mit eigenem offenen Haus und weltläufiger Korrespondenz entgegen, der zudem noch in höchstem Masse für das Bildungsbürgertum schreibt und darin auch seine geistigen Wurzeln hat. Es sind diese Widersprüche von Künstler und Bürger, von Freiheit und Gebundenheit, von Sein und Sollen, die für Hesse bezeichnend und die Triebfeder für sein künstlerisches Schaffen sind.
Auch der Freimaurer lebt in einem vergleichbaren Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite steht das Ideal, der 24-zöllige Maßstab, der Spitzhammer, die Mitwirkung am geistig-ideellen Bauwerk, auf der anderen Seite die Realitäten – sei es in Form sogenannter Sachzwänge, sei es die eigene Bequemlichkeit.
Wie stark ist doch die Gefahr, daß der wirkliche, ernsthafte Einsatz für Ideale verdrängt wird? Wie leicht ist es, Ausreden zu finden? Wie einfach ist es, sich selbst etwas vorzumachen? Und wie schrecklich ist und wäre es, sich im Spiegel womöglich als Heuchler zu entlarven, der seinen eigenen edlen Worten wenig edle Taten folgen lässt. –
Vielleicht heißt die Freimaurerei auch deshalb „königliche Kunst“, weil es eine hohe Kunst ist, den eigenen Weg zum Licht ungeachtet seiner möglichen Konsequenzen, die Veränderungen mit sich bringen, auch zu gehen – und dies ungeachtet dessen, ob man das Ziel auch erreicht.
Aber welchen Preis, wenn ich denn müsste, würde ich bezahlen, um auf meinem Weg voranzuschreiten? Was würde ich aufgeben? Würde ich, wie etwa Bruder Böhm, ein Prominentenleben aufgeben, um Menschen in Afrika zu helfen? Würde ich mich den damit verbundenen Schwierigkeiten stellen, wenn ich dies als meinen persönlichen Weg erkannt habe?
Und wie steht es dann mit der Verantwortung? Darf man, wie etwa Tolstoi, ein Heiligenideal leben wollen und darüber seine familiären, seine gesellschaftlichen Verpflichtungen vernachlässigen?
Wieweit darf also der Wunsch nach Selbstfindung und Selbstverwirklichung gehen? – Was ist in alldem das rechte Maß?
Dies, meine Brüder, sind die Gedanken, die mich bei bei der Lektüre Hesses in der Vorbereitung dieser Zeichnung und am Ende meiner „offiziellen“ Lehrlingszeit bewegt haben und bewegen.
Eine mögliche Antwort auf das Problem kann ich nur andeuten: Für uns Freimaurer kann es die Loge sein, die uns die Suche erleichtert. Dies vor allem in der Chance eines lauten Denkens, das ein „sich Öffnen“ der eigenen Person ermöglicht. Besteht diese Chance, kann die Gemeinschaft der Brüder als ein Regulativ dienen, das helfen kann, rechtes Maß und rechten Pfad zu finden. Dies setzt jedoch ein großes Vertrauen voraus. Nicht zuletzt heißt es daher zu Recht: „Auf Schweigen und Vertrauen ist der Tempel aufgebaut“.
Wichtig für den Inhalt dieser Zeichnung ist nun, daß auch bei Hesse – analog zur Freimaurerei – der Weg der Selbsterkenntnis und eigenen Bestimmung nicht ausschließlich durch isolierte Selbstreflektion erkannt werden kann, sondern nur über „menschliche Spiegel“ oder Gegenpole. Im Siddhartha wird der Spiegel der Gedanken im Fährmann Vasudeva verkörpert. In Narziß und Goldmund helfen sich an den entscheidenden Wendepunkten ihres Lebens der Abt Narziß, der die Ratio repräsentiert, und der Bildschnitzer Goldmund, Repräsentant der Natur. Das dualistische Motiv kehrt auch im Steppenwolf wieder, wo die Unterschiede im Ich jedoch auf komplexe Art in zwei Personen – Harry Haller und Hermine – angelegt sind (Anmerkung 3).
Die sich darin spiegelnde Einheit im Gegensätzlichen ist der zweite Aspekt, den ich im Vergleich Hesse / Freimaurerei ansprechen möchte.
- In der Freimaurerei symbolisiert das Musivische Pflaster, wie uns die Ritualkunde lehrt, die Einheit in der Gegensätzlichkeit. Seine wechselnden weißen und schwarzen Felder weisen auf den Ständigen Wechsel von Licht und Schatten, Freude und Schmerz, Kommen und Vergehen hin. Die Regelmäßigkeit der Anordnung zeigt indessen an, daß dieser Wechsel nicht ein Spiel des blindwaltenden Zufalls, sondern die Wirkung ewiger Gesetze ist.Bei Hesse findet sich dieses Motiv nicht nur in der menschlichen Seele sondern auch in der Natur. So steht etwa im Siddhartha der Fluß symbolisch für die Einheit von Sein und Zeit, für das „All-Eine“. Das Geheimnis des Flusses besteht darin, daß zwar das Wasser ständig wechselt, das jedoch der Fluß unverändert bleibt. Es gibt keine Zeit und alles Seiende bildet eine Einheit (Anmerkung 4). Siddhartha wird, nach zahlreichen Irrfahrten und nach Irrglauben, nachdem er diese Weisheit erkannt hat, zum Hüter des Flusses – eine Aufgabe die er vom Fährmann Vasudeva übernimmt. Er hat damit nicht nur seinen persönlichen Weg vollendet, sondern er stellt dadurch zugleich einen harmonischen Ausgleich von Mensch und Natur, von Geist und Materie her.Der Weg Siddharthas ist, wie Hesse verdeutlicht, jedoch nicht der einzige Weg. Andere Wege sind möglich. Es gibt kein Dogma.
- Im Siddhartha ist daher zugleich auch ein dritter Aspekt angelegt, den ich anfangs angesprochen hatte, den der Universalität und Toleranz. Im Roman, dem ein intensives Studium östlicher Weisheitslehre und ein Indienaufenthalt vorausging, gibt Hesse eine ganz andere Sicht des Ostens, als es die Sicht seiner Eltern war. Diese waren nach Osten gegangen, um das westlich-christliche Gedankengut als Missionare zu verbreiten.Hesses Intention war eine gänzlich andere, wie aus einem Schreiben im Jahr 1958, vier Jahre vor seinem Tod, an einen persischen Leser des Siddhartha hervorgeht. Es suchte, so Hesse,
„das zu ergründen, was allen Konfessionen und allen menschlichen Formen der Frömmigkeit gemeinsam ist, was über allen nationalen Verschiedenheiten steht, was von jeder Rasse und von jedem einzelnen geglaubt und verehrt werden kann.“
Grundsätze einer universal-religiösen Ethik hat Hesse auch im Geleitwort zur 16bändigen japanischen Ausgabe seiner gesammelten Werke (1955) formuliert:
Es geht heute nicht mehr darum, Japaner zum Christentum, Europäer zum Buddhismus oder Taoismus zu bekehren. Wir sollen und wollen nicht bekehren und bekehrt werden, sondern uns öffnen und weiten, wir erkennen östliche und westliche Weisheit nicht mehr als feindlich sich bekämpfende Mächte, sondern als Pole, zwischen denen fruchtbares Leben schwingt.
Warum hat der suchende Humanist Herrmann Hesse nicht seinen Weg in die Freimaurerei gefunden?
Ich kann diese Frage nicht vollständig beantworten. Meines Erachtens bieten sich zwei Gründe an, die allein, oder wechselseitig hierzu geführt haben.
- Einen Grund sehe ich in einem krankheitsbedingten überhöhten Isolationsbedürfnis;
- ein anderer Grund liegt m.E. in dem grundsätzlichen Misstrauen Hesses gegen jede Form kollektiven Zusammenschlusses.
Vielleicht lag es aber einfach auch daran, daß es keinen Bruder gab, der Hesse an die Freimaurerei herangeführt hat. Ich kann die Frage nicht abschließend beantworten, da ich keine direkte Aussage Hesses zur Freimaurerei gefunden habe.
Ungeachtet dessen findet im Glasperlenspiel, also im Alterswerk, eine weitere Kumulation zwischen freimaurerischen und Hessischem Gedankengut stattfindet.
Ursprünglich auf Basis von Mathematik und Musik entwickelt sich das Glasperlenspiel zu einem Spiel einer humanistischen Gesellschaft. Hesse formuliert es so:
Es (also das Glasperlenspiel) bedeutete eine erlesene, symbolhafte Form des Suchens nach dem Vollkommenen, eine sublime Alchimie, ein Sichannähern an den über allen Bildern und Vielheiten sich einigen Geist, also an Gott. So wie die frommen Denker früherer Zeiten etwa das kreatürliche Leben darstellten als zu Gott hin unterwegs und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt in der göttlichen Einheit erst vollendet und zu Ende gedacht sahen, so ähnlich bauten, musizierten und philosophierten die Figuren und Formeln des Glasperlenspieles in einer Weltsprache, die aus allen Wissenschaften und Künsten gespeist war, sich spielend und strebend dem Vollkommenen entgegen, dem reinen Sein, der voll erfüllten Wirklichkeit.
Wie der Tempel eine idealisierte Welt darstellt, deren Dauer eine imaginäre Zeit umfasst, so ist auch die Gesellschaft der Glasperlenspieler in einer imaginären Zeit angesiedelt, weil sie, wie jede große Idee keine Zeit hat.
Ihre Gründung ist, wie wir erfahren, jedoch eine Antwort auf die Krise eines sogenannten „feuilletonistischen Zeitalters“, welches durch eine „Sintflut von vereinzelten, ihres Sinnes beraubten Bildungswerten und Wissensbruchstücken“ und eine „grauenhaften Entwertung des Wortes“ gekennzeichnet ist.
Zu den Förderern der geistigen Entwicklung, die aus diesem Zeitalter hinausführt, zählt Hesse namentlich auch die Logen:
Das Glasperlenspiel, einst die Spezialunterhaltung bald der Mathematiker, bald der Philologen oder Musiker, zog nun mehr und mehr alle wahrhaft Geistigen in seinen Bann. Manche alte Akademie, manche Loge und besonders der uralte Bund der Morgenlandfahrer wendeten sich ihm zu.
Diesem Bund der Morgenlandfahrer ist der Roman auch gewidmet. Hierunter fallen bei Hesse alle Künstler, Wissenschaftler und alle Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die untereinander darin verwandt sind, daß sie unabhängig von den Parolen und Ansprüchen der Majoritäten ihre eigene Veranlagung … konsequent verwirklichen und damit zu einer interdisziplinären Objektivierung des Geistes, der Wissenschaften und der Künste beitragen, die über allen Beschränkungen der Nationen, Rassen, Konfessionen und Ideologien steht“ (Suhrkamp).
Der Roman Das Glasperlenspiel selbst handelt vor diesem grob skizzierten Hintergrund wesentlich von der dreistufigen Entwicklung des Magisters Knecht vom (1) Schüler über (2) den Magister Ludi, der höchsten Position im Orden, bis hin (3) zu der Selbstrücknahme in die Aufgabe eines einfachen Erziehers. Für alle drei Entwicklungsstufen steht jeweils ein Lehrer: der Musikmeister, der Ältere Bruder, der Pater Jakobus.
Auch bei den Glasperlenspielern ist allerdings ein Konflikt angelegt. Nämlich der zwischen der geistig-ideellen Gelehrtenrepublik mit dem Problem isolierter (und damit auch unfruchtbarer) intellektuell-ästhetischer Vergeistigung auf der einen Seite und der Realität und den Anforderungen des Tages (vor allem die der Tagespolitik) auf der anderen Seite (Anmerkung 5).
Dieser Konflikt wird nun im Magister Knecht ausgetragen.
Ein Wegweiser zur Konfliktlösung und zum Verständnis des Werkes liegt im faktischen, aber zugleich auch symbolischen Tod des Magisters und in der damit verbundenen Transzendenz. Der Magister weist im Tode über sich hinaus. Sein geistiges Erbe wird auf den von ihm selbst erzogenen Schüler übertragen, der, wie der Magister ahnt und erkennt, in sich die Anlagen zur Überwindung der Spannungen zwischen geistiger und weltlicher Welt, zwischen Glasperlenspiel und Außenwelt, trägt.
Auch in diesem Roman steht also wie im Siddhartha die symbolische innere Selbstüberwindung und Vervollkommnung am Ende eines langen geistigen Entwicklungspfades. Im Glasperlenspiel nimmt es jedoch in Gestalt eines (symbolhaften) Opfers die höchste Form der Selbstlosigkeit ein, was die Schwere des Weges der Vervollkommnung noch einmal eindrucksvoll verdeutlicht (Anmerkung 6).
Zusammenfassend kann meines Erachtens gesagt werden, daß Herrmann Hesse nicht nur im schriftstellerischen Werk dem freimaurerischen Geiste verbunden ist, sondern daß er auch in seiner Lebenspraxis Ideale der Freimaurerei vertreten hat. Von humanem Einsatz zeugt etwa sein aktives Wirken für die Deutsche Kriegsgefangenenfürsorge in Bern von 1915-1919.
Ich halte es daher für gerechtfertigt, Hermann Hesse als „Maurer ohne Schurz“ zu bezeichnen – eine These, liebe Brüder, die demnächst am Reißbrett natürlich zu verteidigen sein wird.
Folgen wir an dieser Stelle einmal diesem reizvollen Gedanken und unterstellen eine Sympathie Hesses für die Grundsätze der Freimaurerei, so ist es meines Erachtens erlaubt, Hesses Gedicht über das Glasperlenspiel auch als Gedicht über die rechte Art freimaurerischer Tempelarbeit zu interpretieren, wie wir sie bei der Aufnahme eines neuen Bruders erleben:
Musik des Weltalls und Musik der Meister
Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören,
Zu reiner Feier die verehrten Geister
Begnadeter Zeiten zu beschwören.Wir lassen vom Geheimnis uns erheben
Der magischen Formelschrift, in deren Bann
Das Uferlose, Stürmende, das Leben,
Zu klaren Gleichnissen gerann.Sternbildern gleich ertönen sie kristallen,
In ihrem Dienst ward unserm Leben Sinn,
Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen,
Als nach der heiligen Mitte hin.
* * *
Anhang
Ergänzender Hinweis:
Die Zeichnung erhebt nicht den Anspruch einer wissenschaftliche Abhandlung. Die Zitation entspricht daher nicht notwendigerweise wissenschaftlichen Standards.
Anmerkungen
- Deutlich wird hier ein ambivalente Verhältnis Hesses zur Natur, die sowohl „unschuldig“ (wie z. B. der Fluß im Siddhartha; siehe hierzu die Passagen in dieser Zeichnung) als auch schuldig (unzivilisiert, barbarisch) sein kann.
- Für den im Bürgerlichen verbleibenden Steppenwolf bleibt nur noch der Humor. Was Hesse hierunter versteht wird m. E. an anderer Stelle, im Glasperlenspiel, deutlich: „Die Gebärde der klassischen Musik bedeutet: Wissen um die Tragik des Menschentums, Bejahen des Menschengeschicks, Tapferkeit, Heiterkeit! Ob das nun die Grazie eines Menuetts von Händel oder von Couperin ist, oder die zu zärtlicher Gebärde sublimierte Sinnlichkeit wie bei vielen Italienern oder bei Mozart, oder die stille, gefaßte Sterbensbereitschaft wie bei Bach, es ist immer ein Trotzdem, ein Todesmut, ein Rittertum, und ein Klang von übermenschlichem Lachen darin, von unsterblicher Heiterkeit.“
- Einige Interpreten sehen sogar sämtliche zentralen Akteuere im Steppenwolf als Repräsentanten von Teilbereichen der Psyche Harry Hallers.
- Die Symbolik ist im Siddhartha stark ausgeprägt. Interessant: Eine der Hauptfiguren heißt Govinda. Hierbei handelt es sich um Siddharthas alter ego und Freund. Der Name bedeutet eigentlich Kuhhirt und, da das Tier in Indien heilig ist, zugleich Lichtbringer.
- Die Entwicklung des Glasperlenspiels kann für uns Freimaurer insofern auch als eine Mahnung verstanden werden, die darin besteht, den Kontakt zur Welt draußen, zur profanen Welt, nicht zu verlieren.
- Wichtig scheint mir der Gedanke einer Art „Freiheit zur Pflicht“. Die Selbstfindung endet keineswegs in selbstbezogener, egozentrischer Unverantwortlichkeit. Siddhartha bejaht die Pflichtübernahme des Amtes „Hüter des Flusses“. Es besteht demzufolge die prinzipielle Konzeption: Flucht vor der oder Negation der Verantwortung, Irrfahrt und Suche, Erkenntnis, Übernahme der durch Erkenntnis bejahten Verantwortung (Per aspera ad astra).
Verwandte Literatur:
- Reclam (Hrsg.), 1994: Hermann Hesse: Romane. Interpretationen. Reclam.
- Freedman, R., 1999: Herrmann Hesse. Biographie. Suhrkamp.
- Hesse, H., 1998: Die Romane und die großen Erzählungen. Jubiläumsausgabe zum hundersten Geburtstag von Herrmann Hesse. Suhrkamp.