Bis zum Mittelalter wurden die Grammatik, die Dialektik, die Rhetorik, die Arithmetik, Geometrie, Musik und die Astronomie als die sieben freien Künste, artes liberales, als das Nonplusultra in der Kunst angesehen.
Heute, ausgehend von der Renaissance Italiens im 14. Jahrhundert, zählen zur Kunst einmal die bildenden Künste, wie Malerei, Plastik, Graphik und als Anhängsel auch die Architektur – die Baukunst -, und zum anderen die musischen Künste, wie die Dichtkunst, der Tanz und die Musik. Die schier unübersehbare Zahl von Kunstwerken, die uns überliefert sind, gelten als Spiegelbilder oder Repräsentanten ihrer Zeit und geben uns die Gelegenheit, menschlichen Geist zu erforschen, um eigenes Denken, Tun und Handeln danach auszurichten. Wie sagt Goethe? „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“
Diese Werke menschlicher Tätigkeit fordern uns heraus, Werturteile zu prägen, sie miteinander zu vergleichen, Künstler und ihre Werke zu beschreiben, passende Stilepochen zu finden und alles zu ordnen. Das ist die Aufgabe der Kunst- und Kulturgeschichte. Die Zahl ihrer Autoren ist genauso groß, wie es die Verschiedenheit ihrer Ansichten ist. Nur wenige davon besitzen einen anerkannten Ruf, sei es als Wissenschaftler, Historiker, Schriftsteller oder Sachverständiger, über die Aussage dem Kern der Dinge nahe oder näher gekommen zu sein.
Und viele von uns stehen als Laien, als Interessierte zwar, häufig und vielerorts ratlos, wißbegierig und trotzdem nicht verstehend, z. B. in der geführten Menge während eines Klosterbesuches vor dem schon farblich verblassenden Konterfei eines feisten, doch seligen Abtes, mit den Gedanken näher der kommenden Tafelrunde als dem sogenannten Kunstwerk. Oder man durchwandert eine Galerie, geöffnet zu Ehren oder Nutzen eines lebenden Künstlers, und während man dabei ein Kolossalgemälde erblickent, fragt man sich bei dessen Betrachtung, hängt das denn auch richtig herum? Oder man bemerkt in einem leeren Raum auf dem Fußboden ein zusammengeknittertes Papiertaschentuch, welches entweder von einem Besucher stammen aber auch eine Allegorie des Künstlers darstellen kann, weil es, zufällig oder nicht, im hellen Kreis eines Deckenstrahlers liegt. Was werden wohl nach 3000 Jahren Archäologen und Kunsthistoriker sagen, sollten sie bei Ausgrabungen den langen, tief in die Erde getriebenen Metallstab in Kassel finden? So wird heute aber auch alles unter dem Glorienschein der Kunst vermarktet, denn wer weiß schon, was wirkliche, schöne und – wahre – Kunst ist. Der Kunstbanause lebt besser denn je. Dazu tun Schlagworte oder Aphorismen ein übriges und ersetzen bei vielen unserer Mitmenschen Bildung und Wissen.
Da ich mich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auf diesem Gebiet ebenfalls unsicher fühle, will ich anschließend versuchen, der Sache, dem Begriff „Kunst“, sollte es ihn geben, auf die Spur zu kommen. Dabei bin ich, weil die meisten Literaten Kunsthistoriker sind, welche sich in der Beschreibung und Beurteilung des Kunstgeschehens der Werke und deren Künstler erschöpfen, auf Immanuel Kant zurückgekommen. Für diejenigen, die sich erinnern wollen: Kant, geb. 1724, gest. 1804, war Ostpreuße und Zeitgenosse von Friedrich dem Großen, von Lessing und Voltair. Allesamt sind Vertreter der Aufklärung, einer Wurzel unseres freimaurerischen Bundes; damit habe ich gleichzeitig die direkte Verbindung zu uns hergestellt und komme zum Thema. Daß ich hauptsächlich Kant zitiere, liegt auf der Hand. Auch daß ich, um beim Verständnis seiner Schriften bzw. deren Inhalts keine Verwirrung zu stiften, seine Worte im Ausdruck beibehalte, ist unumgänglich.
Als Fortsetzung der „Kritik der praktischen Vernunft“ kommt Kant zur „Kritik der Urteilskraft“. Dabei geht es ihm um die Beurteilung des Gegebenen nach seiner Zweckmäßigkeit einmal für uns, der subjektiven Zweckmäßigkeit, und zum anderen nach seiner Zweckmäßigkeit an sich, der objektiven Zweckmäßigkeit. Diese besondere Stellungnahme zum Gegebenen nennt Kant die Urteilskraft. „Kunst“ wird der Kritik der reflektierenden Vernunft, ihrem ersten Teil, genannt die „ästhetische Urteilskraft“, zugeordnet, ausgehend von einer Analyse des fühlenden Bewußtseins. Ihr Resultat ist ein Schema der reinen Geschmacksbeurteilung, einer Stellungnahme zur Form. Und das reine Geschmacksurteil ist ein reflektierendes Urteil, welches lediglich die Zweckmäßigkeit der Form eines Gegebenen zum Bestimmungsgrund hat.
Also, nicht der Gegenstand ist schön, sondern die Gemütsstimmung, welche die reine Wahrnehmung auslöst.
Kant sagt: Um mittels Vernunft und Interesse etwas gut zu finden, muß ich jederzeit den Begriff den Gegenstandes kennen. Um aber Schönheit woran zu finden, habe ich das nicht nötig. Blumen, freie Zeichnungen, ohne Absicht ineinander geschlungene Züge, unter den Namen des Laubwerks, bedeuten nichts, hängen von keinem bestimmten Begriff ab und gefallen doch. Es erweckt das Wohlgefallen am Schönen und ein Gefühl der Lust, die subjektive Empfindung, macht es angenehm.
Verläuft der Prozeß jetzt umgekehrt, stehen Interesse, Lust oder Wohlgefallen sich zu verschaffen als Zweck im Vordergrund, ist es unmöglich, ein reines Geschmacksurteil abzugeben. Infolgedessen und nur deshalb ist die wahre Schönheit ohne Interesse.
Das Schöne gefällt für sich selbst genauso wie das Erhabene. Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes innerhalb ihrer Begrenzung. Der erhaben zu nennende Gegenstand aber ist auch formlos, ist unbegrenzt. Doch vergessen wir nicht, nicht der Gegenstand ist schön oder erhaben, sondern die Gemütsstimmung, die seine Wahrnehmung erkennen läßt. Und erhaben ist das, was im Vergleich zu allem anderen klein ist. Es betrifft nur Ideen der Vernunft, weil es in keiner sinnlichen Form enthalten sein kann, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.
Nun, das Objekt gefällt in seiner Form, und auf Grund dieser geschmacklichen Beurteilung der subjektiven Zweckmäßigkeit herrscht unter uns eine gewisse Übereinstimmung kraft eines tief verborgenen, gemeinsamen Grundes der Einhelligkeit in der Beurteilung.
Kant sagt dazu: Ein Prinzip des Geschmacks, welchen das allgemeine Kriterium des Schönen durch bestimmte Begriffe angäbe, zu suchen, ist eine fruchtlose Bemühung, weil, was gesucht wird, unmöglich und an sich selbst widersprechend ist. Die allgemeine Mitteilbarkeit der Empfindung (des Wohlgefallens oder Mißfallens), und zwar eine solche, die ohne Begriff stattfindet, die Einhelligkeit, soweit eine solche möglich ist, aller Zeiten und Völker in Ansehung dieses Gefühls in der Vorstellung gewisser Gegenstände, ist das empirische, wiewohl schwache und kaum zur Vermutung zureichende Kriterium der Abstammung eines so durch Beispiele bewährten Geschmacks von dem tief verborgenen, allen Menschen gemeinschaftlichen Grunde der Einhelligkeit in Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden.
Daraus leitet Kant ab, daß das Urbild des Geschmacks eine bloße Idee sei. Idee bedeutet einen Vernunftsbegriff und das Ideal die Vorstellung des einzelnen als einer Idee angepaßten Wesens. D. h.: Das ideelle Maximum einer Formvollendung ist gleichzeitig das Ideal der Schönheit. Ihm ist weder Raum noch Zeit gegeben, nicht auf Begriffen beruhend, sondern auf der Darstellung. Das Vermögen der Darstellung aber ist die Einbildungskraft, und das Ideal zu verwirklichen ist Aufgabe der Kunst.
„Kunst wird von der Natur, wie Tun vom Handeln oder Wirken überhaupt und das Produkt oder die Folge der ersteren, als Werk von der letzteren als Wirkung unterschieden.“ Nur das Entstehenlassen durch Willkür unter Zugrundelegung einer vernunftsmäßigen Handlung sollte man Kunst nennen. Dabei bleibt es einzig und allein dem Menschen vorbehalten, sich vor dem Entstehen seines Werkes dessen zweckbestimmende Form vorzustellen, als Kunstwerk schlechthin, als künstliches Werk.
Dazu führt Kant als Kunst die Geschicklichkeit des Menschen an, die auch von der Wissenschaft unterschieden wird, als praktisches vom theoretischen Vermögen, als Technik von der Theorie: das Können vom Wissen. Jedoch man weiß, Können allein, zwar auf die Wirkung bedacht, macht noch lange keine Kunst. Zur Kunst gehört die Schönheit, das Schöne. Daran übt sich die Kritik. Ob etwas schön ist oder nicht, bleibt allerdings ein Urteil des Geschmacks. Die Wissenschaft kann es weder ergründen noch beweisen. Spricht man aber von den schönen Wissenschaften, meint man die Attribute der schönen Kunst, zu denen, wie Kant sagt, in ihrer ganzen Vollkommenheit die Kenntnis der antiken Welt einschließlich ihrer Wissenschaften gehören, wie Kenntnis der alten Sprachen, Belesenheit der Autoren, Kenntnis der Altertümer usw. Ja, das Wissen und Verstehen der Antike gehören zur schönen Kunst, weil sie deren notwendige Vorbereitung und Grundlage ausmachen. Zum Vergleich im Hinblick auf die Entwicklung und Schöpfung der alten Griechen zu den sie umgebenden Einflüssen sagt Goethe: „Diese Nation hat verstanden, aus tausend Rosen ein Fläschchen Rosenöl auszuziehen.“
Kunst nun, bei der das rein Handwerkliche, das Können, im Vordergrund steht, heißt mechanische Kunst. Hat sie aber das Gefühl der Lust zur unmittelbaren Absicht, so heißt sie „ästhetische Kunst“. Diese wiederum ist entweder angenehme oder schöne Kunst. Angenehme Kunst ist, wenn ihr Zweck die Emfindung anspricht, – auf sie ausgerichtet ist -, während schöne Kunst die Empfindung für sich allein wirken läßt; sie gefällt für sich selbst.
Als Beispiele der angenehmen Kunst führt Kant folgende an: Eine Gesellschaft in freimütige und lebhafte Gespräche zu versetzen, sie durch Scherz und Lachen lustig zu stimmen, auch die Kunst, Witze zu erzählen gehört hierher; selbst die sog. Tafelmusik, welche als angenehmes Geräusch die Stimmung der Gemüter zur Fröhlichkeit unterhalten soll; kurzum es sind die Dinge, die ohne tiefen Inhalt kein weiteres Interesse bei sich führen, als die Zeit unbermerkt verlaufen zu machen.
Ästhetische Kunst als schöne Kunst hingegen ist die, welche die reflektierende Urteilskraft und nicht die Sinnenempfindung zum Richtmaß hat. Sie erfüllt gleichfalls die Tatsache, auch fremde Gemüter in ihren Bann zu ziehen, sie ist weltweit.
Nun leitet Kant über zu dem Vergleich Kunst und Natur. In der darstellenden Kunst verstehen wir heute den Naturalismus darunter.
„Kunst kann schön genannt worden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, dennoch sie wie Natur aussieht. Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkt der schönen Kunst zwar absichtlich sein, doch nicht absichtlich scheinen. D. h. schöne Kunst muß wie Natur aussehen, obwohl man sich ihrer als Kunst bewußt ist.“
Natürlich erscheint ein Kunstwerk, welches nach allen Regeln geschaffen wurde, jedoch ohne eine Spur davon zu zeigen, daß sie dem Künstler vorgeschwebt und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt haben. Aber wer kann das? Bei Kant ist es das Genie. Und ein Genie ist das Talent, welches der Kunst die Regeln gibt. Talent wiederum ist eine Naturgabe, und somit schließt sich dieser Kreis. Denn wenn das Talent die Regeln setzt, und jede Kunst setzt ja Regeln voraus, muß die Natur im Subjekte, im Künstler nämlich, der Kunst die Regel geben. D. h.: Die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.
(Raymund Schmidt meint:) Die Kunst stellt das Ideal, also formvollendete Gegenstände, gleich als ob es Naturprodukte wären, aus denen höchste Vernunftsideen sprechen, Kunstwerke schlechthin, her. Dieses ist ein Produkt des Genies. Genie ist die Macht, der Kunst die Regeln vorzuschreiben. Damit schafft die Einbildungskraft des genialen Künstlers gleichsam eine andere Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche Natur gibt; aber es ist nicht Chaos, was die Einbildungskraft willkürlich fabulierend erzeugt, sondern ein verstandesgemäß gegliederter Kosmos, ein vernunftgemäßes Reich der Schönheit. Deshalb sind Einbildungskraft und Verstand des Genies wichtigste Vermögen.
Bin ich nun dem Ziele näher gekommen? Ich meine ja. Schon zunächst einmal dadurch, daß ich versucht habe, Kant bewußt zu lesen. Somit kann ich sagen: Die Grundlage all dessen, was mit Kunst zusammenhängt, ist Wissen und Können im akademischen Sinne, gepaart mit der Fertigkeit handwerklichen Vermögens. Das ist Grundbedingung zur Herstellung eines Werkes und zu dessen Beurteilung, sonst bin ich einerseits ein Stümper und andererseits ein armer Wicht, ein bloßer Genießer ohne Verstand.
Dabei benötigt alle Kunst eine sogenannte heile Welt zur Entfaltung, denn in Kriegs-, Hunger- oder sonstigen Katastrophen- und Notzeiten wird keine Kunst geboren, und wir sind zu deren Erlebnis auch nicht fähig; es sei denn, durch die spätere Aufarbeitung des Erlebten. Somit meine ich, erzeugt Kunst in allen ihren Bereichen eine positive Ausstrahlung und steigert sich, um dem Ideal nahe zu kommen. Dabei ruft eine sinnes-gemäße Form das Gefühl des Angenehmen, eine verstandes-gemäße Form das Gefühl des Schönen und eine vernunfts-gemäße Form das Gefühl des Erhabenen hervor. Finde ich aber nichts Greifbares mehr vor den Augen oder im Sinn, was in mir diese drei Gefühls-Stellungnahmen auslöst, versinken die schönen Künste im Chaos. Schlecht ist es mit der Kunst bestellt, mehr ahnen als sehen zu können. So definiert Jean Clair, Pariser Kritiker und Museumsmann, heutige sog. Postmoderne: „Wir stehen nicht am Ende der modernen Kunst, sondern am Ende der Idee von der modernen Kunst“.
Ich schließe mit einigen Gedanken von Goethe:
Sollen und Wollen, aber nicht Können,
Sollen und Können, aber nicht Wollen,
Wollen und Können, aber nicht Sollen.Es will einer, was er soll, aber er kann es nicht machen,
Es kann einer, was er soll, aber er will“s nicht,
Es will und kann einer, aber weiß nicht, was er soll.Diese drei Dinge gehören in aller Kunst zusammen, damit
etwas gemacht werde.