Liebe Brüder,
„Was?“, werden sich jetzt vielleicht einige von euch fragen, „Was soll denn so ein Thema mit Freimaurerei zu tun haben? Hier geht es doch nicht um Konflikte, Auseinandersetzungen oder gar Krieg! Wir Freimaurer haben doch vielmehr die Toleranz, die Brüderlichkeit, die Harmonie in der Loge, ja die Liebe im Sinn! Was soll das denn?“.
Ihr habt natürlich recht. Neben der Arbeit am eigenen rauhen Stein sollte das Streben nach Erhaltung der Harmonie in der Loge mittels der Toleranz und des brüderlichen Umgangs im Vordergrund stehen. Doch daß wir dieses Ziel im Sinn haben und uns der angesprochenen Mittel bedienen, bedeutet nicht, daß wir dabei auch immer erfolgreich sind. Vielmehr sind leider auch Freimaurerlogen nicht immer Horte der Harmonie. Wie bei jedem sozialen Zusammenschluß kommt es auch bei uns hin und wieder zu Konflikten und Zänkereien.
Ihr könntet jetzt einwenden: „Ja, aber wenn dies nun schon einmal leider so ist, warum muß man auch noch ein Buch mit solch einem Thema lesen? Warum sollte man sich mit so etwas beschäftigen?“ Ich denke, daß wie auch immer geartete Konflikte ein – wohlgemerkt ein, wenn auch zentral wichtiges – konstituierendes Prinzip des Universums sind. Ein Blick in die Geschichtsbücher und Forschungsergebnisse der Anthropologen und Ethnologen belegen, daß Konflikte von Beginn an ein ständiger Begleiter der Menschheit waren. Ob es einem gefällt oder nicht: Konflikte gehören zu den fundamentalen Konstanten in unserem Leben. Es ist deswegen wichtig, ein tieferes Verständnis für die Natur von Konflikten zu haben, um angemessen auf diese reagieren und mit ihnen umgehen zu können. Dies sollte gerade für jene gelten, die Konflikte nicht lieben und deswegen ihr Vorkommen minimieren und ihre Heftigkeit einschränken wollen – ein Ziel, auf das gerade wir Freimaurer indirekt über die Ausbildung des Guten in uns selbst, also der Arbeit am rauhen Stein, hinarbeiten.
Eines der ältesten Bücher, das sich mit dem Problem der richtigen Konfliktstrategie beschäftigt, ist im antiken China während der Periode der „Streitenden Reiche“ (473 v.Chr. – 221 v.Chr.) entstanden. Nach dem Zusammenbruch der Chou-Dynastie, die eine feudalistische Herrschaftsordnung garantiert hatte, rangen auf dem Gebiet des heutigen ostsüdöstlichen Chinas verschiedene Fürstentümer um die Vorherrschaft. In einer Kette von ununterbrochenen Kriegen löste ein Feldzug den anderen ab. Das Land wurde schlimm verheert, und die Zivilbevölkerung wurde Opfer von Plünderungen, Mißhandlungen und Mord. In dieser Zeit hielten sich die Kriegsherren eine komplette Klasse von Meisterstrategen, mit deren Strategien sie das herrschende militärische Patt beenden und den Sieg für sich erringen wollten. Während Strategieberater, deren Ratschläge zu Siegen führten, reich belohnt wurden, scheuten sich die Fürsten nicht, erfolglose foltern oder hinrichten zu lassen. Der Meisterstratege Sun Zi soll im Bett an Altersschwäche gestorben sein, was Rückschlüsse erlaubt auf das Ausmaß seiner strategischen Befähigung. Berühmt geworden ist Sun Zi jedoch weniger für seine praktischen Taten als für seine philosophische und praktische Abhandlung „Bing Fa“, auf Deutsch „Die Kunst des Krieges“.
Dieses Werk besteht aus 13 Kapiteln, die jeweils aus einer Vielzahl von Maximen und Beobachtungen bestehen, die Sun Zi als eminent wichtig für die Kriegführung ansieht. Angefangen mit generellen strategischen Grundüberlegungen über die Wahl des richtigen Terrains bis hin zur Aufklärung handelt er darin alles ab, was hinsichtlich des Krieges an wichtigen Gesichtspunkten zu beachten ist. Trotz seines hohen Alters wird „Die Kunst des Krieges“ bis auf den heutigen Tag verlegt und gelesen. In Militärakademien wird es ebenso zur Unterrichtung des Führungspersonals eingesetzt wie in vielen Managementschulen. Und auch die originellen und effizienten Taktiken, mit denen die Guerillaarmeen Mao Zidongs und Ho Tschi Minhs ihre Siege gegen ihre materiell weit überlegenen Gegner erfochten, waren nachweislich von diesem Buch inspiriert.
Das Werk ist trotz seines Alters in einer klaren, leicht verständlichen Sprache geschrieben, was mit ein Hauptgrund dafür ist, daß es sich immer noch, ca. 2.500 Jahre nach seinem Entstehen, größter Beliebtheit erfreut. Ungeachtet seiner leichten Zugänglichkeit verdient es „Die Kunst des Krieges“, mehrmals und immer wieder gelesen zu werden. Denn die in ihm enthaltenen Merksätze Sun Zi’s sind auf vielen verschiedenen Ebenen interpretier- und anwendbar, und nahezu jedesmal, wenn das Buch in die Hand genommen wird, eröffnet sich dem Leser eine neue Bedeutungsnuance.
Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen. Eine der berühmtesten Passagen aus dem Buch ist die folgende: „…. Wenn du die anderen und dich selbst kennst, wirst du auch in hundert Schlachten nicht in Gefahr schweben; wenn du die anderen nicht kennst, aber dich selbst kennst, dann siegst du einmal und verlierst einmal; wenn du die anderen nicht kennst und dich selbst nicht kennst, dann wirst du in jeder einzelnen Schlacht in Gefahr sein.“
Als ich diese Passage zum erstenmal las, schien sie mir auf den ersten Blick von jener nebligen und hohlen Weisheit zu sein, wie sie auch den Sprüchen zu eigen ist, die man in chinesischen Glückskeksen finden kann. Als ich sie dann nochmals las, fiel mir auf, daß Sun Zi hiermit vielleicht die Bedeutung von Aufklärung und Spionage betonen möchte. Ich dachte etwas weiter, und der Sinngehalt der Passage erweiterte sich abermals für mich: Sun Zi meint wohl die Notwendigkeit der Analyse der gegnerischen Taktiken, da nur so dessen Pläne durchkreuzt werden können. Nach einiger Zeit las ich den Absatz noch mal, und diesmal schien ich einen noch tieferen Gehalt entdeckt zu haben: Daß nämlich die Kenntnis vom Gegner nicht nur seine Taktiken, sondern auch seine psychologische Konstitution und Motivlage umfassen muß, die ihn zum Kampf oder eben, bei ihrem geschickten Ausnutzen, in die Flucht treibt. Eine weitere Lesart fällt mir natürlich als Freimaurer angesichts der im Ritual vorhandenen Aufforderung „Erkenne dich selbst!“ sofort auf: Nicht nur eine umfassende Kenntnis der gegnerischen Ziele und Taktiken, sondern auch der eigenen Seite ist für das eigene Schicksal von eminenter Wichtigkeit. Ihr seht, meine lieben Brüder, daß man allein aus diesem Absatz eine Vielzahl von unterschiedlichen Auslegungen ziehen kann.
Dabei liegt trotz all dieser unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der Kern der Philosophie Sun Zi’s ganz offen und unverschlüsselt da: Einen Konflikt gänzlich unnötig machen. Nun werden einige von euch, meine lieben Brüder, vielleicht verwundert aufhorchen und sagen: „Was soll das denn? Ein Buch über Konflikte, das Konflikte unnötig machen will?“ Genau dies ist der Grundgehalt des Buches und macht ungeachtet des Themas, von dem es handelt, seinen tiefen humanistischen Wert aus. Ich werde versuchen, dies im Verlauf dieser Zeichnung weiter zu verdeutlichen.
Wie nahezu alle anderen Künste des Fernen Ostens ist auch „Die Kunst des Krieges“ extrem minimalistisch. Für Meister Sun besteht sie darin, soviel Erfolg wie möglich mit sowenig Mitteln wie nötig zu erreichen. Er führt hierzu aus: „Jene, die das Militär vortrefflich einsetzen, heben Truppen nicht zweimal aus und transportieren den Proviant nicht dreimal.“ Denn nicht nur für den Unterlegenen, sondern auch für den Sieger gilt: „Deine Waffen [werden] stumpf … und deine Kampfmoral leidet, wenn [der Krieg] sich zu lange hinzieht… Sind deine Waffen stumpf und ist deine Kampfmoral schwach, dann werden andere Vorteil aus deiner Schwäche ziehen… und… du kannst den Lauf der Dinge nicht mehr zu deinen Gunsten verändern.“ Daher „… beweisen jene, die die Schlacht gewinnen, nicht wirklich höchstes Geschick – jene, die die gegnerische Armee hilflos machen, ohne es zu einem Kampf kommen zu lassen, sind die wahrhaft Vortrefflichen. Daher bringen den vortrefflichen Kriegern ihre Siege weder Ruhm für ihre Klugheit noch Verdienste für ihren Mut ein.“
Für Meister Sun bedeutet Krieg nicht Kampf zwischen verschiedenen Armeen. Vielmehr ist Krieg ein Zusammenprall unterschiedlicher Bedingungen. Diese sind für ihn Moral, Wetter, Terrain, Kommandostruktur und Doktrin. Als am wichtigsten sieht Sun Zi die Moral an. Um diese zu brechen, rät er, den Gegner ständig unter Druck zu halten. Ist er konzentriert, sollte man ihn vermeiden; ist er vereinigt, sollte man ihn zerstreuen. Seine Stärke muß in Schwäche verwandelt werden; und wenn dies gelungen ist, sollte angegriffen werden. Dadurch werden die eigenen Ressourcen geschont. Doch Sun Zi’s Gedankengang geht weiter. Denn gleichzeitig betont er, daß dies auch den Gegner schont. Sun Zi befürwortet somit nicht das Vermeiden einer Schlacht oder gar eine pazifistische Abstinenz von Gewalt. Stattdessen ist derjenige der beste Stratege, der die Gelegenheit für eine Entscheidungsschlacht, die den Kulminationspunkt eines Konfliktes darstellt, zu den für ihn besten Bedingungen ergreift.
Den jeweiligen Wert einer verfolgten Strategie leitet Meister Sun von den zu erwartenden Opferzahlen und Zerstörungen ab. Je niedriger diese sind, desto höher ist sie einzuschätzen. Die beste Strategie ist für Sun Zi das Durchkreuzen der gegnerischen Pläne; dann folgt das Zunichtemachen feindlicher Bündnisse; dann der Angriff auf die Kräfte des Gegners; schließlich bleibt als schlechteste, weil blutigste und zerstörerischste Strategie die Belagerung gegnerischer Städte.
Ein Schlüssel zum Sieg liegt für Meister Sun in der Initiative. Dies bezieht sich sowohl auf das Finden als auch auf das Nutzen einer günstigen Gelegenheit zum Sieg. „Suchst du also den Kampf, so mag sich der Feind noch so sehr in der Verteidigung verschanzen, er wird dem Kampf nicht ausweichen können, wenn du jene Stellen angreifst, zu deren Schutz er sich gezwungen sieht.“ „Jene, die sich als erste am Schlachtfeld einfinden und den Gegner erwarten, sind entspannt; jene, die als letzte am Schlachtfeld eintreffen und sich übereilt in den Kampf stürzen, verausgaben sich.“
Ein weiterer Schlüssel zum Sieg liegt in der Entdeckung der jeweiligen Stärken und Schwächen. Der Sieg geht an die Seite, welche von diesen die klarste Vorstellung hat. Sun Zi empfiehlt vorsichtige Eröffnungen und flexible Pläne. Er kennt die Vorteile des Verteidigers und rät zu deren Nutzung. Am Anfang eines Konfliktes muß sich ein Stratege damit begnügen, mit dem zu arbeiten, auf was er direkt Einfluß nehmen kann, also die vorhandenen eigenen Kräfte und die eingenommene Position. In den Worten Meister Sun’s: „In den alten Zeiten machten vortreffliche Krieger sich zuallererst unbesiegbar und warteten dann den Moment ab, in dem der Gegner sich verwundbar zeigt. Unbesiegbarkeit liegt in dir selbst, Verwundbarkeit liegt im Gegner.“
Ein wirklicher Meister der Strategie muß ein meisterliches Verständnis für den Hintergrund des ausgetragenen Konfliktes haben. Auseinandersetzungen sind ein Resultat bestimmter Motivlagen. Begreift der Stratege die Natur dieser Motivlagen, kann er Wege zu deren Beeinflussung finden und so die gesamte Natur der Auseinandersetzung verändern. Damit erkennt Sun Zi das, was viele oft im Eifer des Gefechts vergessen: Daß jeder Konflikt auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Hat man keine Aussicht, auf der einen Ebene einen Erfolg davonzutragen, so sollte man den Fokus der eigenen Anstrengungen auf eine andere Ebene verlegen, um dort den Konflikt zu eigenen Gunsten zu entscheiden.
Aus diesen Gründen betont Sun Zi die Wichtigkeit der Psychologie, der Diplomatie und der Aufklärung. Sie vergrößern exponentiell die Anzahl möglicher Komplikationen, die in Konflikten auftreten können, und damit erweitern sie gleichzeitig für den Strategen, der sie zu nutzen weiß, die Anzahl der Möglichkeiten, die er potentiell ausbeuten kann.
Trotz aller im Werk aufgestellten Leitsätze ist Meister Sun weit davon entfernt, eine bestimmte Methode zu propagieren. Für ihn führt „im Kampf … das Direkte zur Konfrontation, das Überraschende … zum Sieg.“ Weil aber die Konfrontation oft nicht zu vermeiden ist, sollte die eigene Strategie je nach Situation immer neue Kombinationen des Direkten und des Überraschenden aufweisen. In den Worten Sun Zi’s: „Es gibt nur fünf Noten in der Tonleiter, aber ihre Variationen sind so zahlreich, daß man sie nicht alle hören kann. Es existieren nur die fünf Grundfarben, aber ihre Variationen sind so zahlreich, daß man sie nicht alle sehen kann. Es gibt nur fünf Geschmacksrichtungen, aber ihre Variationen sind so zahlreich, daß man sie nicht alle schmecken kann. Es gibt nur zwei Arten von Angriff, den unkonventionellen Überraschungsangriff und den konventionellen direkten Angriff, aber die Variation des Konventionellen und Unkonventionellen sind sonder Zahl. Das Unkonventionelle und das Konventionelle bedingen einander, wie ein Kreis ohne Anfang und ohne Ende – wer könnte sie je ermüden?“ Deswegen empfiehlt er für das eigene Vorgehen, die Form von Wasser anzunehmen, denn seiner Meinung nach gilt: „Wasser kennt keine beständige Form: Wer fähig ist zu siegen, indem er sich dem Gegner entsprechend wandelt und anpaßt, verdient es, ein Genie genannt zu werden.“ Daraus leitet er die Empfehlung ab: „Sei unendlich subtil, ja geh bis an die Grenzen des Formlosen. Sei unendlich geheimnisvoll, ja geh bis an die Grenzen des Lautlosen. So kannst du Herr über das Schicksal des Gegners sein.“
Daß für Sun Zi Strategie keine exakte Wissenschaft, sondern eine Kunst ist, macht er schon mit dem Titel seines Werkes deutlich. „Die Kunst des Krieges“ liegt für Sun Zi in der Situation und dem Potential. Nur das Verständnis für das Erste erlaubt die Realisierung dessen, was im Zweiten liegt. Nur so kann der Angriff auf den Gegner an genau der Stelle stattfinden, wo er keine Möglichkeit zur Verteidigung hat. In den Worten Meister Suns gleicht in einer solchen Situation die Wirkungsmacht des Einsatzes der eigenen Kräfte „…. Steinen, die man gegen Eierschalen wirft…“ Das Endresultat dieser Kunstform hängt von der Kreativität des Handelnden und der Art der Handlungen ab, weniger von dem eingesetzten Material. Der Meister kämpft nur dann, wenn er nicht verlieren kann, und wahrhaft siegt er nur, wenn er nicht kämpft.
Ich fürchte, meine lieben Brüder, daß trotz meiner besten Bemühungen euch mein Ausdrucksvermögen nicht wirklich die Tiefe und Weisheit dieses Klassikers hat vermitteln können. Vielleicht denken einige von euch, daß Meister Sun’s Werk bestenfalls eine raffiniert formulierte Ansammlung von nicht anwendbaren Allgemeinplätzen ist. Ich will deswegen auf eine kleine Geschichte zurückgreifen, um den Gehalt dieses Werkes noch deutlicher herauszuarbeiten.
In alten Zeiten fragte einmal ein Fürst des frühen China seinen Leibarzt, der aus einer Heilerfamilie mit großer Tradition stammte, wer denn der beste Arzt weit und breit sei. Der Arzt, dessen Ruf so gut war, daß sein Name gleichbedeutend mit der Heilkunst in China war, antwortete: „Mein ältester Bruder sieht den Geist der Krankheit und entfernt ihn, bevor er Gestalt annimmt, daher dringt sein Name nicht über das Haus hinaus. Mein älterer Bruder heilt Krankheiten, wenn sie kaum in Erscheinung treten, daher dringt sein Name nicht über die Nachbarschaft hinaus. Was mich betrifft, so punktiere ich ein bißchen die Venen, verschreibe ein paar Arzneien und massiere etwas die Haut. Daher dringt mein Name manchmal bis in die Ferne und an die Ohren der Herrscher.“
Nichts drückt den Charakter von Sun Zi’s „Die Kunst des Krieges“ besser aus als diese Geschichte. Stärkt man mittels Sport und guter Ernährung die Widerstandskraft und Gesundheit, ist es so, als ob man die Pläne des Gegners durchkreuzt. Die Vermeidung einer Ansteckung mit Krankheitskeimen entspricht dem Zunichtemachen feindlicher Bündnisse. Nimmt man Arzneien ein, so gleicht dies dem Angriff auf die Kräfte des Gegners. Mit seinen Risiken und vorgenommenen Zerstörungen ähnelt der chirurgische Eingriff der Belagerung gegnerischer Städte. Und analog zu dem von Meister Sun konstatierten, wonach die vortrefflichen Krieger für ihre Siege keinen Ruhm ernten, ist der Bekanntheitsgrad des am besten in der Heilkunst bewanderten Bruders am kleinsten.
Ich hoffe, daß ich euch anhand dieses Beispiels das breite Anwendungsspektrum dieses Klassikers deutlich machen konnte, arbeitet doch meiner Meinung nach die Übernahme von Kategorien aus Meister Suns Werk die Parallelen deutlich heraus, die zwischen der Kunst des Krieges und der des Heilens bestehen; denn beide Künste erfordern Strategien für den Umgang mit Unbill; in beiden Künsten ist die Erkenntnis des Problems der wahre Schlüssel zu dessen Lösung; und in beiden Künsten ist es umso besser, je weniger es bedarf.
Eine ideale Strategie, die es erlaubt zu siegen ohne zu kämpfen und das Maximum zu erreichen, indem man am wenigsten tut, ist eine mögliche konkrete Umsetzung der Philosophie des Daoismus (Dao Jiao), jener alten Wissenstradition, die neben ihrem weltanschaulich-philosophischen Kern auch den spirituellen Hintergrund sowohl der Kampf- als auch der Heilkünste des alten Chinas stellt. Das ebenfalls jahrtausende alte daoistische Standardwerk Dao De Jing (auf Deutsch etwa: „Der Weg und seine Kraft“) wendet die Strategie Sun Zi’s auf die Gesellschaft an, wenn es rät: „Plane etwas Schwieriges, solange es noch leicht ist; tu, was groß ist, solange es noch klein ist. Die schwierigsten Dinge der Welt müssen getan werden, solange sie noch leicht sind; die größten Dinge der Welt müssen getan werden, während sie noch klein sind. Aus diesem Grunde tun die Weisen nie, was groß ist, und dies ist es, warum sie jene Größe erlangen können.“
Wie das „Dao De Jing“ ist auch Sun Zi’s „Die Kunst des Krieges“ vom psychologischen Standardkunstgriff der daoistischen Philosophie geprägt: Der Benutzung des Paradoxons, das die unsichtbaren Barrieren des Bewußtseins überwinden und den Leser zum aktiven Umgang mit dem Gelesenen anregen soll. Das Resultat dieser aktiven Aneignung des Geschriebenen ergibt sich somit zum einen aus dem Geschriebenen selbst und zum anderen aus dem, was der Leser hineininterpretiert. Das wichtigste Paradoxon in Sun Zi’s „Die Kunst des Krieges“ ist, den Kampf zum Inhalt zu haben und dennoch den Anspruch zu erheben, daß ein Sieg ohne Kampf das beste ist.
Der Einsatz von Paradoxien in daoistischen Werken führt dazu, daß deren Lesen eine Abenteuerreise in die eigene Innenwelt und in das einen umgebende Universum zugleich ist. Daoistische Werke geben Hinweise und Anregungen, und diese Hinweise und Anregungen werden umso aussagekräftiger und detaillierter, je mehr Zeit und Denken man in sie investiert. Ziel dessen ist die Herausbildung einer speziell daoistischen Form von Empfindsamkeit für die umgebende Welt, mit der eine Situation intuitiv und ohne dem als Störfaktor angesehenen Nachdenken erfaßt werden soll. Dadurch soll ein exakter Gleichklang des Individuums mit der Situation erreicht werden, woraus sich für den Daoisten das angemessene Handeln automatisch ergibt, da er von den natürlichen Strukturen des Universums mit einem Minimum an Aufwand getragen wird. Das „Zhonghe Ji“ (auf Deutsch: „Das Buch des Gleichgewichtes und der Harmonie“), ein weiterer Klassiker des Daoismus, beschreibt dies so: „Etwas zu fühlen und zu verstehen, nachdem man gehandelt hat, ist es nicht wert, Einsicht genannt zu werden. Etwas zu vollbringen, nachdem man danach gestrebt hat, ist es nicht wert, Vollendung genannt zu werden; etwas zu wissen, nachdem man gesehen hat, ist es nicht wert, Wissen genannt zu werden. In der Tat, fähig zu sein, etwas zu tun, bevor es existiert, etwas zu erahnen, bevor es aktiv wird, etwas zu sehen, bevor es hervortritt, dies sind die drei Fähigkeiten, die sich in Abhängigkeiten voneinander entwickeln. Dann wird nichts erahnt, sondern durch Einsicht verstanden, nichts wird unternommen, ohne daß eine Reaktion eintritt, und nirgendwo geht man hin, ohne Nutzen daraus zu ziehen… Tiefes Wissen um die Prinzipien weiß, ohne zu sehen; eine kraftvolle Praxis des Weges vollendet, ohne zu streben. Tiefes Wissen heißt, zu wissen, ohne aus der Tür zu treten, und den Weg des Himmels zu sehen, ohne aus dem Fenster zu schauen. Kraftvolles Handeln bedeutet, immer stärker zu werden, indem du dich allen Situationen anpaßt. Tiefes Wissen heißt, der Störung vor der Störung gewahr zu sein, der Gefahr vor der Gefahr gewahr zu sein, der Zerstörung vor der Zerstörung gewahr zu sein, dem Unglück vor dem Unglück gewahr zu sein… Durch das tiefe Wissen um das Prinzip kannst du eine Störung in Ordnung verwandeln; du kannst Gefahr in Sicherheit verwandeln; du kannst Zerstörung in Überleben und Unglück in Glück verwandeln.“
Etwas Ähnliches sagt auch Meister Sun: „Wer den Sieg erkennt, wenn er allgemein bekannt ist, ist nicht wirklich geschickt. Jeder sagt, ein Sieg in der Schlacht ist gut, doch er ist nicht wirklich gut. Es bedarf keiner großen Stärke, um ein Haar aufzuheben, es bedarf keiner scharfen Augen, um Sonne und Mond zu sehen, es bedarf keiner guten Ohren, um den Donnerschlag zu hören.“
Besonders raffiniert an „Die Kunst des Krieges“ ist, daß es seinem Leser das Nachdenken über Konflikte aufzwingt, in dem Meister Sun die konkrete Anwendung seiner Lehren unauflöslich mit dem Reflektieren über die Folgen des eigenen Tuns verknüpft, und zwar begonnen von ihren Anfangsphasen der Entfremdung und des Verrats bis hin zu ihren extremen Formen der Feuerattacke und Belagerung, die er als sinnlose und unnötige Verschwendung von Menschen und Material ansieht. Mit dieser Methode startet der chinesische Meisterstratege aus der Mitte des Buches heraus einen Überraschungsangriff auf das Herz des ratsuchenden Kriegers; und dort verankert er mit genau jener Subtilität, die er für eine elementar wichtige Eigenschaft einer jeden guten Strategie hält, die Wichtigkeit individueller und sozialer Tugenden – Werte, wie sie auch von uns Freimaurern vertreten werden.
Der Grund für die fortdauernde Bedeutung und Rezeption von Sun Zi’s „Die Kunst des Krieges“ ist seine universelle Anwendbarkeit und Zeitlosigkeit. Die Ratschläge des Meisterstrategen aus dem alten China für den Umgang mit Konflikten lassen sich überall anwenden: Auf der persönlichen, der beruflichen, der gesellschaftlichen, der politischen Ebene usw. Konflikte werden die Menschheit solange begleiten, wie sie existiert.
Doch nicht nur deswegen ist dieses Werk ein Klassiker. Im kleinen Rahmen birgt ein Klassiker deutlich unterschiedliche Sinngehalte, je nachdem, unter welchen Umständen und in welcher geistigen Verfassung er gelesen wird; im großen Rahmen vermittelt ein Klassiker völlig unterschiedliche Welten, wenn er in verschiedenen Phasen der Erfahrung, des gefühlsmäßigen Erlebens und des Verstehens des Lebens gelesen wird. Klassiker mögen interessant, ja unterhaltsam sein, aber der Leser erfährt doch immer, daß sie nicht wie jene Bücher sind, die man zur bloßen Erbauung liest und die ihren ganzen Gehalt auf einmal preisgeben. Die Klassiker teilen uns um so größere Weisheiten mit, je weiser wir werden, und sie werden um so nützlicher, je öfter wir sie benutzen. Vor allem dies ist es, was Sun Zi’s „Die Kunst des Krieges“ zum Klassiker macht. Und dies hat es mit der Freimaurerei gemein.
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Quellen:
- Bokenkamp, Stephen R.: Early Daoist Scriptures, University of California Press, Berkeley, 1997
- Deng, Mingdao: Tao im täglichen Leben, Goldmann Verlag, München, 1998
- Franke, Herbert, und Trauzettel, Rolf: Das Chinesische Kaiserreich, Weltbild Verlag, Frankfurt am Main, 1998
- Hoff, Benjamin: Tao Te Puh. Das Buch vom Tao und von Puh dem Bären, Synthesis Verlag, Essen, 1984
- Lao Zi: Tao Te King, Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach, 1999
- O. V.: Yi Jing. Das Buch der Wandlungen, Verlag 2001, Hamburg, 2002
- Reiter, Florian C.: Taoismus zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg, 2000
- Senger, Harro v.: Strategeme, Scherz Verlag, Bern, 1988
- Sun Zi: Die Kunst des Krieges, Droemer Knaur Verlag, München, 2001
- Tao, Hanzhang: Sun Tzu’s Art of War: The Modern Chinese Interpretation, Sterling Publishing, New York, 1987
- Wong, Eva (Hrsg.): Teachings of the Tao: Readings from the Taoist Spititual Tradition, Shambala, Boston/London, 1997
- http://www.clas.ufl.edu/users/gthursby/taoism/index.htm