Je mehr der Mensch für sich wirkt,
desto mehr bildet er sich für die Gemeinschaft.
Je größer die Gemeinschaft und der Zwang,
desto leichter wird er zum billigen Werkzeug.
– Wilhelm von Humboldt –
Was verändert die Welt und was den Menschen?
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir … Ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“ meint Kant im letzten Kapitel seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ und umreißt damit sein Weltbild.
Die Aufforderungen „Schau in dich, schau um dich und schau über dich“ geben dem Freimaurer Hilfestellung bei der Entwicklung seines Weltbildes. Freimaurerisch geometrisch dargestellt, ergibt sich so ein rechtwinkliges Dreieck, dessen Hypotenuse aus den Punkten „schau in dich“ und „schau über dich“ gebildet wird.
Die Welt wird verändert nach den Regeln der Physik. – Die Auswirkungen von Naturkatastrophen und selbst die häufig angesprochene Klimaveränderungen unterliegen diesen Regeln. Wenn etwas für uns unerklärliches passiert, dann kennen wir also lediglich die dahinter liegenden Regeln bzw. die Mechanismen nicht oder unterliegen in unserer Vorstellung den Begrenzungen unserer dreidimensionalen Erfahrungswelt, in der die Zeit nur ein störender Faktor ist. Aber: Nichts scheint uns Menschen unerträglicher als das Paradoxe oder nicht Erklärbare. (Durs Grünbein, Spiegel Special – Nr. 4 2003 Die Entschlüsselung des Gehirns – Vom Schauder des Schaffens – Seite 102)
Als Menschen verändern wir durch Anwendung physikalischer Regeln auch selbst im mehr oder weniger großen Rahmen unsere „Um“-Welt. Unser tägliches Leben hinterlässt Spuren auf dieser Erde. Besonders Kriege, kriegerische bzw. terroristische Handlungen wirken sich heute in kürzester Zeit im Leben eines jeden von uns verändernd aus. Als Beispiel sei der Anschlag auf die Twin-Towers am 11. September 2001 angeführt.
Allgemein übersehen wir in der Einschätzung der Ursachen häufig, daß Spannungsfelder sich aus einem wirtschaftlichen Gefälle ergeben. Das wirtschaftliche Nord-Südgefälle auf unserem Globus ist unübersehbar. Wie stark wirtschaftlicher Wohlstand verändernd wirkt, können wir bereits bei den alten Griechen ablesen, auf deren geistigen Schultern wir auch heute noch an vielen Stellen unseres Wissens stehen. Durch ihren wirtschaftlichen Wohlstand hatten sie Zeit und Muße, über die Zuordnungen des Lebens und der Welt nachzudenken.
Wie läßt sich diese Erkenntnis auf unsere heutige Zeit übertragen?
„Die wichtigste Triebfeder für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt sind Unternehmen. Sie schaffen und verteilen Wohlstand und erhöhen den Lebensstandard der Menschen. (…) Die Leitung eines Unternehmens ist eine Berufung und ein Beruf, dessen Grundauftrag darin besteht, Gutes für die Gesellschaft und für die Menschen zu schaffen.“ postuliert der in Kalkutta geborene Wirtschaftsdenker Sumantra Ghoshal (der sowohl am Massachusetts Institute of Technology (MIT) als auch an der Harvard University in den USA promoviert hat und Professor für Strategie und internationales Management an der London Business School und Dekan an der von ihm gegründeten Indian School of Business ist).
Seiner Ansicht nach wird der Beitrag, den große Unternehmen zu unserer Welt geleistet haben, oft unterschätzt. „Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Unternehmen immer die Triebfeder für Fortschritt waren“, meint er. „Ich genieße eine wesentlich höhere Lebensqualität und lebe in einer besseren Welt als mein Vater, gar nicht erst zu reden von meinem Großvater. Ich glaube, das können die meisten Menschen auf der Erde von sich behaupten.“
„Das haben wir den Unternehmen zu verdanken – Menschen mit Führungseigenschaften, Unternehmensgeist und Geschäftssinn“, sagt Ghoshal und stellt fest: „Sie schufen den Wohlstand, die Innovationen, die neuen Technologien, die neuen Produkte und die Produktivitätssteigerungen, die die Grundlage für allen Fortschritts bilden!“
„Unternehmensleiter sollten erkennen, dass allein das Betreiben eines Geschäfts mit allem, was dazu gehört – Ressourcen auf produktive Weise einsetzen, neue Produkte hervorbringen, neue Technologien und Ideen entwickeln – einen enorm wichtigen Beitrag zur Gesellschaft darstellt. Sie sollten stolz auf diesen Beitrag sein und ihre Geschäftstätigkeit auf die fundamentale Rolle ihres Unternehmens in der Gesellschaft fokussieren.“
Eine solche Auffassung von Unternehmen hat Konsequenzen, die weit über geschäftliche und wirtschaftliche Aspekte hinausreichen. „Ich glaube, es war weder Ideologie noch die Idee einer Marktwirtschaft, die dem Kalten Krieg ein Ende setzte, sondern die Qualität des im Westen praktizierten Managements“, fügt Ghoshal hinzu.
Wenn wirtschaftliche Aspekte helfen, Kriege mit zu entscheiden, wie mächtig müssen sie dann aber erst unser direktes Umfeld beeinflussen? Natürlich ist unser täglicher Lebensstandard und unser persönliches Umfeld stark abhängig von unseren individuellen Einkommensverhältnissen. Aber selbst die Gestaltung unserer nahen Lebensumgebung ist von wirtschaftlichen Einflüssen geprägt.
„Wem gehört die ’neue Stadt‘?“ lautete der Titel einer Sendung im Deutschlandfunk am 16.12. 2003. In der Programmzeitschrift „Hörzu“ (50/2003) fand ich dazu folgende Inhaltszusammenfassung:
„Angesichts der Finanzmisere der Kommunen wird die Stadtplanung nach neuen Kriterien ausgerichtet: „Moderne Kauf-Erlebnis-Situationen“ verspricht zum Beispiel die Kölner Stadtverwaltung dem Stadtteil Kalk und dem potenziellen Investor in Beate Hinrichs Feature „Wem gehört die Stadt?“ wird über den Verlust des öffentlichen Raumes“ nachgedacht. Denn zwischen sozialen Brennpunkten entstehen „Shopping-Center, wo nach Vorstellung der Planer krasse Nächte und fette Events hipp und trendy abgefeiert“ werden, während private Wachdienste die Armen und Obdachlosen aus der ,neuen Stadt‘ vertreiben und ausgrenzen. Stadtteilbibliotheken, Spielplätze, verbilligte Fahrkarten des öffentlichen Nahverkehrs aber fallen dem Rotstift zum Opfer. Die Kommune als kalter Unternehmer – so ist es heute vielerorts.“
Wirtschaftliche Verzerrungen treten uns an vielen Stellen des täglichen Lebens entgegen. Die Arbeitslosigkeit ist ein Hauptthema, das die Bürger unseres Landes bewegt. Zum Beispiel gibt es kaum noch deutsche Seeleute. Eine Meldung vom Freitag, dem 12.12.2003 im Hamburger Abendblatt stimmt aus dieser Sicht dann ein wenig nachdenklich:
„Reeder zuversichtlich“ –
Die deutschen Reeder, die mit 2370 Handelsschiffen die weltgrößte Flotte kontrollieren, blicken optimistisch in die Zukunft. Sie haben in diesem Jahr 246 Schiffsneubauten im Gesamtwert von mehr als 9,4 Milliarden Euro bestellt. Vor allem in der Containerschifffahrt werden hohe Wachstumsraten erwartet.
Neue Produkte entwickeln, Schiffe zu bauen etc., ist überwiegend die Aufgabe von Ingenieuren. Auch hier steht die Realität in krassem Gegensatz zur Notwendigkeit. In einem von der dpa übernommenen Beitrag berichtet das Hamburger Abendblatt vom 27. Dezember 2003:
„Deutschland hat zu wenig Studenten“
In Deutschland gibt es nach Ansicht des Elektronikkonzerns Philips zu wenig Studenten, die zudem die falschen Fächer studieren. „Nur 35 Prozent der Abiturienten entscheiden sich in Deutschland für ein Studium, während der Durchschnitt der OECD-Staaten bei 45 Prozent liegt“, sagte Walter Conrads, Sprecher der Philips-Geschäftsführung in Hamburg. „Das ist eine alarmierende Entwicklung.“ Darunter litten vor allem die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer. „Wir müssen junge Menschen wieder hierfür begeistern.“
Der Mangel an technisch ausgebildeten Uni-Absolventen bedrohe den Wohlstand der ganzen Gesellschaft. „Nur ein Land, das über eine ausreichende Anzahl exzellent ausgebildeter Akademiker verfügt, kann auf Dauer eine Spitzenstellung beim Wachstum erreichen und halten“, so der deutsche Philips-Chef. Deutschland könne schon heute seinen Bedarf an Ingenieuren und Naturwissenschaftlern in einigen Bereichen nicht mehr decken. „Wir zehren noch immer von den Innovationen vergangener Jahre.“ So stünden einem jährlichen Bedarf von 13 000 Ingenieuren in der Metall- und Elektroindustrie nur rund 7000 Absolventen gegenüber.
Aufgrund des hohen Technisierungsgrades unserer Produktionsstätten und Dienstleistungsunternehmen ist sehr leicht zu erkennen, daß wir eine strukturelle Arbeitslosigkeit haben, d. h. ähnlich wie bei den Auswirkungen der Erfindung des Webstuhles für die Weber benötigen wir neue Formen der Arbeit. Tatsächlich wird aber versucht, durch „Sozialabbau“ die Probleme in den Griff zu bekommen. In der Zeit der fallenden Zollschranken und der Globalisierung der Produktionsmittel läßt sich immer ein Land finden, in dem noch billiger produziert werden kann. Doch wenn zur Produktion kaum noch Menschen benötigt werden, tritt der Preis menschlicher Arbeitskraft in den Hintergrund. Andererseits werden immer zum Produkt „Verbraucher“ , d. h. Menschen benötigt, die die Ware letztendlich abnehmen und ihrer Endbestimmung zuführen. Was wollen Unternehmen mit preisgünstigen Produkten anfangen, für die es keinen Markt mehr gibt?
Ghoshal erkennt daher richtig, wenn er meint:
„Globalisierung setzt voraus, dass es Unterschiede zwischen den Ländern gibt, Unterschiede im Geschmack der Kunden, in der Kultur, im Klima, in den politischen und sozialen Überzeugungen und in der Auffassung von Unternehmen und Führungsstil. Aktuelle Fälle unterstützen die Vorstellung, Standardisierung und die Ausnutzung von Effizienzvorteilen seien die Voraussetzung für eine Globalisierung großer Unternehmen. Tatsache ist jedoch, dass sich erfolgreiche globale Unternehmen stets über die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und sonstigen Unterschiede in der Welt bewusst waren und diesen auf wirkungsvolle Weise begegnet sind.“
Wie würde sich die Welt, in der wir leben, verändern, wenn wir unsere Lebensspanne bei geistiger und körperlicher Jugend um Faktor 3 bis 4 verlängern könnten?
Eine solche utopische Welt beschreibt der Journalist James Hilton in seinem Roman „Lost Horizon“, der im Jahr 1933 veröffentlicht wurde. Er entwirft dabei das Idealbild einer menschlichen Gemeinschaft. Die Mönche im Lama-Kloster von Schangri-La, im „Tal aller heiligen Zeiten“, halten ihre Gemeinschaft für die letzte Oase, in der die geistigen Schätze der Menschheit aufbewahrt und lebendig erhalten werden, geschützt vor Kriegen und Katastrophen und vor der Hast und den Zwängen der technischen Welt. Durch eine List wollen sie ihr einsames Kloster im Himalaya vor dem Aussterben bewahren und entführen mit Hilfe eines Flugzeugs eine kleine Gruppe von Engländern und Amerikanern in diesen entlegenen Winkel Tibets. Die Entführten werden in ein Kloster aufgenommen, das die geistigen Schätze der Menschheit aufbewahrt und lebendig erhält. Die Abgeschiedenheit der klösterlichen Gemeinschaft zwingt die unfreiwilligen Gäste zu Selbsteinkehr und innerer Bewährung. Die Bezirke des tibetanischen Klosters stehen stellvertretend für das Reich der menschlichen Seele, das durch die technische Welt mit ihrer Hast, ihrer Äußerlichkeit und ihrem Zwang tödlich bedrängt wird.
Einführend erklärt der Mönch Tschang, „daß der Tempel seine eigenen Lamas habe, die unter der losen Oberaufsicht Schangri-Las standen, aber nicht demselben Orden angehörten. Es gab auch, wie er hinzufügte, einen taoistischen und einen konfuzianischen Tempel weiter unten im Tal. „Jedes Juwel hat Facetten“, sagte er, „und es ist möglich, daß viele Religionen die gemäßigte Wahrheit enthalten.“
Besonderheiten bzw. Vorzüge des Lebens in dieser kleinen abgeschiedenen Welt erläutert der Hohelama wie folgt:
„Wir sind keine Wundertäter, wir haben weder den Tod besiegt noch den Verfall. Alles, was wir manchmal getan haben und tun können, ist, den Ablauf dieses kurzen, ‚Leben‘ genannten Zwischenspiels zu verlangsamen. Wir bewirken dies durch Methoden, die hier so einfach wie anderswo unmöglich sind. Aber täuschen Sie sich nicht, das Ende erwartet uns alle.
Es ist jedoch eine Aussicht von bestechendem Zauber, die ich vor Ihnen entfalte, – lange, ruhevolle Zeiten, während welcher Sie einen Sonnenuntergang so betrachten werden, wie die Menschen in der Außenwelt eine Kirchturmuhr die Stunde schlagen hören, und mit viel weniger Bangen. Jahre werden kommen und schwinden, und Sie werden von fleischlichen Genüssen auf erhabenere, aber nicht weniger lustvolle Gebiete übergehen. Sie werden vielleicht die Spannkraft der Muskeln und die Schärfe des Appetits verlieren, aber dieser Verlust wird durch manchen Gewinn ausgeglichen werden. Sie werden Gemütsruhe erlangen und Tiefgründigkeit, Reife und Weisheit und zauberhafte Klarheit des Gedächtnisses. Und was das Kostbarste von allem ist, Sie werden Zeit haben – diese seltene und wunderschöne Gabe, die Ihre westlichen Länder desto unwiederbringlicher verloren, je mehr sie hinter ihr her waren. Bedenken Sie für einen Augenblick: Sie werden Zeit zum Lesen haben – nie wieder werden Sie Seiten überfliegen, um Minuten zu ersparen, oder ein Studium vermeiden, weil es Sie allzusehr beanspruchen könnte. Sie haben auch Vorliebe für Musik – hier finden Sie Noten und Instrumente, aber überdies ungestörte und ungemessene Zeit, ihnen den üppigsten Genuß abzugewinnen. Auch sind Sie, wollen wir sagen, ein Mann, der gute Kameradschaft liebt, – lockt es Sie nicht, an die weisen und heiteren Freundschaften zu denken, einen lange währenden, herzlichen Austausch geistiger Güter, von dem der Tod Sie nicht mit seiner gewohnten Eile hinwegrufen wird? Oder wenn Sie die Abgeschiedenheit vorziehen, könnten Sie nicht unsere Pavillons dazu nutzen, das edle Gut einsamer Gedanken zu bereichern?“
Die innere Handlungsfreiheit für diese kleine Gemeinschaft arbeitet der Hohelama an anderer Stelle heraus:
„(…) es ist unsre Tradition, daß wir (…) niemals Sklaven der Tradition sind. Wir haben keine starren Richtlinien, keine unerbittlichen Regeln. Wir handeln, wie wir es für notwendig halten, ein wenig durch das Beispiel der Vergangenheit geleitet, aber noch mehr durch unsere gegenwärtige Weisheit und durch unsern hellseherischen Blick in die Zukunft.“
Zurück in unsere reale Welt und zu unserer freimaurerischen Arbeit am rauen Stein: Würde sich eine solche Umgebung für unsere freimaurerische Arbeit eignen? Wie sieht es überhaupt mit unserer Freiheit zur Selbstvervollkommnung aus? Haben wir überhaupt die Freiheit, unsere Ecken und Kanten symbolisch mit dem Spitzhammer abzuschlagen? Sind wir vielleicht sogar Gefangene unserer selbst?
„Unser Wille kann nicht frei sein“ heißt ein Artikel im Spiegel Special – Nr. 4 – 2003 – „Die Entschlüsselung des Gehirns.“ Der Hirnforscher Wolf Singer äußert darin aufgrund seiner Messungen neue Ansichten über die Konstruktion von Wirklichkeit im Kopf, unseren Glauben, frei handeln zu können, und entwickelt eine Vision eines neuen, humaneren Menschenbildes. Aufgrund seiner Messergebnisse ergeben sich Zweifel am freien Willen des Menschen. Mit anderen Worten: Wir hätten keinen bewußten freien Willen, auch anders handeln zu können, als wir gehandelt haben. Unser Wollen werde uns erst bewußt, wenn im Gehirn die Entscheidung, was wir tun werden, schon gefallen ist. Dieses würde unser Menschenbild völlig verändern. Abnorme Hirnzustände erklärt Singer am Beispiel der Epilepsie, die „keine Besessenheit ist, sondern einfach eine Entgleisung von Hirnstoffwechselprozessen. Zu ähnlichen Schlüssen werden wir auch im Hinblick auf abnorme Verhaltensweisen kommen. Nämlich dass es Störungen im Gehirn geben kann, die Menschen zu unangepasstem Verhalten veranlassen.“
Aus der Nichtexistenz eines freien Willens folgen rechtliche Überlegungen, denn der Mensch wäre nicht mehr verantwortlich für sein Tun und auf das Prinzip von Schuld und Sühne könnte verzichtet werden. Die psychiatrische Feststellung von Schuldfähigkeit würde ad absurdum geführt, denn aus dieser Sichtweise würde niemand schuldfähig sein. Singer meint daher folgerichtig „Unsere Sichtweise gegenüber Übeltätern würde sich eben ändern müssen. Man würde sagen: „Dieser arme Mensch hat Pech gehabt. Er ist am Endpunkt der Normalverteilung angelangt. Ob nun aus genetischen Gründen oder aus Gründen der Erziehung, die gleich mächtig in die Programmierung von Hirnfunktionen eingehen, ist unerheblich.“
Auch Demokratie und Aufklärung würde dieser Ansatz in einem neuen Licht erscheinen lassen, denn sie basieren auf der Idee eines freien Menschen. Singer sieht hier aber kein Problem: „Dass wir uns Freiheit zugestehen, ist eine Realität. Sie ist zwar nur aus der eigenen subjektiven Perspektive heraus erfahrbar. Aber das hat sie mit anderen kulturellen Realitäten gemein. Mit Wertesystemen verhält es sich genauso. Wie real diese Konstrukte sind, lässt sich aus ihrer Wirksamkeit schließen, etwa bei der Französischen Revolution.“ Und er entwickelt dann zur Menschenwürde: „Vielleicht entsteht eine ganz andere Vorstellung von Würde. Wir kämen durch die Aufgabe dieses unverbrüchlichen, aber auch mit sehr viel Selbstbewusstsein und gelegentlich Arroganz behafteten Freiheitsbegriffs wohl zu einer demütigeren, toleranteren Haltung. Wir müssten uns als in die Welt geworfene Wesen betrachten, die wissen, dass sie ständig Illusionen erliegen und keine wirklich stimmigen Erklärungen über ihr Sein, ihre Herkunft und noch viel weniger über ihre Zukunft abgeben können.“
Resümierend fasst Singer zusammen: „Ich könnte mir vorstellen, dass dabei humanere Systeme entstehen, als wir sie jetzt haben. Auch würden all jene unglaubwürdig werden, die vorgeben, sie wüssten, wie das Heil zu finden ist. Den mächtigen Vereinfachern würde niemand folgen wollen. So könnte ein kritisches, aber gleichzeitig von Demut und Bescheidenheit geprägtes Lebensgefühl entstehen, das durchaus Grundlage einer sehr lebbaren Welt sein könnte.“
Wirkt sich dieser Ansatz der Unfreiheit des Willens verändernd auf die Bewertung unserer symbolischen Arbeit am rauen Stein aus? Ist der Spitzhammer nur noch dazu geeignet, in unserem „Ich“ neue „Gesteinsadern“ und damit unsere Vielfalt freizulegen bzw. herauszuarbeiten? Müssen wir vielleicht sogar den Kubus aus unserem Symbolschatz streichen, wenn es schon nicht gelingen kann, eine Fläche zu glätten?
Ein Bereich, indem wir über alle Generationen hinweg deutlich Unfreiheit verspüren, ist der Bereich der Transzendenz. Daher ist das älteste Wissen der Menschheit das Mysterienwissen. Das lateinische Wort Mysterium bedeutet Geheimnis. Beim Mysterienwissen handelt es sich um ein sogenanntes esoterisches Wissen (von griechisch esoterikos, nach innen gerichtet; für wenige bestimmt), das einem mehr oder weniger für die Allgemeinheit bestimmten exoterischen (nach außen gerichteten) Wissen gegenübersteht. Mysterienwissen wurde durch die Mysterien vermittelt, über die wir heute wenig Konkretes aussagen können, da sie der Geheimhaltung unterlagen. Allen Mysterienkulten gemeinsames Anliegen war, die Vermittlung der Erfahrung eines „schöpferischen Prinzips“ im Universum, also dessen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Auf den größten gemeinsamen Nenner gebracht läßt sich vielleicht zusammenfassend definieren, daß es sich bei den Mysterien um heilige Dramen handelte, die zu periodisch festgelegten Zeiten aufgeführt wurden und in deren Verlauf der Myste die sinnlichen Eindrücke empfing, die ihn zum Neophyten (der Neugepflanzte) machten. Der Name Neophyt soll zum Ausdruck bringen, daß von diesem Erlebnis an etwas durch und durch Neues beginnt. Es handelt sich also um ein Wissen, das weniger durch intellektuelle Anstrengung erworben als vielmehr durch Erlebnis und die damit verbundene Erfahrung vermittelt wird. Ferner ist es auch ein Wissen, das nicht jedermann zugänglich ist, sondern dessen Erwerb davon abhängt, ob derjenige, der es zu empfangen trachtet, geeignet und würdig dazu erscheint. Das zu beurteilen obliegt einem begrenzten Kreis derer, die dieses Mysterienwissen empfangen haben und nun als „Eingeweihte“ dieses Wissen verwalten und weitervermitteln.
Doch was ist, wenn die Initiation nicht gegriffen hat und dann „Nicht-Eingeweihte“ das Wissen weiterzugeben haben und entscheiden, ob ein Interessent in den Kreis der Mysten aufgenommen wird? Wie steht es um die Profanierung bzw. Veränderung eines solchen Bundes? Als Mitglieder eines der letzten Mysterienbünde sollten wir an dieser Stelle sorgfältig und demütig nach Antwort suchen!
Beliebt ist es, in diesem Zusammenhang die Brüderlichkeit ins Feld zu führen, wird doch unser Bund durch sie zusammengehalten. Aber die Brüderlichkeit ist keine Erfindung, auf die der Bund der Freimaurer Alleinanspruch hat.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.Dezember 2003 schreibt unter der Überschrift „Gemeinsinn, ein Evergreen – Soziale Wärme ist kein Zufall: Über die Bündnisse der Primaten“: „Wenn Biologen über so edelmütige Gesten wie Gemeinschaftsgeist, Brüderlichkeit oder Korpsgeist unter Tieren berichten, provozieren sie jenseits ihrer naturwissenschaftlichen Zirkel auch heute noch heftige Reaktionen. Hat uns nicht die Biologie und zumal die Soziobiologie gelehrt, daß der Mensch wie das Tier in seinem Verhalten vor allem von egoistischen Genen angetrieben und vom niederträchtigen Sozialdarwinismus beseelt sei? War es nicht hier, wo sie einmal mehr ihr häßliches Gesicht zeigte: Eigensinn als die biologische Wurzel – die Wurzel allen Übels gewissermaßen -, die letzen Endes nur durch das humanistische, gemeinschaftliche Streben der menschlichen Kultur besiegt werden kann? Soviel soziale Kälte im Tierreich wäre fürwahr auch dem größten Neodarwinisten ein Graus. Der Soziobiologe fragt deshalb gerne kaltschnäuzig zurück: Wo soll denn die soziale Wärme, die wir an so beseelten Festtagen wie diesen schätzen, anders herkommen als von unseren Vorfahren – den ältesten, also auch prähominiden Vorfahren? – Die moderne evolutionsorientierte Verhaltensforschung jedenfalls bäumt sich zusammen mit der Psychologie ersichtlich gegen ihre Kritiker auf. Mehr denn je sogar möchte man sagen, wenn man die Berichte und Diskussionen auf den diesjährigen Göttinger Freilandtagen des Deutschen Primatenzentrums auf einen Nenner bringen will. Dort haben sich passend zur besinnlichen Adventszeit Affenforscher und Anthropologen unlängst über ihre Beobachtungen von Kooperation bei Primaten und Menschen ausgetauscht. Ihr Fazit: Gemeinsinn ist ebenso wenig exklusiver Bestandteil menschlicher Moral wie biologischer Zufall. Wer, wie manche Kritiker, die animalischen Bündnisse als bloßes Nebenprodukt der sozialen Lebensweise – gewissermaßen aus dem zufälligen Nebeneinander der Individuen – zu verstehen versucht, scheitert an zahlreichen beeindruckenden Beispielen aus der Tierwelt.“
Zusammenfassend sei gesagt, dass unsere persönliche Welt ständigen Veränderungen ausgesetzt ist. Vieles, was wir als festgefügt empfinden, ist im stetigen Wandel. Selbst unsere An- und Einsichten müssen wir ständig ändern, um auf die Herausforderungen der Welt zu reagieren. Dieses ist aber unser Lebenselexier und vielleicht auch unsere tatsächliche Arbeit am rauen Stein.
Quellen:
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Spiegel Nr. 1 / 29.12.03, S. 116 – Das reine Gold des Denkens – Der Philosoph Immanuel Kant
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Zeitschrift evolution skf.com 3/03, Das Wirtschafts- und Technologiemagazin von SKF, Seiten 19 und 20 – Peter Wise: Der Unternehmenssammler Sumantra Ghoshal
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Hörzu Nr. 50/2003 Radioprogrammteil – „Wem gehört die ’neue Stadt‘?“ Rubrik Gesellschaft, Deutschlandfunk, Di 19.15 Uhr. 16.12.03
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Hamburger Abendblatt Freitag, 12.12.03 – Reeder zuversichtlich
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Hamburger Abendblatt, Seite 19, 27./28. Dezember 2003 – Wirtschaft – „Deutschland hat zu wenig Studenten“
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James Hilton, „Lost Horizon“, 1933, 1951 in der Fischer Bücherei unter dem Titel „Irgendwo in Tibet“ erschienen, Neuauflage unter dem Titel „Der verlorene Horizont“
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton 30.12.03 Nr. 302 Seite 33. Herbert Helmrich: Das verbiete ich mir – Im Hirn: Bereitsein ist noch kein Wollen.
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Briefe an den Herausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Seite 8, 29. Dezember 2003 Nr. 301. Hirne im Labor – Zu den Beiträgen zur Willensfreiheit (zuletzt FAZ Feuilleton, vom 1. Dezember): Professor Dr. Karl Eibl, Gröbenzell
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.Dezember 2003, Nr. 299, Seite N1 – Natur und Wissenschaft – Gemeinsinn, ein Evergreen – Soziale Wärme ist kein Zufall: Über die Bündnisse der Primaten
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Israel Regardie, Das magische System des Golden Dawn, Band 1 – Herausgeber der deutschen Ausgabe: Hans-Dieter Leuenberger, Verlag Herman Bauer Freiburg im Breisgau, 1987, Einführung von Hans-Dieter Leuenberger: „Mysterien und Orden“
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Spiegel Special – Nr. 4 2003 Die Entschlüsselung des Gehirns – Seite 20 „Unser Wille kann nicht frei sein“ – Der Hirnforscher Wolf Singer über die Konstruktion von Wirklichkeit im Kopf, unseren Glauben, frei handeln zu können, und seine Vision eines neuen, humaneren Menschenbildes
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Spiegel Special – Nr. 4 2003 Die Entschlüsselung des Gehirns, Seite 102 – Vom Schauder des Schaffens – Der Lyriker Durs Grünbein und der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel im Gespräch über die Kreativität des Dichters, den Geistesblitz des Wissenschaftlers und das Regime von sechs Milliarden Weltherrschern