Kein Wort ist in der neuesten Zeit so oft ausgesprochen worden, als das Wort Freiheit, aber man kann ohne Übertreibung behaupten, daß unter hundert, die es ausgesprochen, kaum einer ist, der weiß was das sei. Viele meinen, weil wir unter der vorigen Regierung nicht frei waren, so gelte jetzt alles nicht mehr, was früher gegolten hat. Andere meinen, die Freiheit bestehe darin, daß man alles tun dürfe, was man nur wolle und daß, wo früher Ausgelassenheit, Trunkenheit, Geschrei, Verwegenheit und dergleichen als schlecht und verachtungswürdig betrachtet wurden, dies jetzt nicht mehr der Fall sei und daß der, der recht lärmt und sich ungebärdig stellte, der Allerfreieste sei. Wieder andere glaubten, jetzt dürfe man gar keine Begierde mehr unterdrücken, denn sonst sei man ja gar nicht frei, und manche, die sich gar keinen Begriff machen konnten, meinten zuletzt, die Freiheit sei etwas, was uns alle überhaupt glücklich mache, und jetzt sei es gut, man brauche sich nicht weiter umzuschauen. Daher meinten sie, wenn einer keine Arbeit habe, so sei ein anderer schuldig, sie ihm zu geben, und wenn keine vorhanden sei, so müsse er ihm den Unterhalt auch ohne Arbeit geben. Ja, viele sagten, die Besitzer hätten nun lange genug besessen, und da müßten jetzt die anderen wohlhabend werden, die es bisher nicht waren. Mehrere glaubten endlich sogar, daß die Freiheit völlige Gleichheit sei und daß keiner dem anderen mehr Achtung schuldig sei, daß Tugend, Bildung und Vernunft den einen Menschen nicht besser mache als den anderen, der sie nicht hat, ja die Verständigeren und Gebildeteren der Freiheit gerade schädlich seien, weil sie den beliebigen und außerordentlichen Forderungen der anderen entgegentraten. So meinten die Leute!
Das schrieb Adalbert Stifter 1846, also vor 150 Jahren, im „Wiener Boten“. Seitdem hat sich nicht viel verändert. Es geht auch heute zu wie beim Turmbau zu Babel, wenn über Freiheit gesprochen wird. Jeder meint etwas anderes mit diesem Begriff. Halbe Wahrheiten müssen herhalten, um handfeste Interessen oder verschiedenartige Ideologien als freiheitlich hochzuloben. Denn Freiheit scheint ein absoluter Wert zu sein und in der Rangfolge der Werte eine Spitzenposition einzunehmen. Sie hat eine emotionsgeladene Alibifunktion bekommen; ohne Berufung auf Freiheit geht es nicht mehr bei den Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen, Ideologien, Parteien und Völkern. Aber halbe Wahrheiten sind eben nur halbe Wahrheiten, der Rest ist Irrtum, wenn nicht gar Lüge, und wegen dieser Irrtümer und Unklarheiten beim Streit um den Freiheitsbegriff gibt es keine Ruhe in der Welt. Das hat bedenkliche Folgen, die den einzelnen und die Gesellschaft in Gefahr bringen.
Ich will versuchen, mich sachlich und wertfrei mit der Freiheit auseinanderzusetzen, denn für mich ist Freiheit kein absoluter, sondern ein abgeleiteter Wert, ähnlich wie der der Ordnung. Dabei werde ich mich im wesentlichen nur mit der individuellen Freiheit und mit ihrer Bedeutung für den Menschen und die Gesellschaft befassen und das Problem der Freiheit des Willens nicht behandeln. Nur soviel sei dazu gesagt, daß ohne ihre stillschweigende, zum mindesten transzendente Voraussetzung jede Diskussion über die Freiheit sinnlos wäre. Was ist nun Freiheit? Es gibt einige klassische Definitionen:
- Herzog Alba sagt in Goethes Egmont: Was ist der Freiesten Freiheit? Recht zu tun und daran wird der König sie nicht hindern.
- Karl Marx schreibt in der „Heiligen Familie“: Macht und Freiheit sind identisch.
- Lenin formuliert: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.
- Jaspers meint: Freiheit ist nicht aus dem Nichts, sie ist nicht Willkür und nicht beliebiges Meinen.
- Und wir alle kennen die etwas unklare, aber sehr populäre Erklärung: Freiheit sei keine Zügellosigkeit, sondern Achtung vor dem Recht des anderen.
Das sind einige der halben Wahrheiten, die uns zu schaffen machen und die dazu beitragen, die Diskussion um die Freiheit zu verwirren. Die ganze Wahrheit, der wir ins Auge zu sehen haben, lautet:
Freiheit ist Ungebundenheit, Beliebigkeit, Willkür, Gesetzlosigkeit, Anarchie, und damit kein Zweifel übrigbleibt, hier gleich das Gegenteil von Freiheit: das ist Bindung, Gebundenheit, Beschränkung, Zwang, Unterdrückung.
Diese Definition beseitigt alle Unklarheit, die mit dem Begriff Freiheit verbunden ist, und sie macht ganz klar, diese Freiheit, nämlich die absolute Freiheit kann es nicht geben, sie ist nicht praktikabel, sie führt zum Chaos. Ein Beispiel dafür ist die Weltgeschichte. Sie ist eine Kette von Überfällen, Raub, Mord und Totschlag. Souveräne, also im Sinne obiger Definition freie Staaten, setzen ihre Interessen, nur sich selbst verantwortlich und aus eigener Machtvollkommenheit, willkürlich und ohne Rücksicht auf Moral, Recht und Gesetz mit Gewalt durch, sobald sie dafür eine Chance wittern, und nur die Angst vor dem stärkeren Gegner kann sie im Zaume halten. Die Gefahr, die angesichts der modernen Waffentechnik für die gesamte Menschheit daraus entsteht, zwingt aber auch hier zum Umdenken und drängt die Völker schon seit einiger Zeit zur Beschränkung ihrer Freiheit, zur Einführung eines Völkerrechts und zu internationalen Vereinbarungen, welche die Anwendung von Willkür und Gewalt ausschließen sollen. Ich habe gesagt, Freiheit sei kein absoluter Wert, kein Wert also, der aus sich allein sittliche Berechtigung besitzt, sittliche Berechtigung im Sinne des kategorischen Imperativs, der von Kant so formuliert wurde:
Handle so, daß die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.
Ihren Glanz und ihre sittliche Bedeutung gewinnt die Freiheit erst, wenn sie angebunden ist an absolute Werte und sich beziehen kann auf eine von diesen getragene allgemeine verbindliche Moral, auf Recht und Gesetz also, die auf dieser Moral beruhen. Freiheit wäre damit kein absoluter, sondern ein abgeleiteter, relativer oder zu deutsch, abhängiger und bezogener Wert, abhängig und bezogen auf eben diese allgemein verbindliche Moral und Gesetzlichkeit. Da Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sich im wesentlichen nicht nur an moralischen, sondern vor allem an zweckmäßigen und nützlichen Gesichtspunkten entwickeln und orientieren und den größtmöglichen Wohlstand der meisten zum Ziele haben, muß die Freiheit auch auf diesem Felde an allgemein anerkannte Grundlagen gebunden werden, an das Privateigentum z. B., an den Wettbewerb, an Gesetze also, die Pflichten und Rechte der Bürger regeln. Innerhalb dieses Rahmens werden Beliebigkeit und Willkür, wird Freiheit, nämlich relative Freiheit, fruchtbar. Sie ist nun nicht mehr anarchisch, sondern auf ein Ziel gerichtet; und der unbegrenzte Erfindungsgeist des Menschen kann die ganze Vielfalt seiner Möglichkeiten einsetzen, um es auf den verschiedensten Wegen zu erreichen. Das meint Nietzsche, wenn er sagt: Freiheit wovon, was schert das Zarathustra. Hell aber soll mir Dein Auge künden: „Freiheit wozu!“ Und um es ganz klar zu halten: Gemeint ist die individuelle Freiheit, die für den Menschen als Individuum und nicht für eine anonyme Gemeinschaft gilt. Es wird im wesentlichen von zwei Faktoren abhängen, wie weit oder wie eng die Grenzen der Beliebigkeit und Willkür gezogen werden können oder müssen:
- Von der sittlichen Reife der betroffenen Individuen, ihrem Verantwortungsgefühl und dem Maß ihrer Übereinstimmung mit den erwähnten Grundsätzen.
- Vom Stand der technischen, ökonomischen und organisatorischen Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, die mit zunehmender Kompliziertheit, durch Arbeitsteilung, Höhe der notwendigen Kapitalaufwendungen und Verschiebung der Befehls- und Zuständigkeitsstrukturen den einzelnen immer größeren Beschränkungen unterwirft.
Aus allem, was bisher gesagt wurde, geht hervor, daß das Moment der Bindung zu dem zusammengesetzten Begriff „relative, individuelle Freiheit“ wichtiger ist als das Moment der Freiheit selbst. Nur die Bindung an die sittlichen Grundwerte bzw. an zweckmäßige Grundvorstellungen im praktisch-politischen Bereich des gesellschaftlichen Lebens geben dem Menschen eine sinnvolle Lebensorientierung, geben ihm Richtung und Haltung in einer an sich anarchischen Welt. Der bewußte Verzicht auf die absolute Freiheit, der sich u. a. in der Beherrschung seiner Triebe ausdrückt, unterscheidet ihn vom Tier und ist das eigentlich Humane an ihm. Eine Welt ohne freiheitsbeschränkenden kategorischen Imperativ führt seelisch zu kafkaesker Leere, Sinnlosigkeit und Verzweilung und praktisch zu Brutalität und Chaos.
Übrigens ist der Begriff der individuellen Freiheit noch gar nicht so alt. Mit allen seinen politischen und gesetzgeberischen Konsequenzen ist er ein Kind der Aufklärung und stammt aus dem 18. Jahrhundert. Zu seinen philosophischen Grundlagen gehören die Entdeckung der autonomen Vernunft und die Selbstverantwortlichkeit des Individuums. Die früheren, dogmatisch bestimmten Jahrhunderte verbanden mit dem Begriff der Freiheit ganz andere Inhalte. Der Kern der neuen Ideen, die erst im vorigen Jahrhundert praktische Bedeutung erlangten, besteht in der Loslösung des Individuums aus institutioneller Bevormundung und in der verfassungsmäßigen Sicherung seiner Freiheit und seiner angeborenen, unveräußerlichen Rechte als Mensch gegen den absoluten Staat. Sittliche Grundlage ist die christlich-humanistische Ethik, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens stellt. Der Staat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt.
Die individuelle Freiheit setzt sich aus vielen einzelnen Freiheiten zusammen. Die wichtigsten sind wohl: Glaubens-Gewissens- und Meinungsfreiheit, Rede-Presse-Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, Gewerbefreiheit, freies Wahlrecht und Freiheit der Forschung und Lehre. Alle diese Freiheiten werden dem Staatsbürger in der geschriebenen Verfassung als Grundrechte garantiert und sichern ihm im Rahmen der Rechtsordnung die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. In der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie findet die relative individuelle Freiheit ihre politische Verwirklichung. Ein frei gewähltes Parlament vertritt den Volkswillen, beschließt die Gesetze und kontrolliert die von ihm bestellte Regierung. Eine unabhängige Rechtsprechung wacht darüber, daß die Rechte des Individuums nicht verletzt werden. Es gibt also keinen Widerspruch zwischen freiheitlicher Gesinnung und kraftvollem Rechtsstaat. Nur die Bindung an Recht und Gesetz kann die relative individuelle Freiheit sichern. Nur sie verhindert absolute Willkür und Anarchie. Es stimmt, was Goethe sagt: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
Die geistige und politische Bewegung, die im 19. Jahrhundert für die individuelle Freiheit zum Kampf antrat, war der Liberalismus. Nach liberaler Meinung wird das Glück und der Wohlstand aller am besten dadurch erreicht, daß jeder einzelne in freier Selbstbestimmung nur an sein eigenes Wohl denkt. Das Einzelinteresse gilt als Wegweiser des Gesamtinteresses. Krassester Ausdruck dieser Ansicht: Die privaten Lasten sind die öffentlichen Tugenden. Im Zentrum stand das freie, vernunftbegabte Individuum. Dieses urteilte und handelte mit Hilfe der Vernunft in einer prästabilisierten, von vornherein feststehenden Harmonie zwischen dem Willen des einzelnen und dem Interesse der Gesamtheit und das sowohl auf sittlicher wie auch auf wirtschaftlicher Ebene. Aus dieser Zeit stammt der Glaube an die Allmacht der Vernunft, den Fortschritt und an das freie Spiel der Kräfte. An die Stelle der Standesprivilegien trat die Gleichheit vor dem Gesetz.
Von diesen neuen Gedanken gingen mächtige Impulse aus, die die Welt verändert haben. Eine breite Öffentlichkeit, vor allem das Bürgertum nahm nun am wirtschaftlichen, politischen und geistigen Leben teil. Alle standesgebundenen Vorurteile wurden über Bord geworfen, und nur was vor der Vernunft bestehen konnte, galt. Ein ungeahnter technischer und wirtschaftlicher Aufschwung und auch eine kulturelle Blüte setzten ein, und alles ging gut, solange das neue, liberale Lebensgefühl noch von den traditionellen Werten und Tugenden seiner christlich-abendländischen Vergangeheit zehrte und diese als vernünftig ansah, solange sich also nur die Rangfolge der sittlichen Werte änderte, diese selbst aber nicht angetastet wurden, solange also eine im Sinne obiger Definition relative individuelle Freiheit gewollt wurde. Erst als auch die moralischen Grundlagen in Frage gestellt wurden, kam es zu Schwierigkeiten. Freiheit als beherrschendes Motiv, ohne ethische Bindung, führte zu sozial unerträglichen Zuständen und zu geistig-seelischer Leere und Ratlosigkeit. Diese knappe Betrachtung wird der Bedeutung des Liberalismus für die Geschichte der Menschheit keineswegs gerecht. Sie sollte nur zeigen, daß abstrakte Vernunft und individuelle Freiheit als Grundprinzipien nicht ausreichen, Staat und Gesellschaft zu organisieren. Inzwischen hat man die soziale Verpflichtung von Politik und Wirtschaft allgemein erkannt und das freie Spiel der Kräfte eingeschränkt.
Wenn Freiheit nun kein absoluter Wert ist, ist sie dann vielleicht ein menschliches Grundbedürfnis? Es sieht zum mindesten so aus, denn eigentlich möchte doch jeder Mensch von seinem Wesen her gerne glauben, denken, sagen und tun, was ihm gerade einfällt oder was er sich bewußt vorgenommen hat. Aber wir haben zu bedenken, daß alles spontane oder wohlüberlegte Glauben, Denken, Sagen oder Tun nicht zufällig ist oder einfach fertig vom Himmel fällt, sondern Ursachen hat, also ein Ergebnis darstellt. Das Ergebnis eines Prozesses nämlich, in dem verschiedene Motive im Bewußtsein des Individuums miteinander ringen. Das stärkste Motiv wird den Ausschlag geben und die jeweilige Entscheidung bestimmen. Nach dieser Überlegung müßte unsere Frage lauten: Ist Freiheit ein starkes Motiv? Allgemein und mit ja oder nein läßt sich das nicht beantworten, denn das Ergebnis des Entscheidungsprozesses hängt ja nicht allein vom Motiv ab, sondern auch wesentlich vom Bewußtsein und vor allem vom gegebenen Charakter des Individuums, das zu entscheiden hat. Dabei kann dasselbe Motiv auf den einen Charakter stark, auf einen anderen gar nicht wirken. Ehre z. B. bedeutet dem einen alles, dem anderen nichts. Außerdem gibt es noch andere Motive, die mit dem Willen zur individuellen Freiheit konkurrieren und mit ihm nicht ohne weiteres zu vereinbaren sind, z. B. der Wunsch nach Sicherheit, Schutz und Ordnung.
Vor allem aber läßt der Mensch in der Tiefe seines Wesens seit seinem Eintritt in die Geschichte ein offenbar angeborenes Kollektivbewußtsein erkennen, ein geheimnisvolles Einordnungsbedürfnis, eine Funktionslust und eine geradezu mystische Hingabebereitschaft an Gemeinschaften, Ideen, große Ziele oder überragende Persönlichkeiten, die den Gedanken an seine individuelle Freiheit völlig verdrängen können, seine Identität aufheben und ihn zu einem willenlosen Teil einer Massenbewegung machen. Wäre dieser antifreiheitliche Drang nicht so tief in seinem Wesen verwurzelt, wie hätten ohne einen solch anthropologisch richtigen Ansatzpunkt jemals religiöse Bewegungen mit ihren starken dogmatischen Bindungen, wie die romantischen Strömungen des 19. Jahrhunderts oder die kollektiven und diktatorischen Herrschaftssysteme des 20. Jahrunderts Erfolg haben können.
Wenn wir die verschiedenen Motive miteinander vergleichen, so zeigt der Wunsch nach individueller Freiheit dabei überwiegend abstrakte und intellektuelle Züge, die auf seine rationalistische Herkunft hinweisen. Das Bedürfnis nach Selbsterhaltung, also nach Sicherheit und damit nach Bindung und Vereinigung ist biologischer Natur, die Sehnsucht nach persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung geistigen Ursprungs und damit spezifisch menschlich. Daher berührt das Problem Freiheit im wesentlichen die reife, gebildete und starke Persönlichkeit. Der einfache Mensch sucht die Sicherheit und scheut die eigene Tat, die freie Entscheidung und die damit verbundene Unsicherheit und Verantwortung. Er fürchtet die für ihn nicht absehbaren Folgen. Weil ihm die geistige Beweglichkeit fehlt, sträubt er sich im allgemeinen auch gegen alles Neue und denkt und handelt gern in herkömmlichen, bewährten Bahnen oder nach Anweisung. Wie sollte auch jemand frei entscheiden können, dem die Mannigfaltigkeit des Denkens nicht gegeben ist und der von den vorhandenen Möglichkeiten kaum eine richtig beurteilen kann. Wie man nun das Problem der Freiheit auch immer betrachten mag, man wird zu der Überzeugung kommen müssen, daß es zum mindesten nicht der ganze Mensch ist, der selbstbestimmend frei sein will. Man wird zu unterscheiden haben zwischen angeborenen, aus dem Unterbewußtsein wirkenden Kollektiv- und Rangordnungsvorstellungen und intellektuellen Einsichten. Erst beides zusammen macht das menschliche Bewußtsein aus, auf dessen Hintergrund sich die Entscheidungsprozesse vollziehen.
Aber genauso wie Sorgen, Kummer und Leid Anforderungen an die Belastbarkeit des Menschen stellen und wie es von seiner spezifischen Tragfähigkeit abhängt, wieviel er davon verkraften kann, so stellt die Freiheit Anforderungen an das Individuum, an seine Kraft, seinen Mut, sein Wissen, seine Entscheidungsfähigkeit und seine Verantwortungsbereitschaft. Nicht jeder ist dafür geschaffen, sich im freien Raum der Möglichkeiten gegen den Widerstand der Umwelt und des Althergebrachten durchzusetzen und sittlich zu bewähren. Dabei muß man auch das theoretische, prinzipiell offene und immer wieder zweifelnde Denken vom Entscheiden trennen, denn nicht jeder ist ein Mensch der Tat. Es ist daher bedenklich, so zu tun, als hätte jeder nicht nur das Recht, sondern auch die Fähigkeit – ja sogar die Pflicht zu freier Entfaltung seiner Persönlichkeit, gleichgültig ob er mit den moralischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen und auch mit den Risiken vertraut ist, die damit verbunden sind. Freiheit ist gefährlich und hat große Ähnlichkeit mit dem Gift. In der richtigen Dosierung ist sie hilf- und segensreich, zuviel davon ist tödlich.
Wenn auch allmählich wieder ernsthafte Kräfte spürbar werden, die die Gefahr erkennen und den Ausgleich zwischen Freiheit und Bindung suchen, so ist der ungebundene Liberalismus keineswegs überwunden. Besonders im Erziehungs- und Bildungswesen der westlichen Welt finden wir uns heute mehr denn je Auffassungen gegenüber, die die autonome Vernunft als einzigen Maßstab verstehen und jedem das Recht geben, in ihrem Namen alle sittlichen Grundwerte in Frage zu stellen. Es wird dabei übersehen, daß man zu unterscheiden hat zwischen dem Wahrheitsbezug des Denkens und dem Wertbezug des Handelns. Das in dem einen Bereich Angemessene darf nicht auf den anderen übertragen werden, da ist es nicht mehr angemessen. Die modernen Schlagworte heißen: Mündigkeit, freie Selbstbestimmung und Emanzipation des Individuums, und mit ihnen sucht man den Sinn des Lebens und den Schlüssel zum Glück. Aber die Menschen sind nicht alle gleich, auch wenn das Gegenteil immer wieder behauptet wird; gleich sind sie nur vor dem Gesetz, und deshalb sind sie auch nicht alle gleich mündig und nicht gleich geeignet zur freien Selbstbestimmung. Fordert man von ihnen Entscheidungen, die über ihre Kraft hinausgehen, dann macht man sie unglücklich oder zerbricht sie ganz.
Wenn das Entscheiden und Handeln nicht mehr an sittliche Grundwerte und gesellschaftliche Verantwortung gebunden ist, führt das sehr bald zur Privatisierung der Moral, zur Arroganz, zur Rücksichtslosigkeit und zu unerträglichem Egoismus. Übersteigertes Anspruchsdenken, Verächtlichmachung bewährter Konventionen, der Höflichkeit z. B., Aufstand gegen jede Autorität, Ablehnung des Leistungsdenkens, Infragestellen der Familie, zerstören die Grundlagen einer humanen Gesellschaft, und die neue Subkultur mit ihren anarchischen Zügen und ihrer Sucht nach Rauschmitteln aller Art ist kein Ersatz für die unter ihrem Druck zerbröckelnde christlich-humanistische Tradition. Diese Auflösungserscheinungen gefährden die im vorigen Jahrhundert mühsam errungene individuelle Freiheit. Sie fließen in die Erziehung der heranwachsenden Jugend ein und finden auch ihren Niederschlag in der Politik und in der Gesetzgebung. Es entwickelt sich die permissive Gesellschaft, in der man im Namen falsch verstandener Freiheit alles versteht und alles verzeiht. Es wächst die Skrupellosigkeit, mit welcher der intellektuell Überlegene in der Lage ist, mit dem Buchstaben des Gesetzes erfolgreich gegen seinen Sinn zu kämpfen. Auf der Grundlage eines nie gekannten Wohlstandes und einer immer perfekter werdenden sozialen Sicherheit steigt die Kriminalität, besonders die der Jugend, und es erweist sich, ganz im Gegensatz zu marxistischen Grundauffassungen, daß das Verbrechen eben nicht das Ergebnis von Elend und Ausbeutung ist, sondern das Resultat sinkender Moral. Auch der moderne Terrorismus ist nicht etwa ein Produkt von Unterdrückung, Ausbeutung oder Herrschaft des Kapitals, sondern ebenfalls eine Entartungserscheinung der freheitlichen Demokratie. In der Zeit des Frühkapitalismus oder während des Dritten Reiches hat es ihn nicht gegeben, und in den kommunistischen Diktaturen gab es ihn auch nicht.
Gewalt und Verbrechen erzeugen ein Gefühl der Unsicherheit und ein Klima der Unzufriedenheit mit der als zu lasch empfundenen Handhabung der staatlichen Machtmittel. Der Redliche fühlt sich mehr und mehr geprellt. Wenn diese Entwicklung sich fortsetzt und auch unverzichtbare Bindungen an die christlich-humanistische Moral und die staatliche Ordnung ins Wanken geraten, dann kann der Punkt ertreicht werden, wo wieder ein ganzes Volk der individuellen Freiheit überdrüssig wird und sich mit Lust einem totalitären System unterwirft, das ihm Sicherheit, Gesetz und Ordnung verspricht. Einige von uns haben das 1933 erlebt und verzichten auf Wiederholung, gleichgültig ob sie von rechts oder links kommt. Es muß ein Ende haben mit der Toleranz ohne Grenzen; die Demokratie muß streitbar werden. Wir müssen uns zurückbesinnen auf unsere sittlichen Grundwerte und bereit sein, sie zu verteidigen. Das hat mit der Erziehung der Jugend zu beginnen.
Eine andere Gefahr droht der Freiheit von der technisch-ökonomischen Entwicklung. Viele westliche Industriegesellschaften haben auf der Grundlage der rechtstaatlich gesicherten und sozialstaatlich fundierten relativen, individuellen Freiheit mit moderner Technologie und hohem Kapitaleinsatz das Sozialprodukt enorm gesteigert und damit einen erherblichen Wohlstand erreicht. Dabei haben sie unter dem Zwang von Konzentration und Arbeitsteilung die Masse der Erwerbstätigen in die Abhängigkeit von großen Betrieben gebracht. Um deren Freiheitsrechte zu sichern und um das erarbeitete Sozialprodukt möglichst gerecht und zweckmäßig zu verteilen, ist eine bedeutende Gewerkschaftsbewegung und ein komplizierter Sozialapparat entstanden. Betriebe, Gewerkschaften und der Staat haben umfangreiche Bürokratien aufgebaut, die dem Menschen ein hohes Maß an Fremdbestimmung zumuten und sein Verhalten bis hinein in seine Antriebs- und Entscheidungskräfte bestimmen. Seine Freiheitswünsche werden auf die risikolose Konsumgestaltung und Freizeitverwendung abgedrängt, und auch da unterliegt er noch massiver Beeinflussung. Aber zur Freiheit gehört auch das Risiko, und der Wille zur Freiheit und die Bereitschaft zum Risiko dürfen nicht in einer totalen Verwaltung untergehen. Mit aller Kraft und mit geeigneten Mitteln muß der Vermassung des Menschen entgegengetreten werden, damit wir nicht im Ameisen- oder Termitenstaat allmählich verdämmern und vom Ebenbild Gottes nichts übrig bleibt.Aus der passiven Gesellschaft mit dem ihr eigenen Anspruchsdenken muß wieder eine aktive, risikofreudige Gesellschaft werden, die bereit ist, unternehmerisch zu denken.
Ein Weg, dieses Ziel zu erreichen wäre, die Begriffe Eigentum und Gewinn aufzuwerten und nicht länger als Raub und Profit praktisch und ideologisch zu diffamieren. Die These „Eigentum macht frei“ ist kein billiges Schlagwort, sondern eine wichtige Erkenntnis der freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Eigentum verschafft Verfügungsmacht, stärkt die Unabhängigkeit des einzelnen und erweitert dadurch seinen Freiheitsraum. In richtige Politik umgesetzt, könnte aus einem Volk von Lohn-, Gehalts- und Rentenempfängern ein Volk von freien Wirtschaftsbürgern werden. Eigentum in Form von Geldvermögen ist bis in breiteste Kreise hinein vorhanden. Hunderte von Millarden liegen als Sparguthaben bei den Banken und Sparkassen und werden über sie als Kredite an Staat und Wirtschaft verliehen. Nur ein kleiner Teil dieses riesigen Volksvermögens wird als Eigenkapital selbständig, über Beteiligungserwerb oder Aktienkauf unternehmerisch eingesetzt. Die ohnehin viel zu geringe Kapitalausstattung der Betriebe sinkt ständig, und die Fremdverschuldung der Wirtschaft steigt. Aber die Weigerung des privaten Kapitals, sich direkt zu engagieren, hat einen einfachen Grund. Es lohnt sich nicht. Die Rendite des Risikokapitals ist zu gering. Wenn uns die relative individuelle Freiheit am Herzen liegt, müssen wir uns auch in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zurückbesinnen auf die Grundlagen der freien Marktwirtschaft und dem unternehmerischen Kapital eine bessere Chance geben. Die Alternative heißt: Bürokratie oder Markt, wir müssen uns für den Markt entscheiden.
Wer aber mit Goethe das höchste Glück der Erdenkinder in der Persönlichkeit sieht, wer in der abendländischen Tradition lebt und ihre sittlichen Grundwerte wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Nächstenliebe bejaht, der muß auch die relative individuelle Freiheit wollen. Sie ist die Verschmelzung von Freiheit und Bindung; sie ist weder utopisch noch dogmatisch; sie ist der vernünftige Kompromiß zwischen Anarchie und Unterdrückung. Innerhalb der von ihr gesetzten sittlichen und gesellschaftlichen Grenzen ist Beliebigkeit und Willkür erlaubt, willkommen und vor allem fruchtbar. Diese Freiheit löst den Menschen aus der staatlichen Bevormundung und bindet ihn über Moral und Gewissen auf humane Weise selbstverantwortlich an die Gemeinschaft. Die Spannung zwischen dem Soll und dem Ist, zwischen Moral und Realität weckt und fördert die schöpferischen Kräfte, die die Grundlage der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts sind. Nur in dieser Freiheit kann sich die private Initiative entfalten, welche die Wirtschaft so effektiv und erfolgreich macht.
Wer das Chaos der absoluten Freiheit und die Unterdrückung der Diktatur nicht will, der muß ja sagen zur relativen individellen Freiheit und damit auch ja sagen zu den sittlichen und gesellschaftlichen Bindungen, ohne die sie nicht leben kann. Auf diese Bindungen, also auf Moral, Recht und Gesetz kommt es entscheidend an, wenn eine Gesellschaft frei sein will. Damit wird Freiheit auch zur Erziehungsaufgabe. Ihr Wert und ihre Grenzen müssen wieder ins Bewußtsein gebracht werden.
Bei allem Recht zum Zweifeln und zur Kritik, ohne die Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit nicht möglich ist, muß das Handeln und Tun von der sittlichen und sozialen Verpflichtung geprägt sein. Das ist die Freiheit, die ich meine. Ich kenne keine schönere Aufforderung, diese Verpflichtung freiwillig anzunehmen als die Verse in Schillers Gedicht „Das Ideal und das Leben“, mit denen ich schließen will:
- Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht!
* * *