Denk ich an Deutschland, ach…

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Von der Vergangenheitsbewältigung zur Vergangenheitsüberwältigung?
Bekenntnisse aus der Generation der 30jährigen –
Über den schwierigen Umgang mit deutscher Geschichte

Von der Vergangenheitsbewältigung zur Vergangenheitsüberwältigung?
Bekenntnisse aus der Generation der 30jährigen –
Über den schwierigen Umgang mit deutscher Geschichte

Wolfgang Borchert (Fußnote 1)

Das von uns Freimaurern so hochgeschätzte „Erkenne Dich selbst„, liebe Brüder, beinhaltet ein ganzes Paket bedeutsamer und berühmter Fragen:

  • Wer bin ich?
  • Woher komme ich?
  • Was kann ich tun?
  • Nicht zuletzt: Was darf ich hoffen?

Um auf diese Fragen zu stoßen müssen, wir uns nicht unbedingt in eine dunkle Kammer zurückziehen und eine Meditation halten wie einst Descartes. Diese uns bewegenden Fragen werden uns überall gestellt, speziell in unserer Geschichte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die jetzt heranwachsenden Generationen mit der schwierigen Geschichte umgehen, speziell die nunmehr 30jährigen. Ihnen möchte ich heute meine Stimme leihen; natürlich aber spreche ich in allererster Linie nur für mich.

Die heutige Generation der 30jährigen ist nach den 68ern großgeworden, und – hier spreche ich nur für die damals westliche Bundesrepublik – in einem ganz anders gearteten Klima. Unser Deutschlandbild ist geprägt vor allen Dingen von Wohlstand, Liberalität, einer aufkommenden europäischen Identität, einem gewissen „Multikulti“ der Gesellschaft. Wir sind nicht mehr aufgewachsen in einem klassischen Nationalstaatsdenken, unsere Erinnerungen lauten NATO und EU, wenn es weit kommt sogar UNO. Vielleicht wächst in uns eine europaweite Generation auf, die europäisch denkt und die weiß, was sie an der europäischen Kulturvielfalt hat und die sich eine lange Friedensphase wünscht. Gemäß unserer Vision benötigt es nicht die Schwerter Napoleons, Hitlers oder Stalins, die Europa zusammenschmieden, sondern den freien Willen freier europäischer Völker. Verglichen mit dem Europa um 1933 hat ein wunderbarer Meinungswandel stattgefunden. Trotz aller Probleme Europas: Es geht uns besser als je zuvor, und wir haben Anlaß zum Optimismus. Wieviele Jugendliche lernen andere Sprachen, reisen durch Europa und die Welt, leben dort zeitweilig, studieren dort? Als Kindern der 68er geht es uns wunderbar, unser Deutschlandbild könnte ein sehr selbstzufriedenes sein. Dennoch liegt ein deutlicher Schatten auf diesem Bild; wer seine Ursachen nicht miterlebt hat, wünscht vielleicht, ihn zu verdrängen. Kann das wahr gewesen sein, was immer wieder zu lesen ist, was auch diskutiert und in der Schule erarbeitet wird? Ein Teil der Geschichte vor dem Jetzt verunsichert, er ist ja so schmeichelhaft nicht. Es tut sich plötzlich ein Graben auf zwischen sogenannter Hochkultur und hochkultivierter Barbarei; dem Unbedarftem scheint dies in seiner gigantischen Dimension sogar als unglaubwürdig. Dabei ist das doch noch nicht so lange her, oder? Ist dieser Graben nicht so breit, daß ihn niemand überspringen könnte? Der Umgang mit der Vergangenheit macht in gewissem Sinne zunächst hilflos. Und in einem Hang nach menschlicher Bequemlichkeit ist es sicher nur konsequent, würde man dies alles ausblenden. Doch so einfach ist dies nicht, und solchen Trends muß immer wieder neu begegnet werden. Dieses kann nur durch ein aktives „in der Erinnerung behalten“ geschehen, eine Aufgabe, der sich jede Generation zu stellen hat, also auch die meine.

Der radikalen Verdrängung der direkten Nachkriegszeit Westdeutschlands steht ein radikaler Aufklärungsversuch der zweiten prägenden Generation gegenüber, jener der 68er. Als im Grunde dritte Generation nach dem Krieg ist die der 30jährigen nun nicht mehr direkt betroffen und muß sich einen anderen Zugang zur Thematik suchen. Der Vorteil ist dabei ein weniger von Emotionen geprägtes Herangehen, eines ohne Vorwürfe und Vorurteile. Was gesucht ist, sind Lehren aus dem 3. Reich, die Beschäftigung mit der Geschichte kann dabei nicht ausbleiben. Das Hier und Jetzt, all der Wohlstand, selbst der europäische Einigungsprozeß, all dies wurzelt in der zivilisatorischen Katastrophe, die in unserem Lande ausgebrütet wurde.

Bei Voltaire lesen wir: „Ich möchte die Schritte kennen, mit denen die Menschheit von der Barbarei zur Kultur überging.“ Nach dem 3. Reich stellt sich diese Frage mit dem Übergang von einem Terrorstaat in eine, jedenfalls im Westen Deutschlands, stabile Demokratie erneut. Und doch läßt sich Voltaire hier auch umgedreht formulieren: Ich möchte die Schritte kennen, mit denen die Menschheit von der Kultur zur Barbarei überging. Wo aber beginnen wir?

Vertrauen wir auf Immanuel Kant, so ist Aufklärung

„der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“

(Fußnote 2)

Kant setzt damit voraus, daß Aufklärung überhaupt möglich ist, indem der menschliche Verstand die engen Grenzen religiöser und weltlicher Ideologien sprengen kann. Denn erst mit dem Überqueren dieser Grenzen werden wir als Menschen entscheidungsfähig bzw. bestenfalls mündige Bürger. Nun gehört zum Sprengen dieser Grenzen ein unabhängiger Geist, ergo: ein freier Mensch. Freimaurer, meine Brüder, tragen bereits im Namen einen kantischen Imperativ: Denkt frei! Oder mit Kant:

„Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

(Fußnote 3)

Freies Denken meint immer auch, bestehende Tabus, auch gesellschaftliche, zu hinterfragen und zu kritisieren. Zweifellos ist die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit gespickt mit derartigen Tabus. Und heutzutage, im wiedervereinten Deutschland, ist es noch immer nicht auszuschließen, das 3. Reich thematisch ad acta zu legen, die Walser-Debatte bewies dies unlängst. Aufklärung ist also einer der Schlüssel, um den sich auch unsere Generation zu bemühen hat, will sie mit einem schweren Erbe klarkommen. Zunächst stellt sich die Frage, um was es überhaupt geht, wenn wir uns den fatalsten 12 Jahren Deutschlands annähern wollen.

Fast prophetisch lesen sich hier Heinrich Heines Worte von 1844, eine dunkle Ahnung des Dämons, der zur Tat schreitet:

Doch gibt es Höllen, aus deren Haft
Unmöglich jede Befreiung;
Hier hilft kein Beten, ohnmächtig ist hier
Des Welterlösers Verzeihung.

Kennst Du die Hölle des Dante nicht,
Die schrecklichen Terzetten?
Wen hat da der Dichter hineingesperrt,
Den kann kein Gott mehr erretten.

Kein Sieg, kein Heiland erlöst ihn je,
Aus diesen singenden Flammen!
Nimm Dich in Acht, daß wir Dich nicht
Zu solcher Hölle verdammen.

(Fußnote 4)

Nun, auf Dichter wird selten gehört, denn bisweilen ist das Spiel mit dem Feuer reizvoller. Und die menschgemachte Hölle des Auschwitz-Komplexes ist im Ergebnis unvergleichlich grausamer, als es ein Dante hätte beschreiben können (Fußnote 5). In einem berühmtem Buch der Nachkriegszeit wird ein anderer Dichter herangezogen, dessen Held ebenfalls das Spiel mit dem Feuer schätzt. Es ist Homers Odysseus, der dem Leser als erster Intellektueller der Geschichte vorgestellt wird (Fußnote 6). In seinem Wissensdrang läßt sich der Grieche an den Schiffsmast binden und den Gefährten die Ohren verstopfen, damit er alleine den todbringenden Gesang der Sirenen vernehmen kann. Er überlebt das Geschehen wohlbehalten, wie wir wissen, um eine bemerkenswerte Erfahrung bereichert (Fußnote 7). Zugleich dient Odysseus als Beispiel für den Beginn der Aufklärung: sein Wissensdrang ließ ihn bis an die Grenze und darüber hinaus vorstoßen. Auch in Deutschland folgte man dem Gesang der Sirenen und öffnete bereitwillig Pandoras Büchse, die sich mit dunkelstem Unheil über so viele Menschen so vieler Völker ergoß. Von einer aufgeklärten Neugierde läßt sich dabei nicht sprechen, die Fesseln von Humanismus, Christentum und Liberalität waren nicht allzu stark. Vielmehr folgten viele allzu bereitwillig den Verführungskünsten Hitlers. Es schien, als ob mit ihm der von Max Weber angekündigte „charismatische Herrscher“ das Rampenlicht der Weltbühne betreten hatte. Was aber ist hier passiert? Die kantische Aufklärungsidee verpflichtet nachgerade dazu, auch die eigene Geschichte, genau dieses Geschehen zu untersuchen. Hier verbirgt sich ja die Antwort darauf, woher wir kommen. Erst wenn wir dieses wissen, wissen wir, wo unser Platz ist, wissen wir, wohin wir gehen wollen. Die wissenschaftliche Diskussion hat einen Fachbegriff geprägt, der nunmehr gleichberechtigt neben Kindergarten, Heimweh, Weltschmerz und Empfindsamkeit seinen Einzug in die englische Sprache gefunden hat: Vergangenheitsbewältigung. Für viele wird dieser Begriff fehlgedeutet als: Vergangenheitsüberwältigung. Anstatt auch dieses Drama anzunehmen, werden immer wieder Forderungen nach Schlußstrichen laut. Selbst wenn dieser Wunsch nachvollziehbar zu sein scheint, bleibt er ein unsinniger. So attestiert auch der britische Historiker Ian Kershaw, Hitler werde uns Deutschen noch lange verhaftet bleiben (Fußnote 8). Anders gesprochen: Die Geister, die ich rief, die werd ich nimmer los… (Fußnote 9)

Gerade die Walser-Debatte versuchte aber, die Geister nicht loszuwerden, vielmehr sie dem Schweigen anheimzugeben. Gedenken wir an dieser Stelle an Walsers Pendant der Diskussion, Ignaz Bubis, gleichsam Sprachrohr und Seismograph für die Stimmung in deutschen Landen, in Deutschlands intellektuellen Zirkeln. Es muß Warnung genug sein für uns alle, daß er, enttäuscht über die vermeintliche Wirkungslosigkeit seiner Bemühungen zur Aussöhnung, verbittert verstarb. Mehr noch, er ließ sich in Israel bestatten, nicht in seiner Heimat, wo er die Schändung seines Grabes fürchtete. Mußte er dies wirklich fürchten? Ich fürchte, er mußte es – wollten wir ihm unbefangen das Gegenteil garantieren können? Sein Handeln und seine Beweggründe sollten uns zu denken geben, sollten uns auch – beschämen. Ich habe ihm Jahre vor seinem Tode persönlich zuhören dürfen in seinem Werben um Humanität und Freundschaft. Darin war er das, was wir einen Freimaurer ohne Schurz nennen. Die Verbitterung Bubis? ist aber auch Anlaß genug festzustellen, es ist noch einiges zu tun; der ewige Kampf gegen Vorurteil und Dummheit kann nicht gewonnen werden, will aber geführt sein. Antisemitismus, so Horckheimer und Adorno, ist immer auch eine Krise der Aufklärung. Überwunden ist sie offenbar noch nicht.

Meine Generation kann sicher zu Recht sagen, „die Gnade der späten Geburt“ (Kohl) erfahren zu haben – was hätten wir getan in dieser Zeit? Schließlich ist es leicht, das Verhalten anderer in einer Diktatur zu verurteilen, solange man selbst nicht betroffen ist. Um diese Frage kommen wir gerade als freie Menschen nicht herum. Nicht zuletzt ist das 3. Reich aus einer freien Gesellschaft heraus entstanden, wenngleich einer aus vielen Gründen heraus schwachen. Wären wir in das innere Exil gegangen in stiller Ohnmacht, wie so viele? In das äußere, wie es etwa Willi Brandt und Thomas Mann taten? Wären wir als Opportunisten geendet wie die zahllosen scheinbaren Nutznießer des NS-Staates? Als Verfolgte wie Anne Frank, weil wir vermeintlich „anders“ waren? Oder wären wir lieber auf gefahrvolle Art und Weise anständig geblieben wie die Mitglieder der Weißen Rose, die dafür mit dem Leben zahlten? Dabei hatte diese Jugendgruppe doch nur ausgesprochen, was viele nicht einmal zu denken wagten: Seht her, passieren nicht überall Ungerechtigkeiten, warum sagt ihr nichts? Ihr für sie tödliches Credo lautete:

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt. Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist!“

(Fußnote 10)

Nur das Gewissen eines einzelnen freien Menschen, Hans-Georg Elsers, brachte Hitler noch vor dessen schrecklichsten Untaten in ernsthafte Bedrängnis, wäre denn das Attentat im Münchner Bürgerbräukeller gelungen. Die Wahl zwischen Anpassung, Andienung, Unauffälligkeit oder Widerstand in einer Diktatur ist keine, die wir uns wünschen sollten, viele indes hatten sie von Anfang an nicht (Fußnote 11).

Das Glück, diese Fragen nur hypothetisch stellen zu können, macht uns aber auch so frei, als nicht mehr direkt Betroffene das Geschehen quasi aus sicherer Distanz zu betrachten. Große Emotionen oder Vorwürfe an die Beteiligten müssen wir nicht mehr aufbringen. Dies wurde nicht zuletzt auch von den 68ern thematisiert. Von daher können wir uns der Geschichte mit aufrechterem Rücken und vor allem unbefangener stellen, als die Generationen vor uns. Schuld und Vergebung können nur und ausschließlich die Betroffenen untereinander erteilen. Die heutige Generation befreit dies nicht davon, sich dem Erbe dieser Zeit zu stellen. Bedenkt man aber, daß aus einem waffenstarrenden Nazideutschland eines der vielleicht aufgeschlossensten Länder Europas werden konnte – Hut ab.

Am wichtigsten scheinen mir die Lehren aus dem „1000jährigem Reich“ zu sein. Denn was könnten wir aus der Vergangenheit lernen, was ausgerechnet aus der gigantischen Katastrophe, in die wir selbst uns hineinbegaben, die wir gewissermaßen mitzuverantworten haben? Vielleicht dieses: Die eindringliche Frage und die Warnung an alle folgenden Generationen: Wohin wollt Ihr gehen ?

Ich will in aller Kürze nur auf einige wenige mögliche Lehren eingehen. So präsentiert sich uns das 3. Reich als ein Abbild über die Verführbarkeit des Menschen in ihrer furchterregendsten Konsequenz. Dadurch wird es zum jederzeit aktuellen Lehrbuch für alle Menschen in aller Zukunft und es ist ein Aufruf zum Festhalten der Freiheit. Von daher ist die Prognose sicher nicht gewagt, daß es auch weiter neue Diktatoren und Despoten geben wird, daß Freiheit sich irgendwo in ihr Gegenteil umkehrt. Dabei haben sich die subtilen Möglichkeiten zur Manipulation zwischenzeitlich weiter vervollkommnet, während sich der Mensch mit seinen Schwächen treu bleibt.

Die nächste Lehre ist die vom Mißbrauch und vom Mißverständnis der Utopien. „Utopia“, nach Thomas More benannt als das Nirgendland, beansprucht eben nicht die Realisierung, sondern das Abgleichen mit der Wirklichkeit: Beide, Utopia und Wirklichkeit haben Mängel. Die sich anschließende Frage ist die, wie wir die Wirklichkeit verbessern, nicht aber wie wir sie in eine verwirklichte Utopie umwandeln. Dennoch können Utopien immer auch beliebig gedeutet werden. Ein gutes Beispiel ist die Pervertierung platonischer Ideale im 3. Reich. In seinem Staat schafft Platon ein streitbares Staatsmodell, an dem es sich sehr gut reiben läßt. Teil seines Modells ist die Analogie des menschlichen Körpers mit dem Staat selbst: Der Staat braucht kräftige Arme, Soldaten und Handwerker, er benötigt Organe, die Verwaltung, er benötigt einen Kopf, den Philosophenkönig, der alleine in der Lage ist, den Staat zu lenken. Wir wollen Platon hier nicht weiter diskutieren, aber interessant ist die weiterführende Interpretation dieses Gedankens durch die Nazis: Sie reden von einem Volkskörper, der entweder gesund oder krank sein kann. Wenn er krank ist, so ihr Argument, dann gibt es Krankheitserreger, die nicht dem Volkskörper selbst angehören können; natürlich wissen wir, worauf dies hinausläuft. All die vermeintlichen „Fremdkörper im Volk“ werden von daher von der Last des Menschseins befreit. Das Menschsein wird ihnen abgesprochen, mithin das Recht auf Leben ebenfalls (!) – man möge sich dies in Erinnerung rufen!

Goldhagen berichtet in seinem Buch von Hitlers willfährigen Vollstreckern von einem Hamburger Polizeibataillon, alles normale, unbescholtene Bürger und Familienväter, welches in Polen tagelang Juden exekutiert, immer in der Vergewisserung, es sei a) erlaubt und befohlen und b) handele es sich doch nicht um Menschen. Nachvollziehbar wird dieses nicht. Dennoch können wir daraus lernen: Es ist möglich, normale Menschen in Killer zu verwandeln, es ist in einer sogenannten Kulturnation möglich, es wird noch heute praktiziert (glücklicherweise nicht in Deutschland), und es ist sogar in der Zukunft möglich. Aus pervertierten Utopien und Ideologien heraus haben die Nazis das Tier im Menschen beschworen – wir haben erlebt, was geschehen kann und müssen uns fragen, wie wir damit umgehen, wie wir solches verhindern können.

Eine andere bedeutende Erfahrung ist die, wie sich ein freies Land in eine Diktatur verwandeln konnte. Alleine diese Analyse ist es wert, wieder und wieder geführt und in die Öffentlichkeit getragen zu werden. Der fließende Übergang einer jungen Weimarer Demokratie hin in die Anarchie und die Diktatur ist ein Lehrbuchbeispiel für die Gefährdungen instabiler Staaten, wie sie bereits Aristoteles beschreibt (Fußnote 12). Zugleich ist es einprägsam für ein bedeutsames Merkmal des antiken Kreislaufs der Verfassungen, in dem sich Menschen in unruhigen Zeiten nach einem starken Mann sehnen. Die Historiker Haffner, Fest und Kershaw führen viele Gründe für das Aufkommen des 3. Reiches auf, auf sie sei diesbezüglich verwiesen. Die Anfälligkeit der Freiheit für die Diktatur ist eines der Momente, die auch wir Europäer immer im Hinterkopf haben müssen.

Wir dürfen also hoffen, einiges gelernt zu haben – ich bin mir sicher, wir haben es. Damit geben wir den ungezählten Opfern einen einzigen Sinn, der nicht von Größenwahn, Chauvinismus und Rassismus geprägt ist. Hilfreich ist hierbei der Wunsch Sophie Scholls von der Weißen Rose, ein Motto des Franzosen Jacques Maritain:

„Il faut avoir l?esprit dur et le couer doux“ – Wir brauchen einen unbeugsamen Geist und ein fühlendes Herz.

(Fußnote 13)

Was können wir tun? Graf Lambsdorff hat sich einer Sisyphusaufgabe gestellt mit seinem Versuch, eines der letzten Kapitel der Kriegsschuld abzutragen, wofür ihm aufrichtiger Respekt gilt. Sein Bemühen wirft zugleich die zweite, die ambivalente Seite Nachkriegsdeutschlands auf: Warum erst jetzt? Die bemerkenswert traurige Antwort lautet: Die betroffenen Generationen sind nicht mehr am Ruder. Die Schuld wird von denen getragen, die sich zur deutschen Geschichte bekennen, die diese Zeit zugleich nicht persönlich erlebt haben. Fernerhin ist das Geschehen erst nach amerikanischen Klagen möglich, in denen sich genug kleine Stimmen zu einer mächtigen vereinen. Natürlich gibt es so etwas wie moralische Schuld. Nur: Warum muß man uns erst verklagen? Warum sind es nicht wir Deutsche, die den Schritt auf damalige Opfer zugehen. In anderen Fällen haben wir dies getan. Wichtigstes Symbol war hierfür sicher der Brandtsche Kniefall in Warschau. Was aber können wir heutzutage tun?

Spätestens jetzt erlaube ich mir, etwas persönlicher zu werden und die deutsche Geschichte mit der des hiesigen Logenhauses und der meinen zu verbinden. Das Datum meiner Aufnahme in die Loge „Am Rauhen Stein“ schmeichelt mir als geschichtsbewußten Bürger: Der 09.11. Wie wir wissen, spiegeln nur wenige Daten Tragik und Glück der Deutschen wider wie dieser Tag. 1918 dankt der Kaiser ab, wenn auch Jahre zu spät. 1989 freut sich das Volk über den Mauerfall. Und 1938 fletscht das Dritte Reich offen die Zähne und zelebriert eine Judenjagd, die Kristallnacht. Ein vergleichsweise harmloses Ereignis, verglichen mit dem, was noch kommen sollte – dennoch eine deutliche Warnung an alle, die bis dahin noch an das Gute in den Nazis glauben wollten. Es ist die Nacht, in der nicht weit von unserem Logenhaus entfernt die Synagoge brennt, schließlich war dieses Viertel damals von vielen Juden bewohnt. Nach Auflösung der Hamburger Freimaurerei fand auch dieses Gebäude eine neue Verwendung. Die SS zog ein, jeglicher Humanismus zog aus. Aus diesen Räumlichkeiten heraus organisierte man die Deportation Hamburger Juden. Nur ein kleiner Gedenkstein erinnert daran, daß der Platz vor der Loge „Platz der jüdischen Deportierten“ genannt wird. Von der Synagoge existiert nur noch ein Grundriß, an ihre Stelle ist ein Bunker getreten. Sollten wir dies im Rahmen einer Schlußstrichdebatte vergessen wollen? Der liberale Geist der Hamburger Freimaurerei wich gezwungenermaßen einer kompromißlosen und menschenfeindlichen Ideologie. Daher sollten wir froh sein, daß wir heutzutage und auch heute abend die Möglichkeit haben, dem Geist des Terrors in Freiheit in unserem wiederbeseelten Tempel entgegenzutreten. Im Grunde verbindet doch gerade die Hamburger Maurerei vieles mit dem Judentum. Wie progressiv waren unsere maurerischen Vorgänger, als sie im letzten Jahrhundert demonstrativ auch Juden in die Logen aufnahmen. Diesen zweifellos seit langem um Hamburg verdienten Bürgern standen noch nicht einmal die normalen Bürgerrechte offen. Damit war Hamburg eine wichtige Botschaft für die jüdische Emanzipation in Deutschland. Der Geschichte folgend blieb nicht mehr viel übrig von den zahlreichen Hamburgern jüdischen Glaubens; wie überhaupt Deutschland einen Verlust an herausragenden Menschen zu tragen hatte. Obwohl bei weitem kleinere Gemeinden habend, ist Deutschland mittlerweile wieder das Land mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde Europas (Fußnote 14). Dennoch müssen wir stutzig werden über den Antisemitismus, der immer wieder auch unter sogenannten klugen Köpfen zu finden ist. Mit Bestürzung lese ich in der ZEIT die Worte eines jüdischen Intellektuellen:

„Keine Angst, wir kommen nicht zurück.“

(Fußnote 15)

Warum ist dem noch heute so? Warum laden wir nicht diejenigen wieder ein, die wir vertrieben haben? Warum muß man uns verklagen, um eine Schuld abzutragen? Mehr als zehn Jahre diskutierten wir über das Berliner Holocaust-Denkmal. An der widererrichteten Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße steht sinngemäß: „Den Deutschen in ewiger Erinnerung an ihre Taten.“ Warum müssen wir uns bitten lassen, uns zu erinnern? Warum tun wir selbst uns so schwer damit, dies aus eigenem Antrieb zu tun? Ich behaupte, es ist ein Zeichen von Stärke, selbst positive Zeichen zu setzen. Aber welche?

Wenn bei uns nahe des Tempels die Synagogen brennen, wenn aus ihm heraus Hamburg eine gewaltige Wunde geschlagen wird, wenn aus ihm heraus unsere damaligen Mitbürger und Nachbarn, Kollegen und Freunde nach Auschwitz geschickt werden, wenn wir die Überlebenden des Holocaust fünfzig Jahre lang nicht sehen wollen, weil sie für uns ein Spiegelbild unserer Schande und Taten sind, dann gibt es auf die Frage, was können wir tun, nur eine Antwort: Reißen wir den Nazi-Bunker nieder, der nahe dem Synagogenplatz steht und gravieren seinen Grundriß in den Boden. Bauen wir Hamburger die Synagoge wieder auf nach den Originalplänen und schenken sie der Hamburger jüdischen Gemeinde respektive allen Hamburger Verfolgten. Laden wir diejenigen nach Hamburg ein, deren Vorfahren wir vertrieben haben, und sagen ihnen: Auch ihr seid ein Teil von uns. Jenseits bloßer Lippenbekenntnisse und Lichterketten sind wir Hamburger es, die sich zu ihrer Geschichte bekennen, ohne wenn und aber, mit einem Symbol gemauert aus Stein. Steht nicht auch das heutige Johannisfest unter dem Symbol der Rosen, somit unter dem der Liebe?

Wenn wir hinaufblicken in den symbolischen Himmel über uns, so kann auch dies uns an Kants Ausspruch über seine Idee von Glück erinnern, der an seinem Grabstein verewigt ist: „Den gestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Dieser Tempel hat die SS überlebt und ein anderer Geist ihren Ungeist bezwungen. Bezwingen auch wir die Fesseln unserer Geschichte mit diesem kantischen Wunsch und dem Gedanken an unsere Möglichkeit, etwas zu tun. Und wie dem so ist mit Gedanken, sind sie einmal in der Welt, kann sie nichts und niemand wieder einfangen.

Das Dritte Reich ist gewissermaßen Vater der modernen Bundesrepublik, zugleich ein Vater Europas. Ein Rabenvater, zweifellos. Dennoch können wir seine Existenz nicht leugnen. Im Gegenteil, wir müssen uns um Verständnis bemühen, denn das Dunkle jener Zeit ist nicht aus der Welt. Schweigen ist zuletzt die wichtigste Waffe der Diktatoren. Gerade unsere Geschichte präsentiert sich uns als ein besonders rauher Stein, an dem man sich fürchterliche Wunden schlagen kann. Freilich sollten nicht wir alleine uns damit beschäftigen; lernen sollten alle freien Menschen aus unserer Geschichte, wie schnell man seiner Freiheit und seiner Würde verlustig gehen kann – und seiner Menschlichkeit.

Vielleicht ließe sich Erasmus von Rotterdam zustimmen, der den Nationalismus als einen Fluch der Menschheit betrachtet. Er setzt dem eine liberalere Idee entgegen, die uns modernen Europäern fast bekannt vorkommt: „Ich wünsche Weltbürger oder besser Nichtbürger bei allen zu sein.“ (Fußnote 16) Für meine Generation ist das ein wunderbares Motto. Dennoch müssen wir den Spagat beherrschen zwischen einer dunklen Vergangenheit und dem Jetzt. Dies geht nur durch ein Bekenntnis zur Geschichte. Daran wird ein weiteres Wesensmerkmal deutlich, welches die heutige Generation hoffentlich kennzeichnet: Sie beschäftigt sich differenziert mit dem Bau eines Hauses Europa und wägt das Pro mit dem Contra ab. Anstelle einer fanatischen Ideologie tritt ein gesunder Pragmatismus; zu tun gibt es noch vieles. Und anstelle einer gewaltsamen Umwälzung wächst alles in einem für alle Bürger überschaubarem Tempo. Im günstigsten Falle betrachten wir uns als Europäer mit jeweils eigenen kulturellen Identitäten. Das alles klingt doch so schlecht nicht, oder?

Die Generation der heute 30jährigen kann hoffen, denn die Zukunft ist offen. Ein Ende der Geschichte wird derzeit nicht gepredigt. Nach den von mir skizzierten Gedanken wird zudem die Geschichte zu einer Herausforderung für uns alle, zu einem rauhem Stein. Im Falle der deutschen Geschichte: Ein besonders rauher.

Menschen sollten sich immer die Hände reichen, miteinander reden anstatt übereinander. Wir haben hier die Chance, ein Beispiel zu setzen, das dauerhafter ist als leichtfertig dahingesprochene Worte, als Lichterketten und andere Gewissensberuhigungen. Das Symbol eines in Stein gebauten Tempels der Menschlichkeit wird eine Leuchtkraft haben, welche der in diesem Tempel am heutigem Johannisfest entspricht. Im besten Falle wird er selbst zum Vorbild für andere.

Wenn wir auf diese Art und Weise zumindestens in unserer Stadt zu einer Verbesserung des Wir-Gefühls beitragen können, indem wir uns unserer Geschichte stellen und alle Hamburger zur Teilhabe einladen, dann ist das schon viel! Dann ende ich, wie ich begonnen habe, mit Hamburg, mit Wolfgang Borchert:


„Über uns der Himmel. Unter uns die Elbe. Und wir: Mitten drin!“

(Fußnote 17)