Bei der Aufnahme eines Suchenden in den Bund der Freimaurer wird ihm nahegelegt, weniger nach vergänglichem irdischen Besitz zu streben, als mehr nach innerer Bereicherung. Mit dieser Auffassung steht die Freimaurerei nicht allein. Buddha lehrt, daß nicht nach Besitz streben dürfe, wer die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung erreichen wolle.
Schon in der Antike hören wir von Solon: Der Mensch kann mit wenigem glücklich sein und nur mit wenigem; zu großer Besitz, sagt Solon, soll geteilt werden. Nicht Reichtum ist uns wünschbar sondern Tugend, und sie erst macht das gemeinsame Leben leicht.
Im Alten Testament ruft Jesaja: „Wehe denen, die ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen, bis kein Raum mehr sei, daß sie allein das Land besitzen“. Jesus sagt: „Was nützet es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber ins ewige Verderben bringt?“ Marx lehrt: „Luxus ist genauso ein Laster wie Armut, und es muß unser Ziel sein, viel zu sein und nicht viel zu haben“.
Es gibt offenbar zwei grundlegend verschiedene Formen menschlichen Strebens, nämlich das Streben nach dem „Sein“ und das Streben nach dem „Haben“. Doch gibt es überhaupt eine Alternative zwischen „Sein oder Haben“?
„Haben“ ist doch eine normale Funktion unseres Lebens. Um leben und genießen zu können, müssen wir Dinge haben. In einer Gesellschaft, in der „Haben“ und „mehr Haben wollen“ ein hohes Ziel ist, scheint es, als bestehe das eigentliche Wesen des Seins in Haben, so daß nichts ist, wer nichts hat.
Aber hat nicht jeder etwas? Seine Wohnung, sein Auto, seine Kleider, seinen Fernsehapparat usw. Warum sollte also irdischer Besitz die Entwicklung des Menschen behindern?
Nun, es gibt wohl zwei grundsätzliche Arten der Selbstorientierung und der Orientierung auf die Welt hin, zwei verschiedene Charakterstrukturen, deren jeweilige Vorrangigkeit die Gesamtheit dessen bestimmt, was jemand denkt, fühlt und tut.
In der aufs „Haben“ orientierten Existenz ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens. Bei der auf „Sein“ hin orientierten Existenz müssen wir zwei Formen des „Seins“ unterscheiden. Die eine steht im Gegensatz zum Schein – um die geht es hier nicht – und die andere im Gegensatz zum „Haben“. Meister Eckart sieht das „Sein“ als Leben, Aktivität, Erneuerung, Produktivität als Gegenteil von „Haben“, von Ich-Bindung und Egoismus. „Sein“ im Sinne Eckarts heißt aktiv sein im klassischen Sinn als produktiver Ausdruck der dem Menschen eigenen Kräfte.
Schopenhauer schreibt unter dem Titel „Was einer ist“: „Daß dieses zu seinem Glücke vielmehr beiträgt als was er hat, haben wir bereits im allgemeinen erkannt. Immer kommt es darauf an, was einer sei und demnach an sich selber habe. Demnach sind also die subjektiven Güter wie ein edler Charakter, ein fähiger Kopf, ein glückliches Temperament und ein heiterer Sinn die ersten und wichtigsten, weshalb wir auf die Beförderung und Erhaltung derselben vielmehr bedacht sein sollten, als auf den Besitz äußerer Güter und äußerer Ehre.“
In dem Buch von Erich Fromm „Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ schreibt er über das Wesen des Habens. „Der Habenmodus der Existenz leitet sich vom Charakter des Privateigentums ab. In dieser Existenzform zählt einzig und allein die Aneignung und mein uneingeschränktes Recht, das Erworbene zu behalten bzw. produktiven Gebrauch davon zu machen.“
„Es ist die Haltung“, sagt er weiter, „die im Buddhismus als Gier, in der jüdischen und christlichen Religion als Habsucht bezeichnet wird“. Der Satz „ich habe etwas“ drückt die Beziehung zwischen dem Subjekt „ich“ und dem Objekt aus. Er impliziert, daß sowohl Subjekt wie Objekt dauerhaft sind. Aber sind sie es wirklich? Ich werde sterben, und auch das Objekt ist nicht von Dauer. Die Aussage, etwas auf Dauer zu besitzen, beruht auf der Illusion einer unvergänglichen, unzerstörbaren Substanz.
Wenn ich alles zu haben scheine, habe ich in Wirklichkeit nichts, denn mein Haben, Besitzen eines Objekts, ist nur ein flüchtiger Moment im Lebensprozeß. Bleiben wir aber noch bei Fromm, der weiter ausführt: In letzter Konsequenz drückt die Aussage – „ich habe“ – eine Definition meines Ichs durch meinen Besitz des Objekts aus. Das Objekt bin nicht ich, sondern ich bin, was ich habe. Mein Eigentum konstituiert mich und meine Identität. Der Gedanke, der der Aussage „ich bin, weil ich denke“ zugrunde liegt, wird „ich bin, weil ich habe“.
Es ist bezeichnend, daß uns im Zusammenhang mit dem Haben-Modus erheblich mehr negative Schlagwörter und Vokabeln einfallen als positive; zum Beispiel Profitgier, Habsucht, Geiz, Raub, Raubmord, Neid, Gewalt, Egoismus, Selbstsucht, Arroganz, Eitelkeit, Übervorteilung, Betrug, Bestechung, Überheblichkeit usw. Positive Vokabeln fallen mir auf Anhieb zum Haben-Modus überhaupt nicht ein.
Fromm grenzt den Haben-Modus allerdings ab vom sogenannten existenziellen Haben. Die menschliche Existenz erfordert, daß wir bestimmte Dinge haben müssen, um zu existieren, nämlich Wohnung, Kleidung, Werkzeuge usw., die wir zur Befriedigung unserer Grundbedürfnisse benötigen. Er meint, diese Form des Habens steht nicht im Widerspruch zum Sein, wohl aber der charakterbedingte Besitztrieb, den er vorher beschrieben hat.
Beide Tendenzen sind also offenbar im Menschen vorhanden. Aus der Existenz dieser beiden gegensätzlichen Anlagen, nämlich dem Besitzenwollen oder dem Seinwollen, zu dem auch die Bereitschaft zu teilen und zu geben gerechnet werden soll, ergibt sich, daß die Gesellschaftsstrukturen und deren Werte und Normen darüber entscheiden, welche von beiden dominant wird.
Fromm meint nun dazu:
„Infolge der vorherrschenden Mentalität der Selbstsucht meinen die Machthaber unserer Gesellschaft (wer immer das auch sein mag), man könne die Menschen nur durch materielle Vorteile, daß heißt durch Belohnungen, Eigentumserwerbsmöglichkeiten motivieren; und Appelle an Solidarität und Gemeinnutz würden kein Gehör finden. Deshalb erfolgen solche Aufrufe zu selten, und man läßt sich die Chance entgehen, sich durch die positiven Ergebnisse eines Besseren belehren zu lassen“.
Nun, wer früher durch die DDR fuhr, dem begegneten solche Aufrufe zur Solidarität und Gemeinnutz an jeder Straßenecke sowie in Radio und Fernsehsendungen ununterbrochen. Und wie sahen die positiven Ergebnisse solcher Appelle aus?
Sie sind nicht besser zu beschreiben als durch Volkesstimme, nämlich den politischen Witz.
Ein Staatsminister ist anonym auf einer Reise unterwegs, um das Gaststättengewerbe zu kontrollieren. Er ist von allen volkseigenen Betrieben wegen der unfreundlichen Bedienung, der Uninteressiertheit am Kunden bitter enttäuscht. Endlich wird er in einem LPG-Restaurant (zur Orientierung: LPG heißt Landwirtschaftliche-Produktions-Genossenschaft – natürlich auch volkseigen) erstklassig bedient. Alles ist sauber, appetitlich und freundlich. Der Staatsminister gibt sich nun zu erkennen und ergeht sich in Lobeshymnen über ein so erstklassig geführtes LPG-Restaurant. Die Freude des Ministers wird jedoch erheblich durch die Antwort des Wirtes getrübt, der verlegen erklärt, LPG ist in diesem Fall die Abkürzung für „Letzte Private Gaststätte“.
Mir scheint dabei, daß sich Fromm in die Reihe der Sozialutopisten einreiht, die im Besitzstreben und Eigentum eine Ursache aller Übel sahen und von denen ich zwei erwähnen möchte. Im Jahre 1516 erschien die Schrift des englischen Kanzlers Thomas Morus: „Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopie“. Die Menschen werden erst durch Not böse gemacht. Wozu so hart strafen? Mit dieser Frage hebt Morus an; sogleich macht er die Umgebung für den einzeInen vorantwortlich. „Man setzt den Galgen für Diebe fest, während man viel eher dafür sorgen sollte, daß sie ihr Auskommen haben, damit nicht einer in den harten Zwang gerät, erst stehlen, danach sterben zu müssen“. Dicht nebenan zeigt Morus die Welt, die den Armen schuldig werden läßt und sich als Richter aufspielt: „Wie groß ist doch die Zahl der Edelleute, die selber müßig wie Drohnen von anderer Leute Arbeit leben, die sie bis aufs Blut schinden, obendrein aber scharen sie einen Schwarm von Tagedieben und Trabanten um sich her“. Und der Schluß des ersten Teils der UTOPIA sagt unverholen: „Wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu betreiben. … Es kann das Glück der Sterblichen überhaupt nicht begründet worden, wenn nicht vorher das Eigentum aufgehoben ist.“
Alle diese Worte legt Morus dem Weltreisenden in den Mund, den er als Berichterstatter aus Utopia einführt und der nun vom besten Staat her entsetzt auf den englischen blickt. Der vorsichtige Kanzler nennt den Mann Raphael Hythlodeus, d. h. Schaumredner. Zweifellos aber vertritt Raphael des Morus radikale Auffassungen. Die Insel Utopia nun, von der der Berichterstatter im zweiten Teil erzählt, ist vor allem deshalb eine menschenwürdige, weil ihre Bewohner so weitgehend von der Arbeitsfront befreit sind. 6 Stunden mäßige Mühe reichen aus, um alle notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen und auch genügend Vorrat für die Annehmlichkeiten herzustellen. Interessant ist, daß die Häuser alle 10 Jahre nach dem Los gewechselt werden, um nicht einmal den Schein eines Privateigentums aufkommen zu lassen.
Wenden wir uns nun einem anderen Sozialutopisten zu, nämlich Fichte. Er vertritt in seiner Schrift „Der geschlossene Handelsstaat“ unter anderem die These, daß es zwar ein Urrecht auf Eigentum gibt, aber nicht auf Sachen, sondern nur eins auf Handlungen, derart, daß kein anderer befugt sein solle, dieses Stück Boden zu bebauen. An Grund und Boden gibt es schlechthin kein Eigentum, er gehört niemand und dem Ackerbauern nur insofern, als er ihn bebaut. Nachdem Fichte derart Besitz wie Eigentum aus dem Sachenrecht in eine Art Erzeugungsrecht gebracht hat, schreitet er zur sozialistischen Konsequenz fort: „Gerade wegen des Urrechts auf Eigentum muß es jedem vom Staat gegeben werden. Wenn einer nicht soviel hat, um leben zu können, so hat er nicht, was er zu haben berechtigt ist. Im Vernunftsstaat erhält er es. In der Teilung, welche vor der Herrschaft der Vernunft durch Zufall und Gewalt gemacht ist, hat es wohl nicht jeder erhalten, indem andere mehr an sich zogen, als ihnen zukam.“
Aus dem Herzen haben die erwähnten und viele andere Utopisten das Rechte gewünscht; aus dem Kopf suchten sie die bessere Welt zu konstruieren und den Willen zu dieser besseren Weit zu entzünden. Die Wirklichkeit unseres Zeitalters hat sich wohl aber dem Haben-Modus verschrieben, der als Antriebsmotor für eine Gesellschaftsstruktur wirkt, in der sich der einzelne Mensch vielleicht gerade deswegen besonders stark auf das Sein konzentrieren kann und muß.
Ich möchte meine Überlegungen mit einem kurzen Gedicht von Goethe schließen, das mit „Eigentum“ überschrieben ist und doch mit unübertrefflicher Schlichtheit die Qualität des Seins charakterisiert.
Eigentum
Ich weiß, daß mir nichts angehört
als der Gedanke, der ungestört
aus meiner Seele will fließen,
und jeder günstige Augenblick
den mich ein liebendes Geschick
von Grund auf läßt genießen.
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