Im Jahr 1918 veröffentlichte Oswald Spengler sein Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. Es beginnt mit den Worten: „In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.“
Die Resonanz auf das Werk war in der westlichen Welt groß. Vor allem Deutschland war durch den Schock des 1. Weltkrieges empfänglich für Niedergangstimmungen, wie Spengler sie mit seiner These vom vorherbestimmten Untergang der abendländischen Kultur verbreitete. Die Reaktionen auf Spenglers kulturpessimistisches Werk schwankten nach der Veröffentlichung zwischen uneingeschränkter Zustimmung und völliger Ablehnung.
Ähnlich verhält es sich heute, auch wenn der 1880 geborene und 1936 verstorbene Oswald Spengler in der Öffentlichkeit kaum noch bekannt ist. Eine Renaissance erlebte Spenglers Gedankengut zuletzt nachdem Samuel P. Huntington in den 90er Jahren mit seinem Werk „Der Kampf der Kulturen“ Spenglers Vorstellung weitgehend autonomer Kulturkreise wieder aufgriff und in seinem Modell einer neuen Weltordnung verwendete.
Dennoch ist Spenglers Sichtweise kaum vergleichbar mit Huntingtons Vorstellungen, denn beide haben letztlich ein anderes Ziel. Oswald Spengler war nicht daran gelegen, eine zukünftige Weltordnung zu prophezeien. Sein Anliegen war vielmehr, die Methode der Geschichtsschreibung zu revidieren, indem er jenem teleologischen Geschichtsbild, das behauptet, die Menschheit laufe auf ein Ziel zu, an dessen Ende das Paradies oder ein geläuterter Mensch stehe, eine klare Absage erteilt.
Spenglers Ansatz gehört zu den zyklischen Geschichtsvorstellungen, die davon ausgehen, dass die Geschichte nicht linear, d.h. von einem Start- hin zu einem Zielpunkt, verläuft, sondern sich aus einem ständigen Auf und Ab zusammensetzt. Völker und Kulturen entstehen, haben einen Höhepunkt und vergehen letztendlich wieder. So schließt sich immer wieder ein Kreis, in dem ständig dieselben Muster und Stufen durchschritten werden. Die Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende, sondern läuft ewig innerhalb dieser Kreisläufe weiter.
Weltgeschichte ist nach Spengler die Geschichte der großen Kulturen. Sein Geschichtsmodell gründet sich auf die Einteilung der Geschichte in die Geschichte einiger weniger Hochkulturen – Ägypten, Babylon, Indien, China, Arabische Kultur, Antike Kultur und Abendland – und die restliche Geschichte. Letztere ist für Spengler in diesem Rahmen nicht von Bedeutung und findet bei ihm daher keine weitere Erwähnung.
Die genannten Hochkulturen durchlaufen nach seiner Vorstellung bestimmte Stadien, die man in Kurzform durch Geburt, Aufstieg, Blütezeit und Verfall definieren könnte.
Bei Spengler heißt dies: Jede Kultur entsteht urplötzlich, ihr Auftauchen ist rein zufällig und nicht zu erklären. Sie erlebt eine Geburt, kommt zu einem einheitlichen Bewusstsein, das in der Phase vor ihrer Geburt nicht existiert hatte.
Es folgt eine Zeit des Erwachens, des Sich-Bewusst-Werdens, eine Zeit des langsamen Aufstiegs. Allmählich entfaltet sich die Kultur, ein klares Bewusstsein ihrer selbst reift heran, sie entwickelt eine eigene Religion, eigene Künste, eine eigene Wissenschaft und ist schließlich auf dem Höhepunkt ihrer Gestaltungskraft. Doch kaum hat sie diesen Höhepunkt erreicht, ist er auch schon fast wieder überschritten. Die Kultur beginnt zu altern, sie wird künstlich, verliert ihre ursprüngliche Schöpfungskraft, wird schwächer und schwächer. Zwar erlebt sie häufig in dieser Zeit des Niedergangs noch einmal eine Größe von ungeahntem Ausmaß, doch sind gerade diese Imperien ein deutliches Zeichen dafür, dass die Kultur innerlich zerfällt. Am Ende steht der völlige Zerfall der Kultur, der oft nach außen hin lange nicht sichtbar ist, sich nach innen aber unaufhörlich fortsetzt. Schließlich erstarrt die Kultur, nimmt ihre endgültige, versteinerte Gestalt an, die sie aus eigener Kraft nicht mehr verändern kann. Der Wiedereintritt in die geschichtslose Zeit ist somit vollzogen. Was folgt, ist wieder das zoologische Auf und Ab des primitiven Zeitalters, mag es sich auch in noch so durchgeistigte religiöse, philosophische und vor allem politische Formen hüllen.
Die Lebensdauer einer Hochkultur wird von Spengler auf einen Zeitraum von tausend Jahren beziffert, in dem alle Stufen der Entwicklung durchlaufen werden. Diese tausend Jahre sind als Richtwert zu verstehen, der um einige hundert Jahre unter- oder überschritten werden kann.
Ein zentraler Punkt in Spenglers Terminologie liegt in der Unterscheidung, die er zwischen Kultur und Zivilisation anstellt. Kultur kann zunächst im allgemeinen Sinne von Hochkultur verstanden werden. Innerhalb einer Hochkultur aber bezeichnet der Begriff Kultur nach Spengler nur jene Phasen des Erwachsens, Aufsteigens bis hin zur BIütezeit. Sobald das Wesen einer Hochkultur ihren Zenit überschritten hat, wird sie zur Zivilisation. Dieses Stadium kennzeichnet sich beispielsweise durch die Künstlichkeit von Architektur und Kunst, durch das Anwachsen der großen Weltstädte und durch generelle Dekadenzerscheinungen, die mit dem breitflächigen Absterben des ursprünglichen Lebensgeistes der Kultur verbunden sind. Spengler schreibt somit der Kulturphase alles positive innerhalb der Entwicklung einer Hochkultur zu, während die Zivilisationsphase für ihn mit den negativen Verfallserscheinungen verknüpft ist.
Nachdem alle Hochkulturen dieselben Phasen – von Geburt über Aufstieg, Blüte, Reife bis hin zum Verfall – durchleben, ist es möglich, alle diese Kulturen sinnbildlich übereinander zu legen, auch wenn sie in der geschichtlichen Abfolge alle nacheinander stattgefunden haben. In Spenglers Zeitmodell, in dem das Jahr 0 immer die Geburt der Hochkultur und das Jahr 1000 stets mit ihrem Ende gleichzusetzen ist, verlaufen die Kulturen gleichzeitig bzw. finden die verschiedenen Phasen – z.B. das Entstehen der großen Religion, deren Reformation, der Höhepunkt in den bildenden Künsten, der Übergang zur Zivilisation, schließlich der Verfall – immer zum gleichen Zeitpunkt statt und besitzen somit eine genau entsprechende Bedeutung.
Spengler spricht deshalb von geschichtlichen Ereignissen als Symbolen. Denn dass die große Religion, die immer am Beginn einer Hochkultur steht, sich hier als Christentum und dort als Hinduismus darstellt, ist rein zufäIlig und ein Ausdruck der jeweiligen Kultur. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ heißt es gleich mehrmals im Untergang des Abendlandes.
Das Wesen und der Charakter einer jeweiligen Hochkultur werden nach Spengler von ihrer Kulturseele bestimmt. In dieser Seele ist darüber hinaus angelegt, welche Ausdrucksformen die Kultur wählen wird. Diese Ausdrucksformen machen das Einzigartige einer jeden Kultur aus, das sie von jeder anderen immer unterscheiden wird. Alles, was überhaupt geworden ist, alles, was die Kultur im Laufe ihres Lebens erzeugt hat, ist Ausdruck einer Kulturseele.
Aufgrund der Gleichzeitigkeit ereignet sich in den Hochkulturen quasi immer wieder dasselbe, das nur dadurch verschiedenartig wirkt, da es jeweils Ausdruck einer bestimmten Kulturseele ist, die ihm ihre einzigartige Prägung verleiht. Jede Erscheinung innerhalb einer Kultur – z.B. Stile in Architektur und Kunst, Philosophien, Staatsformen, Stadtbilder etc. – sind für sie einzigartig und neu, innerhalb der Menschheitsgeschichte aber nur Symbole für das immergleiche. Das Ende einer Kultur ist daher dann erreicht, wenn sie ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hat, wenn ihre Seele sich vollkommen verwirklicht und vollendet hat.
Das Sterben einer Kultur beginnt im Moment des Überschreitens der Blüte und damit des Höhepunktes. Sie wird zur Zivilisation. Was noch bleibt, sind die Jahrhunderte des langsamen Verfalls, der unausweichlich zum Erstarren der Kultur und zu ihrem Tod führt.
Spengler beschreibt das Individuum in der Zivilisationsphase als den innerlich erstorbenen Menschen der späten Städte, seien es Babylon und Alexandria oder Paris und Berlin, dessen ganze geistige Existenz sich auf das Kausalitätsprinzip gründet. Wissenschaft und Atheismus sind die großen Themen jeder beginnenden Zivilisation. Bedeutsam ist der Rationalismus, der Verstand, der alles überprüfen und nichts mehr glauben will.
Die Kunst wird künstlich, die Architektur wird form- und maßlos. Die alten Formen der Blütezeit werden plötzlich als Zwang empfunden, die man durchbrechen muss. Was nun stattfindet sind nur mehr Moden, pure Abwechslung, die für Entwicklung gehalten wird. Alte Stile werden wiederbelebt und verschmolzen, aber es entsteht nichts großes Neues. Das letzte Ergebnis, so Spengler, ist ein feststehender, unermüdlich kopierter Formenschatz.
Mit dem Fortschreiten der Zivilisationsphase nimmt auch die Macht der Wissenschaft ein Ende, eingeleitet durch eine Stimmung des Skeptizismus. In ihm kommen einer Kultur zum ersten Mal wieder Zweifel an den Möglichkeiten und dem Wahrheitsgehalt der Wissenschaft. Es zeigt sich für Spengler, dass Wissenschaft ein spätes und vorübergehendes Schauspiel ist.
Das Abendland erlebte nach Spengler den Höhepunkt seiner Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Spengler räumt allerdings ein, dass die neuzeitliche Wissenschaft durchaus etwas besonderes sei, das es noch in keiner bisherigen Kultur gegeben habe. Dennoch sei auch sie nur eine vorübergehende Erscheinung. Spengler prophezeit, dass Wissenschaft und Technik nur solange aufrecht erhalten, weiterentwickelt und von Nutzen sein werden, solange es Menschen gibt, die ihre Funktionsweise verstehen. Nimmt die Zahl dieser Menschen allmählich ab – wie es die von ihm in Aussicht gestellte zunehmende Kinderlosigkeit der Zivilisationsmenschen zwangsläufig mit sich bringen wird – so wird auch die von ihnen aufrecht erhaltene Technik irgendwann verschwunden sein.
Kennzeichnend für den Niedergang einer Hochkultur ist nach Spengler weiterhin die Erscheinung der zweiten Religiosität, die mit der schrittweisen Abkehr von der rationalen Wissenschaft einhergeht. Je mehr also die Wissenschaft ihren Sinn für die Menschen verliert, desto mehr verfällt jene Kulturseele wieder einem ursprünglichen Glauben, wie sie ihn ganz zu Beginn hatte. Die zweite Religiosität ist der ersten sehr ähnlich, nur dass sie diesmal nicht die Geburt, sondern den Tod einer Hochkultur bedeutet.
Das besondere dieser zweiten Religiosität ist ihre Massenwirkung bzw. die Tatsache, dass sie von unten kommt. Die Massen beginnen wieder zu glauben, zu beten. Die zweite Religiosität manifestiert sich in der Form von zahlreichen Sekten und Kulten, die immer mehr Zulauf finden, und der Verbreitung von esoterischen Moden.
Mit der zweiten Religiosität einher geht der Cäsarismus, benannt nach seinem klassischen Vertreter in der antiken Kultur. Es ist der Ausgang und das Ende der Demokratie, jener Staatsform, die kennzeichnend ist für späte Zivilisationen. Diese Demokratie hatte sich ursprünglich von der Herrschaft von Ständen, einem Zeitalter des Absolutismus über die allmähliche Herausbildung von Parteien gebildet. Doch umfasst das Zeitalter der echten Parteienherrschaft nach Spengler kaum zwei Jahrhunderte und ist für das Abendland seit dem 1. Weltkrieg bereits in vollem Niedergang begriffen.
Demokratie ist für Spengler eine bloße Theorie, die darüber hinweg täuscht, dass es in ihr ein anderes Mittel gibt, dass darüber entscheidet, wer wirklich die Macht hat – denn das Volk hat sie sicher nicht. Dieses Mittel ist das Geld. Geld als ein von Gütern abgelöster Begriff ist ein weiteres Symptom einer niedergehenden Kulturseele. Jede ausgehende Zivilisation ist eine Diktatur des Geldes, jenem Wert, dem sich jetzt alles unterwirft. Geld bedeutet für Spengler den entscheidenden und einzigen echten Machtfaktor in jeder Demokratie.
Im Hintergrund entwickelt sich noch etwas anderes: Hinter den Parteien, welche die Fassade von der Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhalten, verlagert sich die wahre Macht längst in immer privatere Kreise. Die Parteien selbst lösen sich langsam und zunächst unbemerkt in persönliche Gefolgschaften auf. Sie sind nur noch scheinbar Mittelpunkt der entscheidenden Aktionen, die nach unten die Illusion einer Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhalten.
Was nun erscheint, ist der Cäsarismus. Es ist jene Regierungsart, welche trotz aller staatsrechtlichen Formen in ihrem inneren Wesen wieder gänzlich formlos ist. Es ist die Herrschaft eines Einzelnen oder einer Gruppe, welche die Macht in Händen halten, während der Bevölkerung weiterhin Demokratie suggeriert wird. Alle gesellschaftlichen Institutionen sind – trotz ihrer außenwirksamen Beibehaltung – letztendlich ohne Sinn und Gewicht. Bedeutung hat nur die ganz persönliche Gewalt, welche der Cäsar oder an seiner Stelle irgend jemand durch seine Fähigkeiten ausübt.
Der Cäsarismus beendet die Diktatur des Geldes und gleichzeitig die Demokratie. Es ist ebenso die Rückkehr einer jeden Kultur ins Geschichtslose. Diese Heraufkunft formloser Gewalten bedeutet gleichzeitig die Heraufkunft von Zufallsregimentern, deren Bedeutung und Erfolg davon abhängt, ob sich ein geeigneter Nachfolger findet oder nicht.
Aber der Cäsarismus hat noch eine andere Dimension; denn mit ihm ist der Eintritt in das von Spengler sogenannte Zeitalter der Riesenkämpfe vollzogen, in dem die Zahl der Staaten auf einige wenige Großmächte geschrumpft ist, die sich eine dichte Folge von ungeheuren Kriegen und Revolutionen liefern. Angeführt werden all diese Kriege und Revolutionen von Einzelführern, jenen Cäsaren, und dienen dem rein persönlichen Machtstreben.
Diese Reihe von Kriegen hat nach Spengler für das Abendland mit Napoleon begonnen und im 1. Weltkrieg, der gerade zu Ende ging, als Der Untergang des Abendlandes erschien, seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden. Die Tatsache, dass das 19. Jahrhundert verglichen mit Spenglers Beschreibungen relativ wenige solcher vernichtenden Kriege hervorgebracht hat, erklärt der Autor, indem er auf die angestrengte Diplomatie und die stehenden, jederzeit bereiten Heere jenes Jahrhunderts verweist. Dies beweise, dass man ständig zum Krieg bereit gewesen wäre und nur die Angst vor den Folgen ihn immer noch im letzten Moment verhindert habe. Im 20. Jahrhundert – prognostiziert Spengler – werde diese Entwicklung ihren endgültigen Höhepunkt finden und der Zeitpunkt kommen, an dem die Diplomatie irgendwann nicht mehr greifen wird, denn die existierenden Heere wollen dem Zweck dienen, für den sie geschaffen wurden. Nämlich dem Krieg.
Was folgen wird, prophezeit Spengler, ist die typische Geschichte einer ausgereiften Zivilisation, in welcher einzelne Völker um die militärische Vorherrschaft ringen werden. Dass gerade in dieser Zeit die Vorstellungen von Weltfrieden und Völkerversöhnung aufkeimen, ist laut Spengler kein Widerspruch. Denn die Abkehr der großen Mehrheit vom Krieg impliziert aber auch die uneingestandene Bereitschaft, die Beute der anderen zu werden, die nicht auf das Mittel des Krieges verzichten wollen. So erklärt es sich, dass die großen Kulturen in ihrem Endstadium nicht selten zum Opfer von immer wechselnden Fremdherrschaften wurden.
Doch Cäsarismus und Zivilisation bedeuten auch Imperialismus – Imperialismus als unendliche Expansion. Es ist gleichsam eine rein persönliche Herrschaft über Gebiete, deren Einheit nicht nationaler oder rechtlicher Natur ist, sondern nur militärischer und verwaltungstechnischer Natur. Imperialismus ist nach Spengler reine Zivilisation. Der kultivierte Mensch richtet seine Energie nach innen, der zivilisierte nach außen. Doch es sind erstarrte Imperien, deren innere Kraft längst erloschen ist und die ihre Macht höchstens aus einer rein militärischen Überlegenheit ableiten. Im Inneren zerfallen sie langsam aber sicher, was sich am Verfall der Wissenschaften, der Rückkehr der Bevölkerung zu alten Mythen und Religionen, der Kinderlosigkeit und ähnlichen Symptomen offenbart. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Kultur Opfer von anderen wird, Barbaren etwa oder jungen Völkern einer gerade erwachenden Kulturseele.
Und so schließt sich der Kreis. Eine aus dem Geschichtslosen urplötzlich geborene Kultur erfüllt sich, indem sie ihre eigenen Künste, Stile, Wissenschaften, Kriege, Persönlichkeiten hervorbringt, bis ihre Gestaltungskraft sich langsam erschöpft und schließlich erlöscht. Die Kultur erstarrt, ihre Formen hören auf, sich zu entwickeln und sie kehrt in den geschichtslosen Zustand zurück, aus dem sie einst erwachsen ist. Diesem Schicksal wird nach Spengler auch die abendländische bzw. die westliche Kultur nicht entgehen können.
Lieber Leser, ich hoffe, Sie konnten Ihre Aufmerksamkeit bis hier hin aufrecht erhalten. Ich gebe zu, Spenglers Gedankenwelt ist gewöhnungsbedürftig. Aber ich meine auch, dass sie durchaus beachtenswert ist, und die eigene Sichtweise der Dinge zu erweitern vermag. Lässt man sich auf Spengler ein, so ist die Einordnung der politischen Gegenwart in das Raster seiner Kulturzyklentheorie höchst interessant. Das Abendland und damit unsere westliche Welt nicht als Krone der bisherigen Schöpfungsgeschichte anzusehen, sondern nur als eine Etappe bzw. als ein Stadium im Lauf der Geschichte, ist eine besondere – für viele ungewöhnliche – Blickrichtung.
Es gibt viel gegen Spengler vorzubringen, und tatsächlich wurde mit Kritik zu keiner Zeit gespart. Tatsächlich haben seine geschichtlichen Gleichzeitigkeiten einen stark spekulativen Charakter, vieles mag man intuitiv bejahen, aber rational zugänglich sind viele Behauptungen nicht. Auch die Frage, wie er, Oswald Spengler, als Vertreter der abendländischen Kultur überhaupt gültige Aussagen über andere Kulturen und ihre Seele treffen kann, wenn es doch nach seiner eigenen Definition unmöglich ist, eine andere Kultur als die eigene wirklich zu verstehen, bleibt unbeantwortet.
Welchen Bezug hat Spenglers Ansatz nun aber zur Freimaurerei (FM)?
In unserer jetzigen abendländischen Hochkultur stellt die FM zweifelsohne eine Subkultur mit ihren eigenen Werten und Normen dar. Was für eine Hochkultur gilt, muss demnach auch für ihre Subkulturen gelten. So gesehen, müsste der zyklische Ansatz Spenglers seine Entsprechung auch in der FM finden. Eine gedankliche Unterstützung für diese Überlegung habe ich hierbei in einer der letzten Ausgaben des Hanseatischen Logenblattes (Nr. 4, Dezember 2001) gefunden. Insbesondere der Artikel „Die Loge als Oberammergau der Aufklärung – Über das Ende der Freimaurerei und was danach kommt“, setzte sich sehr kritisch mit dem Zustand der FM, der darauf schließen lasse, dass die FM am Ende ihrer Entwicklung angekommen sei, auseinander. Als Belege für die konstatierte Krise der FM führte der Autor, an, dass die zunehmende Umsetzung freimaurerischer Ziele in der modernen Gesellschaft die Freimaurerei als eine Plattform für aufgeklärte Ideen überflüssig gemacht habe. Heute seien alle aufgeklärt, jedenfalls all die, die irgendwie aufklärbar seien.
Ferner müsse gelernt werden, dass das von den Freimaurern stark mitentwickelte Fundament unserer gegenwärtigen Gesellschaft nicht für die Ewigkeit angelegt sei, dass es ein Zeitalter „danach“ geben werde, in dem Humanität, Demokratie, Brüderlichkeit etc. als überholte und altertümliche Begriffe und Werte angesehen würden.
Eine unausgesprochene Angst vor den neuen Dimensionen der Zukunft lasse verstärkt an alten Werten und Weltsichten festklammern und verhindere, dass alte erfolgreiche Werte in Frage gestellt und an den Erfordernissen der Zukunft geprüft werden. Viele Logen seien nicht viel mehr als ein Traditionsbewahrverein von Kleinbürgern, der das überlieferte Brauchtum und Symbolgut pflege und historische Betrachtungen über frühere Inhalte und Bedeutungen anstelle. Die ehedem äußerst fortschrittlichen Ideen der einstmals in den Logen vertretenen Dichter und Denker seien somit zu einem extrem konservativen, entwicklungshemmenden Element geworden.
Vor dem Hintergrund der Spenglerschen Geschichtstheorie drängt sich hier für mich eine Parallele zu der Beschreibung des Überganges von der Kultur- zur Zivilisationsphase auf. Hat der Niedergang für die FM somit unwiderruflich begonnen? Ist es zutreffend, dass wir unsere Inhalte, Themen und Ausdrucksmöglichkeiten tatsächlich erschöpft haben?
Die Einsicht in die Zwangsläufigkeit des Ablaufs der geschichtlichen Entwicklung einer Kultur teile ich nicht. Die größte Schwäche Spenglers liegt für mich in der Vorherbestimmtheit, die er allen Kulturen per se zuschreibt. Ich bin der Auffassung, dass es möglich ist, dem Spenglerschen Geschichtszyklus entgegen zu wirken. Pessimismus oder sogar Fatalismus in der Einschätzung der Zukunft der FM helfen hier nicht.
Ich glaube, dass es gelingen kann, den Übergang zwischen der Kultur- und der Zivilisationsphase aufzuhalten bzw. umzukehren. Für die FM insgesamt bedeutet dies, das Ablegen der inneren Erstarrung und die Öffnung für Neues. Hiermit meine ich nicht, dass die FM ihre hergebrachten Werte der Humanität, der Toleranz und der Brüderlichkeit ablegen, politischer werden oder aber öffentlichkeitswirksame Events zelebrieren sollte.
Die Öffnung für Neues und die Überwindung einer inneren Erstarrung kann aus meiner Sicht recht einfach erreicht werden. Nämlich durch die stetige Aufnahme von neuen Brüdern, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Generationszugehörigkeit und ihrer Alltagserfahrungen zwangsläufig neue Themen und Ausrichtungen in eine jede Loge zu bringen vermögen. Dass hier nur Vertreter des kleinbürgerlichen Lagers in der heutigen FM eine Heimstatt finden können, trifft nur dann zu, wenn die entsprechende Außendarstellung einer Loge diesen Typus von Interessierten gezielt anspricht. Jede Loge bekommt somit die Brüder, die sie verdient.
Sollte es tatsächlich nicht gelingen, neue und innovative Ideen für eine zukünftige Welt aufzunehmen, so teile ich in Anlehnung an Spenglers Zyklentheorie die Auffassung, dass dann insgesamt nicht mehr viel von der FM zu erwarten sein und ein schleichender Niedergang voranschreiten wird.
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Literatur:
Oswald Spengler – Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.- C.H.Beck
Samuel P. Huntington – Kampf der Kulturen – Europa Verlag München