Reflexionen über das Gute im Menschen

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„Es gibt nichts Gutes außer man tut es!“ Das sagte schon Erich Kästner. Dennoch fällt es schwer, zu verstehen, was das Gute im Menschen ausmacht.

Wir Menschen kommen immer wieder im Laufe unseres Lebens mit den verschiedensten Typen von Menschen zusammen, mit welchen wir reden, zusammenarbeiten und uns arrangieren müssen – seien diese angenehm oder unangenehm. Zwischenmenschliche Beziehungen wären daher ohne ein gewisses Maß an Toleranz kaum möglich, es sei denn, man ist der Meinung, daß sich nur gute und schlechte Menschen zueinander gesellen, was aber nicht der Realität entspricht. Bereits die Frage, was das Gute im Menschen ausmacht, ist kompliziert, denn so ist etwa das, was mir persönlich als gut erscheint, für jemand anderen noch lange nichts Gutes und umgekehrt. Das Gute ist somit auf jeden Fall zum Teil ein individuelles, subjektives Empfinden, bei dem die persönlichen Wertmaßstäbe eine Rolle spielen.

Von daher existiert immer ein Graubereich guter und schlechter Aspekte des Gegenüber, welchen wir im anderen erkennen und akzeptieren müssen, um mit unseren Mitmenschen auszukommen.

Der Mensch sieht allerdings im anderen zunächst oft nur das Schlechte. Wahrscheinlich beruht dies auf einer uns angeborenen Angst, denn im Laufe seiner Evolutionsgeschichte ist der Mensch oft angegriffen, verletzt, beraubt oder sogar getötet worden. Diese angeborene Skepsis ist somit eine Art Selbstschutz.

Neben diesem grundsätzlichen Problem wird die Offenheit gegenüber dem anderen Menschen auch vom gesellschaftlichen oder materiellen Status beeinflußt. So ist es erstaunlich, daß sogar bei Berufen nach Intelligenzmaßstäben in gut und weniger gut unterschieden wird – hat doch Intelligenz nur indirekt etwas mit dem Beruf zu tun. Selbst der Reiche, der soeben eine erquickliche Summe für den guten Zweck gespendet hat, wird als Humanist angesehen, während vom Sozialhilfeempfänger mit seinem abgesparten Groschen im Klingelbeutel niemand spricht. Erfolgreiche und schöne Menschen gelten aus der Sicht der Mitmenschen auch als bessere und gute Menschen, wodurch es den in den unteren Rängen der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelten Menschen oft schwerer fällt, allgemeine Akzeptanz zu bekommen. Man könnte den Eindruck haben, daß Liebe, Vertrauen, Mitgefühl hierdurch in der Zuordnung gelegentlich verwischen oder verschwinden, wenn man das opportunistische Verhalten vieler Menschen beobachtet; doch es gibt immer wieder zuverlässige Menschen, die sich im Großen und Kleinen durch Hilfe im Sinne der Humanität auszeichnen, wenn Menschen in Not sind.

 

Es stellen sich zwei Fragen:

  1. Wie kann die tief im Menschen verwurzelte Skepsis und die Übergewichtung des materiellen Aspekts im zwischenmenschlichen Miteinander überwunden werden?
  2. Wie kann ich hierbei als Freimaurer meinen eigenen Weg finden?

Es gibt auf die Frage der Überwindung der das Gute hemmenden Kräfte eine schwierige Antwort: Erst übergreifende Liebe und der Glaube an den Menschen als einer „Möglichkeit“, in der das Gute angelegt ist, ermöglicht erst das Gute. Dies setzt jedoch Vertrauen statt Skepsis voraus, worauf auch der Philosoph Kant mit seinem „Kategorischen Imperativ“ abzielt: „Handle stets so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!“ Damit knüpft Kant bewußt an den einzelnen an.

Handeln auf dieser Grundlage ist jedoch auch bei größtem Wollen schwierig: So unterscheidet die Ethik zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Für ein gesinnungsethisches Konzept steht die Frage nach dem handlungslenkenden Motiv im Vordergrund. Ein guter Zweck ist nur mit guten Mitteln anzustreben, keineswegs heiligt ein guter Zweck den Einsatz „unheiliger“ Mittel. Anders die Verantwortungsethik. Denn für diese gelten die vom Handeln bewirkten (positiven) Folgen als Maßstab der Bewertung. Hier können „gute“ Folgen eine gesinnungsethisch fragwürdige Handlung rechtfertigen (klassisches Beispiel: der Tyrannenmord).

Hier wird der Mensch auf sich selbst und auf das Problem guten Handelns zurückgeworfen. Gut zu handeln setzt nun jedoch Wissen um das Gute, um die Wahrheit, voraus. Zugleich ist es schwer, im moralischen Sinne schuldlos zu bleiben. Wir stehen damit vor dem „faustischen“ Problem, das der Dichter und Bruder Goethe in seinem „Faust“ auf symbolische Weise eindrucksvoll beschrieben hat.

 

Goethes „Faust“ als Beispiel für das Problem von Moral und Erkenntnis

Faust grübelt über den Sinn des Daseins nach. Die herkömmlichen Wissenschaften geben ihm nichts mehr, da er als Doktor Universalis alle Fakultäten studiert hat, ohne zu einem umfassenden Verständnis der Welt zu gelangen („Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor“).

Er hat festgestellt, daß die menschliche Erkenntnis immer an Grenzen stößt. Nur noch in der Magie, die im Mittelalter als gleichwertige Wissenschaft galt, sieht er einen Ausweg, in alle weltlichen Geheimnisse einzudringen. Mehr noch: Er hofft zuletzt mit Hilfe des Teufels von seinem Problem erlöst zu werden, der ihm nach einem Osterspaziergang zunächst als Pudel und dann in Gestalt Mephistos erscheint. Mephisto bietet einen Pakt, Faust durch die Erfüllung aller seiner sinnlichen Wünsche, Erleichterung zu verschaffen. Der Gelehrte willigt ein, obgleich er dafür nach seinem Tode seine Seele der Hölle überlassen muß.

Faust erlebt auf dieser Basis noch einmal den Traum der Jugend, indem er sich verjüngen läßt. Der Gewinn von Wissen und Erfahrung wird mit moralischem Niedergang bezahlt. So verführt und schwängert Faust ein minderjähriges Mädchen, Gretchen, und zerstört mit dieser Tat eine ganze Familie: Gretchens Mutter, die ihre Tochter beschützen will, erhält von Mephisto einen tödlichen Schlaftrunk; der Bruder, ein Soldat, der die Ehre seiner Schwester wieder herstellen will, kommt im Duell zu Tode. Ihrer Familie und Ehre beraubt und von der Gesellschaft geächtet, wird Gretchen in den Abgrund getrieben. Im Wahn und von Faust verlassen, bringt sie in ihrer Verzweifelung ihr Neugeborenes um.

Doch ist Gretchen nun im moralischen Sinne schuldig? Oder ist sie eine „schuldlos Schuldhafte“? Betrachtet man die kleine und naive Welt ihrer Herkunft, so ist dort etwas, was Faust nicht kennt: Harmonie in seiner Beschränktheit. Gretchen hat früh die Mutterrolle für ihre schwerkranke kleine Schwester übernehmen müssen, welche später verstirbt. Liebe und Fürsorglichkeit für einen Menschen zu empfinden und dabei glücklich zu sein, war eine frühe Lebenserfahrung, welche Faust in seinem Größenwahn nie erkannt hat. Bedingt durch seine Untat, ist er es, der schuldig geworden ist, worauf er versucht, Gretchen für sich zurückzugewinnen. Als diese jedoch merkt, daß Faust sie nicht wirklich liebt, wendet sie sich von ihm ab nimmt ihre Schuld an. Mit der Annahme ihrer Tat wird ein Weg im Umgang mit Schuld gegangen. Die Annahme der Tat – und damit die Übernahme von Verantwortung – ist der Weg zur Befreiung.

Faust nimmt einen anderen Weg, nämlich den der Zerstreuung. Er flieht, von Schuldgefühlen und Angst getrieben, mit Mephisto in eine dämonische Welt, und wird in einer Art Walpurgisnacht auf dem Brocken mit Geld und sexuellem Vergnügen von seinen Problemen abgelenkt. Dennoch erinnert er sich plötzlich visionär an das Mädchen, worauf er zu Gretchen zurückkehrt, um sie mit Hilfe von Mephisto aus dem Gefängnis zu befreien.

Gretchen jedoch bemerkt die lieblosen und egozentrischen Motive Fausts. Daraufhin übergibt sie sich freiwillig dem Gottesgericht, und wird erlöst ( „Ist gerettet!“).

Betrachtet man Fausts Verhalten und versucht es auf die heutige Zeit zu reflektieren, so denke ich, sind durchaus Parallelen zu erkennen, denn der Wunsch nach ewiger Jugend, Lust, Gier, Machtstreben, Schuldgefühle und pure Sinnlichkeit sind für uns Menschen Eigenschaften, die wir alle mehr oder weniger entwickeln. Gesellschaftliche und soziale Zwänge und Doppelmoral werden figürlich dargestellt, wie sie auch heute zum Teil noch vorhanden sind. Faust hatte die Möglichkeit, sinnliche Befriedigung und damit eine Form von „Wissen“ zu kaufen, und war am Ende unglücklicher als zuvor, weil bloße sinnliche Befriedigung und materielles Denken nicht Lebensmittelpunkt sein können.

Ethisch zu handeln, bedeutet damit zunächst das Wissen darum, daß alles einen Preis hat. Vieles wird mit einem zu hohen Preis bezahlt. Moralische Verantwortung bedeutet demzufolge, das rechte Maß zwischen diesen Aspekten zu finden. Dies ist als Lebensaufgabe Weg und Ziel zugleich, wie auch Faust nach langer Wanderschaft erfährt.

 

Das Gute im Menschen aus freimaurerischer Sicht

Wie erkennen und fördern wir Freimaurer nun das Gute im Menschen?

Ethisches Handeln zu bedenken und zu leben – und das kann auch die Annahme von Schuld und Sühne beinhalten – kann in einer schuldhaften Welt ein Weg sein, das Gute im Menschen zu fördern und zu entwickeln. Dies geht nicht ohne Vertrauen.

Im Gottvertrauen spiegelt sich die höchste Form des Vertrauens (Gretchen); im irdischen Leben und Alltag ist echte Freundschaft die Basis für Vertrauen, um das Gute im Menschen zu stärken. Spielt uns das Leben übel mit, müssen wir Schuld aufgrund fehlerhaften Handelns oder andere Formen des Leids ertragen, ist es schwer, an das Gute zu glauben. Das Schlechte kann somit überhand gewinnen und zu Einsamkeit führen.

Ist der „Leidende“ dann erst einmal isoliert oder fallengelassen, so ist sein weiterer Abstieg nicht ausgeschlossen. Daher ist der Freund gefordert, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, was auch viel Toleranz und Mitgefühl bedeutet.

Aber erst in derartigen Krisenzeiten bewährt sich wahre Freundschaft: „Wohl dem, der stets einen Freund und Bruder zur Seite hat!“ Er ist in der Not die wesentliche Kraftquelle des Guten.

Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.

(Goethe, Das Göttliche)

Unsere gemeinsame freimaurerische Arbeit hat das Ziel, das Gute im Menschen zu entwickeln und zu fördern, auch wenn das Gute für jeden von uns durchaus unterschiedlich definiert ist. Brüderlichkeit und Toleranz können diese Unterschiede bei einem festen Willen zu einem harmonischen Streben und konstruktiven Miteinander jedoch aufheben.

Voraussetzung für dieses Miteinander ist die Begegnung auf gleicher Ebene. Dazu muß das kontemplative Bemühen der sich begegnenden Brüder eine gleiche Intensität erreichen. Denn auch wenn Art und Inhalt, Zielsetzung und Erfolg in diesem Bemühen individuell ausgeprägt sind, so ergänzen sie sich jedoch in der gemeinsamen Arbeit in der Loge zum Nutzen und zum Fortschritt aller Beteiligten.

Humanismus ist vor diesem Hintergrund der Glaube an das Gute im Menschen und das Anwenden dieser Überzeugung mit einem kühlen Kopf und einem warmen Herzen.

Die Sonne erinnert uns mit jedem neuen Aufgang, daß die Nacht dem Tag weicht und uns immer wieder eine neue Chance eröffnet, uns auf den Weg zum Guten, Wahren und Schönen zu machen. Auch der Humanismus kann immer wieder diesem neuen Tag begegnen:

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.

(Goethe, Faust II, 5. Akt)

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