Einleitung
mit einer Reflexion über die „Gerechtigkeit“ schließt sich meine Zeichnung, ohne dass dies zunächst beabsichtigt war, an die letzte Zeichnung zum Thema „Gleichheit“ an; denn das „Gerechte“ setzt beim Gleichheitsgebot an: gleiche Fälle sind gleich zu behandeln. Als Willkürverbot verlangt die auch Gerechtigkeit, Streitfälle ohne Ansehen der Person zu schlichten.
Doch das Gleichheitsgebot – die unterschiedlose Anwendung der Regel – reicht für die Gerechtigkeit nicht. Sie, die Gleichheit, ist um eine zweite Stufe, die Unparteilichkeit und Gradlinigkeit schon in der Festsetzung der Regel, nicht erst in ihrer Anwendung, zu ersetzen.
Der Ausgangspunkt meiner heutigen Zeichnung liegt aber in der Frage, was ist „Gerechtigkeit“, streben wir nach Gerechtigkeit und welche Belege finden sich dafür in den Ritualen.
Zum Begriff der Gerechtigkeit
Ursprünglich bedeutete der Begriff der Gerechtigkeit lediglich die „Übereinstimmung mit dem geltenden Recht“. Ohne die enge Beziehung zum Recht aufzugeben, hat die Gerechtigkeit aber seit langem eine umfassendere und stärkere moralische Bedeutung. Sie meint erstens die objektiv inhaltliche Richtigkeit des Rechts und zweitens subjektiv die Rechtschaffenheit einer Person.
Gerechtigkeit ist damit ein Grundbedürfnis menschlichen Verlangens, keine Gemeinschaft will auf sie verzichten.
Zur Geschichte der Gerechtigkeit
Streben wir – persönlich oder in unserer Gemeinschaft – nach Gerechtigkeit?
Um uns einer bewussten Antwort zu nähern, sollten wir uns die Geschichte und Philosophie des Gerechtigkeitsbegriffs genauer vor Augen führen:
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- Schon in den älteren Kulturen Ägyptens und auch in Mesopotanien wird die Gerechtigkeit – ebenso wie im archaischen Griechenland – religiös begründet. Die Vergöttlichung der Gerechtigkeit ist eine interkulturelle Gemeinsamkeit in allen alten Kulturen.
- Der ägyptische Gerechtigkeitsbegriff verbindet das Religiöse und den Gerechtigkeitsbegriff in einem strengen Sinn: Gerecht ist das, was die Menschen Gott schulden und was sie einander schulden, also in einer wechselseitigen Verantwortung füreinander. Die Gerechtigkeit konzentriert sich in dem Grundbegriff der Sozialmoral,: „Ma’at“. Dieser Begriff steht nicht nur für die drei Dimensionen der Menschenwelt: Individuum, Gesellschaft und Staat, sondern ist auch für die vierte Dimension zuständig – die Götterwelt. Wer in Übereinstimmung mit Ma’at lebt, ist nicht nur im umfassenden Sinn gerecht bzw. rechtschaffen. Nach dem archaischen Gedanken, dass das Gute sich lohnt und das Böse sich rächt, hat der Gerechte in drei Dimensionen Erfolg, nämlich 1.) in der Achtung seiner Mitmenschen, 2.) in einer Beamtenkarriere und im Gedächtnis der Nachwelt durch ein Monumentalgrab und 3.) im Jenseits durch Ehre vor dem Totengericht. Nicht zuletzt gehört zu Ma’at schon ein Moment des angeblich erst jüdisch – christlichen Erbarmens: die Möglichkeit, auf Vergeltung zu verzichten und die einer umfassenden Befreiung anderer aus Not und Bedrängnis.
- Im biblischen Denken kommt zur personalen und politischen Gerechtigkeit ein dritter Begriff hinzu, die Gerechtigkeit Gottes. Sie meint nicht etwas, dass von Gott für die Menschen geschaffen wird, sondern vielmehr Gottes Bundestreue, seine Zuverlässigkeit und seine teils zuwendende, teils strafende, teils auch rettende Zuwendung zum auserwählten Volk Israel (Altes Testament) bzw. zu allen Menschen guten Willens (Neues Testament). Der Kern ist hier: Zwar können Menschen die Gerechtigkeit anstreben, letztlich herbeiführen können sie sie nicht. Gerechtigkeit kommt von Gottes Gnaden. Damit ist die Schaffung gerechter Zustände aber auch nicht mehr Aufgabe des Menschen, sondern nur etwas, worauf der an Gott glaubende Mensch hoffen kann und darf.
- Die Griechen säkularisierten den Begriff der Gerechtigkeit. Sie entwickelten eine vom göttlichen Einfluss getrennte Gerechtigkeitsphilosophie. Hervorzuheben ist hier das älteste, der Gerechtigkeit gewidmete Werk des Abendlandes, die Politeia (Der Staat) mit dem Untertitel „Peri diakaiou“ (über das Gerechte), Platon [427-347 v.Chr.]. Platon unterscheidet die Seele in drei Grundkräfte: das Begehren, die Tatkraft und die Vernunft. Ihr entsprechend drei Tugenden: bei Begehren die Besonnenheit, bei der Tatkraft die Tapferkeit und bei der Vernunft die Weisheit. Damit aber jede Grundkraft die ihr eigentümliche Aufgabe erfüllen kann und in der Seele Ordnung herrscht, bedarf es einer vierten, übergeordneten Tugend, der Gerechtigkeit. Sie ist wegen ihrer Ordnungsmacht die höchste Tugend. Das Konzept lässt sich nach Platon auch auf das Gemeinwesen übertragen: Es ist nur dann gerecht, wenn jeder der Aufgabe nachgeht, die seiner vorherrschenden Begabung entspricht. Wie ein Individuum nur dadurch gerecht wird, dass die Vernunft in ihr herrscht, wird das Gemeinwesen nur gerecht, wenn in ihm die von Vernunft beherrschten Bürger bestimmend sind.
Grundbegriff der Gerechtigkeit
Verlassen wir die Geschichte und versuchen, den Begriff der Gerechtigkeit mit Leben zu füllen. Wann lebe ich gerecht, wie lasse ich Gerechtigkeit walten.
Die wichtigste abendländische Rechtssammlung und zugleich Gesetzgebung, das vom oströmischen Kaiser Justitian (527 – 565) herausgegebene „Corpus Juris Civilis“ (Sammlung des bürgerlichen Rechts) fasst den Gerechtigkeitsbegriff treffend in drei Grundsätzen zusammen:
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- Lebe ehrenhaft,
- Verletze nicht den andren,
- Gewähre jedem das Seine.
- Lebe ehrenhaft Das erste Gebot personaler Gerechtigkeit verlangt, Rechtsverstösse zu unterlassen und das freie Unterlassen zu einer festen Haltung, einem Charaktermerkmal, auszubilden. Sie besteht in einem bewussten und freiwilligen Rechtsgehorsam, in der Rechtschaffenheit als Rechtskonformität und Rechtsintegrität. Der Rechtschaffende tut nicht nur anderen kein Unrecht, er lässt auch durch oder mit sich kein Unrecht geschehen, in dem er sich jeder rechtlichen Entwürdigung durch Dritte verweigert.
- Verletze nicht den anderen Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz betrifft die Rechtsverletzung. Er verbietet in jeder Hinsicht, die Rechte anderer zu verletzten. Das heisst, auch der andere hat Rechte, angeborene oder erworbene, die verletzt werden können. Die im ersten Gebot verlangte Selbstanerkennung von Rechten wird hier ergänzt um eine Fremdanerkennung.
- Gewähre jedem das Seine Der dritte Grundsatz ist vom Verständnis her schwieriger als die beiden oberen zusammen. Nach der üblichen Übersetzung kann dieser Grundsatz so verstanden werden, dass die nach dem zweiten Grundsatz gesicherten und anerkannten Rechte des anderen durch diesen Grundsatz gesichert werden: Auf das Gewähren des Rechts folgt deren Gewährleistung. Diese Sicherung kann nicht individuell sondern nur kollektiv, nicht privat sondern nur öffentlich vorgenommen werden; denn das Gewähren des Rechts umfasst die Anerkennung durch Dritte. Das 3. Gebot steht somit für eine wechselseitig und zugleich öffentlich gesicherte, staatsförmige Anerkennung – letztlich nicht nur den „modernen“, sondern den „gerechten“ Rechtsstaat“.
Anwendung dieser Grundsätze auf unseren Alltag
Die folgenden Fragen und Beispiele lassen die Schwierigkeiten, gerecht zu leben und zu handeln, erkennen.
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- Gerechtigkeit zwischen den Generationen
- Was ist gerecht beim Abbau nicht erneuerbarer Energiequellen?
- Ist jemand verpflichtet, Empfangenes der Gesellschaft zurückzugeben?
- Sind junge Menschen rechtzeitig in die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verantwortungen einzubeziehen, um die Zukunftsaufgaben zu lösen statt einer Gerontokratie durch Häufung von Ämtern und Positionen bei immer Älteren zu frönen (bspw. Vorstandsvorsitzende, die ihre eigenen Aufsichtsratsvorsitzenden werden).
- Gerechtigkeit im Pluralismus: Toleranz
- Wer den Pluralismus frei anerkennt, besitzt Toleranz, handelt gerecht.
- aber: Die passive Toleranz, also das Gelten- und Gewährenlassen der fremden Eigenart ist keine Gerechtigkeit sondern nur eine erste Vorstufe.
- Die aktive Toleranz geht darüber hinaus. Sie bejaht positiv das Lebensrecht des anderen und ist damit allein „gerecht“.
- Gerechtigkeit zwischen den Generationen
Auf das Gebot der Toleranz in der Freimaurerei bezogen, heißt dies, dass eine alles gewährende Toleranz noch nicht „gerecht“ ist. Dies gibt erneut Anlaß, auch im Hinblick auf eine zu übende Gerechtigkeit über unsere Auffassung von Toleranz nachzudenken.
Liebe Brr, lasst mich mit einem Zitat von Platon die Suche nach der Gerechtigkeit schließen:
Der trefflichste, gerechteste und zugleich glückseligste Mensch ist der,
der am meisten königlich gesinnt ist und sich selbst königlich beherrscht.