Häufig hören wir, welche tatsächlichen Wirkungen die freimaurerischen Ideale Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit auf das politische und soziale Geschehen des 18. Jahrhunderts hatten. Ich habe deutliches Unbehagen bei dem Gedanken empfunden, daß wir zwar mit Stolz auf die Leistungen der Freimaurerei zurückblicken, anscheinend jedoch nichts Gleichwertiges zu leisten in der Lage sind.
- Ist es tatsächlich so, daß idealistische Vereinigungen ihre größte Wirksamkeit nur zur Zeit ihrer Gründung haben und nachher verflachen?
- Ist es nur lahme Entschuldigung, wenn wir argumentieren, die starke Einflußnahme der Freimaurerei ergab sich damals aus der historischen Notwendigkeit, ein Vakuum auszufüllen?
- Ist es Schwäche, wenn die Auffassung vertreten wird, auf eine umwälzende Wirkung der politischen und soziologischen Verhältnisse wird verzichtet, die Freimaurerei diene heute nur dazu, das Individuum zu veredeln?
Diese sich aufdrängenden Fragen haben mich verlaßt, Überlegungen anzustellen, worin der Wert der Freimaurerei heute für den einzelnen und die Allgemeinheit besteht.
Seit der Mensch stufenweise den Zustand des Vegetierens verlassen hat und zu einer seiner selbst bewußten, geistigen Haltung aufgestiegen ist, ist die Forderung an ihn gestellt, seine menschlichen Fähigkeiten zu kultivieren. Seit die Evolution nicht mehr die Arterhaltung und Entwicklung bestimmt, ist es der Geist, der diese Aufgabe erfüllen muß, wenn der Mensch nicht ins Vegetieren zurückfallen will. Der Mensch muß sich geistig mit der „Menschlichkeit“ auseinandersetzen. Bei dieser geistigen Auseinandersetzung wird er sich auch der Notwendigkeit der Pflege des Gewissens und der Seele bewußt. Durch den Vergleich seines eigenen Wollens, seines Handelns, seines Denkens mit dem anderen Menschen erkennt er Unterschiede und setzt Wertungen. Es beginnt die Selbsterkenntnis. Zugleich entsteht der Wunsch, seine geistigen und seelischen Fähigkeiten zu vervollkommen.
Allein kann der Mensch diesen Weg nicht gehen. Nur durch Austausch in der Gemeinschaft, durch Kontakt, durch seelische Begegnung mit dem anderen kann er seine Fähigkeiten voll entfalten. Aus dieser Notwendigkeit muß meines Erachtens auch die Freimaurerei entstanden sein.
Der Wert, den eine solche Vereinigung für den einzelnen haben muß, wird durch den Inhalt des zweiten Artikels der freimaurerischen Verfassung der Großloge AFuAm deutlich. Hierin heißt es:
In den Mitgliedslogen der Großloge arbeiten Freimaurer, die in bruderschaftlichen Formen und durch überkommene rituelle Handlungen menschliche Vervollkommnung erstreben. In Achtung vor der Würde jedes Menschen treten sie ein für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und für Brüderlichkeit, Toleranz und Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu.
Der Suchende findet hier nicht nur gleichstrebende Menschen, sondern auch die Voraussetzungen, die für die Entwicklung seiner eigenen Menschlichkeit erforderlich sind.
Die Ideale der Freimaurerei Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit geben dem einzelnen Gedankenfreiheit ohne die hemmende Fessel eines Dogmas. Die Ehrfucht vor dem Menschen hört nicht auf bei dem Andersgläubigen, politisch Andersdenkenden oder dem Menschen einer anderen Rasse oder Klasse. Die Freimaurerei lehrt, daß der Mensch nur nach seinem Gewissen zu urteilen, zu entscheiden und zu handeln hat.
Die Freimaurerei wirkt durch ihre Lehrart in der Form, daß sie in gemeinschaftlicher Arbeit die Erkenntnisfähigkeit des einzelnen erhöht. Durch ihr Ritual, ihre Arbeitsweise und durch das Erlebnis der Brüderlichkeit steigert sie die innere Erlebnisfähigkeit; d. h. die Freimaurerei hilft dem Suchenden das Menschliche, das was die Menschlichkeit ausmacht, in der Breite und der Tiefe in sich zum Bewußtsein zu erheben. Der Wert der Freimaurerei für den einzelnen liegt also darin, daß sie dem Menschen, dem die Forderung des Weltgeistes „Werde, was du bist“ Lebenssinn ist, weiterhilft. In diesem Sinne hat die Freimaurerei für die Allgemeinheit keinen Wert, da sie nicht die Masse ansprechen kann.
Oft wird deshalb gefragt: Ist die Freimaurerei egoistisch, weil sie nur für Freimaurer da ist? Diese Frage ist eindeutig zu bejahen, denn die Freimaurerei kann ja ihrem Wesen nach nur für Freimaurer da sein. Es ist aber der gesunde Egoismus, der der Erhaltung dient, wie ihn jeder Mensch haben muß, wenn er sich nicht selbst vernichten will. Oberflächlich gedacht würde man daraus schließen können, daß die Freimaurerei dann auch für die Allgemeinheit keinen Wert habe. Tatsächlich kann die Freimaurerei für diese auch nur indirekten Wert haben. Dieser Wert der Freimaurerei ist seit Beginn immer der gewesen, den wir Freimaurer selbst durch unser Verhalten zu unseren Mitmenschen und unserer Umwelt erwerben.
Wenn wir die Vorstellung haben, daß die Wirksamkeit der Ideale der Freimaurerei zur Zeit der Entstehung der ersten Logen für die Allgemeinheit größer war als heute, so kann es sein, daß nur gefühlsmäßig empfunden wird, und daß diese gefühlsmäßige Meinung näherer Betrachtung nicht standhält.
Wir wissen, daß Humanität, Brüderlichkeit und Toleranz die Ideale der Freimaurerei seit ihrer Entstehung sind. Wirksam geworden ist dieses Gedankengut jedoch auch im 18. Jahrhundert wohl nur im einzelnen. Um dieses Gedankengut in seiner eigentlichen Bedeutung in das Bewußtsein der Masse zu bringen und es da Wirklichkeit werden zu lassen, mußte und muß nach meiner Auffassung noch viel Zeit vergehen. Die Fortschritte und Erfindungen der Technik, wie Auto und Fernsehen, kann der Massenmensch sofort in Besitz nehmen. Für den praktischen Nutzen dieser Dinge bedarf es keiner ernsthaften individuellen Bemühung. Für den Erwerb von menschlichen Qualitäten ist aber die Arbeit an sich selbst notwendig, ehe sie wirksam werden können.
Zweifellos haben aber die einzelnen Freimaurer damals durch ihre Einflußnahme auf das politische Geschehen große Veränderungen bewirkt. Damit haben sie die Voraussetzungen geschaffen, daß jeder, der sich bemüht, den Weg zu einer besseren Menschlichkeit gehen kann. Diese Voraussetzungen haben sich bis heute jedoch nicht geändert. Wir haben dem Ideal der Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit nichts Besseres entgegenzusetzen. Wenn die Überlegung richtig ist, daß Humanität nicht durch Massensuggestion zu erreichen ist und die Ideale der Freimaurerei noch gleich gut sind, dann müssen wir folgern, daß weder die Wirksamkeit noch der Wert der Freimaurerei heute geringer ist.
Es gibt nach meiner Ansicht einige Argumente dafür, daß die Freimaurerei an Wert verlieren würde, wenn sie Quantitätsmaurerei betreiben würde. Am Beispiel der christlichen Religionsgemeinschaften sehen wir deutlich, wie sehr die Werte umgekehrt werden können, wenn die Masse den Sinn nicht begreift. Hexenverbrennungen, Inquisition und Kreuzzüge zeigen den Weg, wohin geschickte Demagogen im Namen von unverstandenen Idealen die Masse führen können.
Es kann nach meiner Ansicht auch nicht Ziel und Sinn der Freimaurerei sein, als Massenorganisation aufzutreten und etwa neue Regierungsformen herbeizuführen. Es scheint mir auch sehr zweifelhaft, ob durch bessere Regierungssysteme die Menschheit in ihrer Entwicklung weitergebracht würde. Die Meinung, daß z. B. die Erhöhung der Bedürfnisbefriedigung durch bessere Wirtschaftspolitik die Menschen menschlicher oder auch nur glücklicher machen kann, ist durch nichts zu beweisen. Der französische Sozialkritiker Saint-Simon hat einmal gesagt: „Ich habe jetzt verschiedene Regierungsformen erlebt, und ich habe nicht feststellen können, daß die Menschen in der einen glücklicher als in der anderen waren.“
Als die Ideale Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit neu waren, haben es einzelne Freimaurer durch ihr Handeln und ihren Einfluß dazu gebracht, sie zu verbreiten und damit ein tatsächlich vorhandenes Vakuum zu füllen. Man ist sehr geneigt, als Wertmaßstab für die Beurteilung der Freimaurerei dieser Zeit den großen Unterschied zwischen vorher und nachher anzusehen. Mir scheint aber, daß man auch hier den „Menschen als Maß aller Dinge“ gelten lassen soll.
Eine gültige Wertung für eine bestimmte Zeitepoche zu finden, scheint mir sehr schwierig. Der Wert der Freimaurerei für die Allgemeinheit ist nicht meßbar, denn sie hat den Wert, den wir ihr geben, und zwar durch anständiges Handeln allen Mitmenschen gegenüber.
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