Die eigene Meinung

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Wie in allen demokratischen Staaten ist in Deutschland die freie Äußerung der eigenen Meinung verfassungsrechtlich geschützt. in Artikel 5 unseres Grundgesetzes heißt es:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“

Das ist nicht selbstverständlich, wie ein Blick in die deutsche Vergangenheit oder über so manche Grenze hinweg zeigt. Dieses Recht ist ein Grundrecht, ein Teil der Menschenwürde und sollte nicht mißbraucht werden. Was eigene Meinung ist, weiß natürlich jeder, aber ich möchte es trotzdem präzisieren, um Mißverständnissen vorzubeugen.

Eigene Meinung ist die Beurteilung von Erkenntnisinhalten. Beurteilung heißt Bewertung, Untersuchung über Sinn und Zweck der Erkenntnisinhalte, über ihre Ursachen und Wirkungen oder ihre Einordnung in ein allgemeines Weltbild. Erkenntnisinhalte sind Tatsachen, Sachzusammenhänge, Erlebnisse, Schilderungen, Theorien oder auch andere Meinungen.

Eigene Meinung bedeutet also immer die Be- oder Verarbeitung von Erkenntnisinhalten; sie verlangt eigene Entscheidung. Die kann leichtfertig oder sorgfältig getroffen werden, aber getroffen muß sie werden, um das Kriterium der eigenen Meinung zu erfüllen. Neuheit und Einzigartigkeit werden von ihr nicht verlangt, und ob sie richtig oder falsch ist, hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung. Denn bei der eigenen Meinung wird ein mehr oder weniger zureichendes Fürwahrhalten in Kauf genommen, im Unterschied zur subjektiven Gewißheit des Glaubens und zum subjektiven und objektiven Fürwahrhalten des Wissens. Meinen, Glauben und Wissen sind also drei verschiedene Kategorien.

Zur eigenen Meinung gehört in erster Linie der Wille dazu, und dieser erwacht im allgemeinen in der Zeit der Pubertät. Er ist meist vom Protest oder Mißtrauen gegen alles Traditionelle, Anerkannte, Etablierte geprägt und bezeichnet den Übergang vom kindlich-zutraulichen in den kritisch-erwachsenen Zustand des Lebens. Die Lust, nun selbständig und unabhängig denken zu können, öffnet die gänzlich neue und abenteuerliche Welt der Ideen und Ideale, in der alles möglich zu sein scheint. Das Wort Schillers, „frei beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, muß erst noch gelernt werden. Und dieses Lernen ist der Reifeprozeß, der sich an die Pubertät anschließt. Da beginnen sich die Geister zu scheiden. Die einen bleiben, mehr oder weniger und je nach ihren geistigen Fähigkeiten bei Mißtrauen und Protest, bei ihrer intellektuellen Auffassung der Realität stehen; Tatsachen gelten ihnen nicht allzu viel, hinter jedem Widerspruch wittern sie kraftlose Anpassung, wenn nicht eine Verschwörung handfester Interessen; die anderen beginnen, sich mit Tatsachen und Gegebenheiten auseinanderzusetzen und versuchen ihre Ursachen und Gesetzlichkeiten zu erforschen. Dabei sammeln sie Erkenntnisse und Erfahrungen, die sie in die Lage versetzen, mit der Realität besser fertig zu werden, wenn nicht gar aus mancher Not eine Tugend zu machen. Die einen repräsentieren das revolutionäre, die anderen das pragmatische Element in der geistigen Auseinandersetzung. Diese früh geprägten und zugegebenermaßen sehr extrem dargestellten Grundeinstellungen sind sehr bedeutsam für die Entwicklung der eigenen Meinung und bleiben lange spürbar. Aber sie sind natürlich nicht die einzigen meinungsbildenden Faktoren. Andere kommen, ich möchte sagen, von außen hinzu.

Herkunft, Elternhaus, Erziehung, Religion, Schulbildung, soziale Stellung und Interessenlage, Erfahrung und Erlebnisse, modische Einflüsse (was gerade „in“ ist), Beeinflussung durch andere Meinungen, durch Lektüre und Massenmedien; und natürlich prägen persönliche Veranlagungen, wie Intelligenz, geistige Beweglichkeit, Verantwortungsbewußtsein das Gesamtbild.

Grundeinstellung, persönliche Veranlagung und äußere Einflüsse entscheiden, ob die eigene Meinung das Ergebnis handlicher Schlagworte oder eigener argumentativer Auseinandersetzung mit den moralischen Ideen und der Realität ist. Von nichts wird aber auch nichts und wenn mangels eigener Substanz nur die soziale Stellung, Massenmedien und modische Formulierungen die eigene Meinung formen, dann wird man nicht viel Erbauliches und Überzeugendes erwarten dürfen. Wir haben gesagt, die eigene Meinung kann richtig oder falsch sein, deswegen bleibt sie eigene Meinung. Aber man versteht jetzt schon, Meinung kann nicht gleich Meinung sein. Meinungen unterscheiden sich durch ihren Wert. Das ist nichts Neues. Jeder Mensch weiß das und handelt danach. Die eine Meinung wird beachtet, die andere nicht. Die Frage ist, was macht den Wert einer Meinung aus?

Zweifellos ist es ihr moralischer und sachlicher Gehalt und die in ihr zum Ausdruck kommende Urteilskraft. Das heißt, sie gewinnt ihre Bedeutung durch die sie prägenden Grundwerte und Tugenden, das ihr zugrunde liegende Wissen und durch ihren logischen Aufbau. Moral allein, gute Grundsätze oder menschheitsbeglückende Utopien können als Meinungsgrundlage nicht genügen. Sie müssen sich an der Wirklichkeit messen lassen. Auch Wissen allein, die bloße Kenntnis der Tatsachen, reicht nicht aus. Tatsachen müssen in einen vernünftigen Zusammenhang gebracht, auf Ursache und Wirkung hin untersucht werden. Dazu gehört Urteilskraft und sie müssen bewertet und beurteilt werden, dazu bedarf es einer klaren Rangfolge von Werten und Tugenden, eines moralischen Maßstabes, eines Koordinatensystems, von dem aus gemessen werden kann. Erworben und ausgebildet werden Moral, Wissen und Urteilskraft im Laufe eines langen Lebens, und deshalb sind die Meinungen älterer Menschen im allgemeinen gewichtiger.

Nun hat nicht jedermann zu allen Tatsachen, Sachzusammenhängen und Theorien, auch wenn er über genügend Moral, Wissen und Urteilskraft verfügt, sofort eine eigene Meinung parat, besonders wenn diese unverhofft in sein Blickfeld treten.

Tatsachen sind, wie gesagt wurde, Erkenntnisinhalte und als solche belanglos. Sie gewinnen erst an Bedeutung, wenn sie sorgfältig verarbeitet, d.h. im Zusammenhang beurteilt werden. Neu ins Bewußtsein tretende und unbestreitbare Tatsachen können die bisherige Meinung schwer erschüttern und diese, wenn sie akzeptiert werden müssen, total verändern. Das kann ein schmerzlicher Prozeß sein. Aber seit Adam den Apfel vom Baum der Erkenntnis aß, sucht der Mensch im Gegensatz zum Stein, zur Pflanze, zum Tier nach Antworten auf die ewigen Fragen, was ist gut und was ist wahr. Dabei bleibt er ein Suchender. Es gibt keine absolute Gewißheit. Was erreicht werden kann, ist das mehr oder weniger Fürwahrhalten, also die sorgfältig gebildete eigene Meinung, denn Sinn hat eine eigene Meinung doch nur, wenn sie für wahr gehalten wird. Ohne auf das schwierige Problem der Wahrheit näher einzugehen, sei soviel gesagt, daß eine Meinung als wahr zu gelten hat, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt; sie ist falsch, wenn sie die Wirklichkeit bewußt oder unabsichtlich verfehlt.

Aber eben da liegt die Schwierigkeit. Wer kann wohl die Wirklichkeit, ihre komplizierten, durch Ursache und Wirkung verknüpften Zusammenhänge, ihre zufälligen Verflechtungen ganz durchschauen? Wer kann wissen, wie und warum der erste Weltkrieg entstanden ist oder wie die Arbeitslosigkeit, die Geißel der Menscheit, beseitigt werden soll. Experten streiten sich, und wir sollen Stellung nehmen? Das eigene Wissen wird nicht immer ausreichen, aber das bedeutet nicht, daß wir nicht auch zu Fragen, die uns ferner liegen, von unserer Grundeinstellung her eine Beziehung herstellen können, die mehr oder weniger Gewicht hat. Wie die Demoskopen nachweisen, hat das sogar einen tiefen Sinn. Befragt man ein Volk, das ja sowohl aus Experten, wie auch aus Dilettanten und Laien, aus Schlaubergern und Dummköpfen besteht, wie das z. B. vor Wahlen geschieht, nach seiner Meinung, so erhält man erstaunlicherweise Mehrheiten für eine vernünftige Antwort. Das Gleiche gilt auch, wenn man dieses Volk oder seinen repräsentativen Querschnitt z. B. über seine Meinung zu Konjunkturaussichten oder wirtschaftlichen Entwicklungen befragt. Der bekannte und hochgeachtete Rat der fünf Weisen hat darauf eigentlich immer mangelhaft oder falsch geantwortet. Anders das Volk. Seit 1958 macht man solche Umfragen. Die sich daraus ergebende Übersicht zeigt eine fast exakte Übereinstimmung zwischen Schätzung und Wirklichkeit.

Ist das nicht eine Ermutigung für Dilettanten? Bisher wurde gesagt, die eigene Meinung solle moralisch und sachlich begründet sein. Wird dieser Anspruch erfüllt? Nur sehr bedingt. Denn einmal sind nicht alle Menschen mündige Bürger, haben nicht alle die moralischen und geistigen Qualitäten dazu, und zum anderen wird moralisches Denken und Handeln nicht nur von der Vernunft bestimmt, sondern auch von Emotionen beeinflußt. Emotionen haben ihre Wurzeln im Triebhaften und Unbewußten, und wenn sie den klaren Blick für die Wirklichkeit nicht trüben, die Urteilskraft nicht lähmen, bringen sie Farbe und menschliche Wärme in die kalte, nüchterne Welt der Tatsachen. Aber als Grundlage der Meinungsbildung sind sie untauglich und gefährlich. Emotionen sind ansteckend und können bis zu Gewalttaten gesteigert und aufgeheizt werden. Das zeigt sich, wenn große Menschenmengen demonstrieren oder zu Kundgebungen zusammenkommen. Der einzelne wird dann leicht von irrationalen Gefühlen überwältigt, verliert sein kritisches Bewußtsein, ja sogar die eigene Identität. Es ergreift ihn die Lust, nicht mehr denken zu müssen, ein Rausch der Begeisterung oder des Hasses erfaßt ihn, jede sittliche und vernünftige Hemmung schwindet, er hat keine eigene Meinung mehr. In Sprechchören skandiert er mit den anderen die törichten Parolen und wird zum Teil einer anonymen Masse, die zu allem fähig ist. Der Besonnene ist bestürzt. Aber er ist in der Minderheit, denn die Fähigkeit, Tatsachen unvoreingenommen zu erkennen und zu beurteilen, d.h. logisch zu denken, ist nicht sehr weit verbreitet.

Ein Irrtum wäre es anzunehmen, diese Fähigkeiten hingen allein vom Bildungsgrad ab. Die in einem arbeitsreichen Leben erworbene Erfahrung und Menschenkenntnis, die durch entscheidende Erlebnisse gewonnene Einsicht in die Grundwerte, kann einer vorwiegend intellektuellen Ausbildung durchaus überlegen sein. Die sozusagen aus erster Hand gewachsene, in der Wirklichkeit verwurzelte eigene Meinung einfacher Menschen ist oft wertvoller als die aus zweiter Hand „anstudierte“ mancher Akademiker. Ich denke dabei besonders an die weltfremden, „blutleer“ wirkenden Beiträge vieler Soziologen, Politologen, Pädagogen und Psychologen. Die Gefahr ideologischer Voreingenommenheit ist bei ihnen besonders ausgeprägt, ebenso wie die rhetorische Fähigkeit, souverän mit der Wirklichkeit umzugehen. Verwirrend und bedenklich sind derartige Beiträge, wenn zu ihrer Verbreitung die Massenmedien zur Verfügung stehen, wie das ja hier und da vorkommen soll. Zu bewähren hat sich die eigene Meinung in der Diskussion, in der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen. Ideologen sind schlechte Diskutanten, weil sie versuchen, die große Vielfältigkeit der Welt aus einem einzigen Prinzip zu erklären und meinen, sie seien im Alleinbesitz der Wahrheit.

Diskussionen bieten die willkommene Gelegenheit, diese verschiedenen Meinungen zu erfahren und aneinander zu messen und Irrtümer und Mißverständnisse auszuräumen, die eigene Meinung zu berichtigen oder zu festigen. Nur das kann der Sinn der Diskussion sein und nicht etwa die Absicht, die eigene Meinung auf Biegen und Brechen durchzusetzen. Bei gutem Willen sollte es gelingen, eine sachliche Übereinstimmung zu erreichen, d.h. Widerspruch aufzudecken und logisch nicht haltbare Fehlschlüsse zu korrigieren, auch wenn es sich dabei manchmal um liebgewordene Irrtümer handelt. Eine Übereinstimmung in der Beurteilung und Bewertung der Tatsachen und Sachverhalte wird dagegen nicht immer möglich sein. Tatsachenanalyse ist die eine Seite der Meinungsbildung. Sie kann nur auf eine einzige Weise erfolgen, nämlich durch folgerichtiges, logisches Denken, Tatsachenbeurteilung und Bewertung, die andere, denn da gibt es viele mögliche Maßstäbe. Das Übersehen und Übergehen von Irrtümern wäre Nachsicht, und Nachsicht führt in der Diskussion nicht weiter. Die Achtung und Anerkennung anderer Maßstäbe ist Toleranz, und zur Toleranz bekennen wir uns als Freimaurer, zur Nachsicht nicht unbedingt. Keiner sollte sich persönlich gekränkt fühlen, wenn ihm ein Widerspruch in seinen Darlegungen vorgehalten wird, aber wir alle sollten uns wehren gegen die Bekämpfung und Mißachtung anderer sittlich begründeter Maßstäbe.

Kein Mensch ist verpflichtet, eine eigene Meinung zu haben. Aber wenn in Familie, Betrieb oder Staat Richtlinien aufgestellt oder Maßnahmen beschlossen werden, will er im allgemeinen mitreden. Viele oder vielleicht sogar die meisten begnügen sich dabei mit handlichen, modischen Formulierungen, mit einer Meinung aus zweiter Hand und sind dankbar, wenn ihnen der Nachbar, der Parteifreund oder die Massenmedien eine solche liefern. Aber nur wer aus erster Hand denkt, lebt und entscheidet, weiß, wer und was er ist, hat für sich und andere Persönlichkeit, Identität und Stil. Es gilt der Satz: Sprich, wovon Du willst, Du wirst immer von Dir reden. Und wenn wir auch das letzte Geheimnis dieser Welt nicht begreifen können, so sollten wir uns wenigstens bemühen, das Durchschaubare zu verstehen und damit eine eigene Meinung zu gewinnen, die Gewicht hat.

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