Kritik der Gleichheit

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Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!

Sind wir, meine Brüder, diesen Forderungen der Aufklärung und der französischen Revolution nicht in besonderem Maße verpflichtet? Nur ein „freier Mann von gutem Ruf“ kann Freimaurer werden. Zeichnungen auf unseren Internetseiten beschäftigen sich mit der „Inneren Freiheit“ und der „Freiheit, die ich meine“. Wir nennen uns Brüder und wollen in Brüderlichkeit an unserem rauhen Stein arbeiten.
Doch die Gleichheit, meine Brüder, die Gleichheit scheint selbstverständlich. Dabei ist es unerlässlich, gerade über sie zu sprechen! Nicht, weil die Gleichheit so wichtig, oder gar besonders freimaurerisch wäre. Ganz im Gegenteil! Die Freimaurerei ist nach meinem Verständnis einer der wenigen Bollwerke gegen die hemmungslose Verderbnis falsch verstandener Gleichheit. Und dies keineswegs, weil wir historisch ein Männerbund sind.

     Ich werde in meiner Zeichnung nachweisen, dass ein falsches Gleichheitsverständnis unsere freiheitliche Demokratie zerstört und unseren Sozialstaat ruiniert. Diese Auffassung gründet natürlich auf meinem Staats- und Rechtsverständnis; und selbstverständlich sind die wirtschaftliche Rezession Deutschlands, der entsprechend härter werdende Verteilungskampf und die notwendige Reform des Sozialstaates Hintergründe meiner Argumentation. Doch mein Beweggrund für die Wahl dieses Themas ist meine Trauer, manchmal mein Zorn, vor allem meine Sorge über die Zerstörung der ethisch-moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft, über den Verlust der Achtung und des Respekts, über die Verhöhnung der Leistung und über die Kultivierung des Neides in unserer Gesellschaft als unvermeidliches Ergebnis der vorherrschenden Tyrannei gleichheitsorientierten politischen Denkens und egalitaristischer, d.h. gleichheitszentrierter Politik.

     Deutschland kann man, wie alle modernen Sozialstaaten, zutreffend als soziales Verteilungssystem betrachten. Auf nahezu unübersehbar vielfältigen Wegen werden in hochkomplexer Regelungsdichte materielle und immaterielle Güter und Dienstleistungen verteilt. Suchen wir nach der Legitimation für eine derartige Umverteilung, so begegnet uns sofort ein diffuses Argumentsmuster staatlicher Gleichmacherei- und Antidiskriminierungspolitik, der Hilfe für die Benachteiligen, der Pflicht zur Gerechtigkeit, die nahezu intuitiv als Gleichheit interpretiert wird.
Gründe für diese dunkle Bewusstseinslage sind das Fehlen einer normativ-verbindlichen Sozialstaatstheorie und die praktischen Vorteile der gerechtigkeits- und sozialtheoretischen Undeutlichkeit. Mit dem geringsten intellektuellen Aufwand erzielt man mit einer verschwommenen Politik der Statussicherung, besser noch: der Statusverbesserung, die höchste politische Zustimmung. Solange Vollbeschäftigung die Finanzierbarkeit dieser Politik ermöglicht, und solange die moralisch-psychologischen Folgen dieser Politik übersehen werden können, lässt sich damit bestens leben. Wenn die Kosten des Sozialstaates höher werden als seine Finanzkraft, kann man auf Kosten der nachfolgenden Generationen noch eine Weile die Augen verschließen und wie gewohnt ?weiter-sozialen‘. Wenn jedoch die ökonomischen und moralischen Kosten des Sozialstaates unerträglich werden, wird eine Neuordnung zwingend, an deren kläglichen Beginn wird heute stehen.

     Nach dieser erschöpfenden Beschreibung der Programmatik und der Geschichte bundesdeutscher Sozialpolitik in den letzten 40 Jahren bitte ich Euch, verehrter Meister, liebe Brüder, einen Blick auf die dunkle Gemengelage gerechtigkeitsethischer Sozialstaatsbegründung und zumindest auf die Hauptrichtung egalitaristischer, sprich: gleichmacherischer Argumentation zu werfen. 1)
Das theoretische Fundament scheint unanzweifelbar: Der moderne Staat – wer will dem widersprechen – legitimiert sich durch die Wahrung der Menschenrechte, durch seine Rechts- und durch seine Sozialstaatlichkeit.
Doch der Schutz der Würde jedes Menschen, die Schaffung von Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit durch demokratische Institutionen reichen nicht aus. Gerechtigkeit wird eben wesentlich als Gleichheit verstanden. Aber auch Chancengleichheit durch diskriminierungsfreie Bereitstellung öffentlicher Güter, die für das Leben und die Karriere des Individuums relevant sind, ist nicht genug.
Beides, das Faustrecht des Stärkeren wie die natürliche Ungleichheit der Menschen, werden von Egalitaristen als gleich verwerflich betrachtet. Wie das Gesetz und das Gewaltmonopol des Staates die natürliche Ordnung der Gewalt, sprich die Vorherrschaft des Stärkeren, durch Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz ersetzt, so habe nach Ansicht der Egalitaristen der Sozialstaat die Pflicht, die natürliche Ungleichheit der Menschen ausgleichen. Wie es die moralische Pflicht jedes anständigen Menschen ist, Abhilfe zu schaffen, wenn Kinder unschuldig hungern, müsse der Staat allen unschuldig durch die Natur Diskriminierten und unschuldig in Not Geratenen helfen. Kurz: Niemand soll aufgrund von Dingen, für der er nichts kann, schlechter dastehen im Leben als andere. 2) Dass, was jeden zusteht, sei nicht weniger als das Gleiche. 3)

     In dieser Argumentation gibt die moralische Kraft unserer menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundüberzeugungen dem Gleichheitsprinzip ein starkes gerechtigkeitsethisches Gewicht. Doch dieses Gleichheitspostulat ist intellektuell umnebelt, fehlinterpretiert, bestenfalls umgedeutet und wird von den Propheten sozialstaatlicher Verteilungsprogramme hemmungslos ausgebeutet. Selbst die unverschämtesten Begehrlichkeiten werden von organisierten Interessengruppen der Gesellschaft geschickt in vorgeblich gerechte Verteilungsforderungen verkleidet.
Verteilungsgerechtigkeit ist zum normativen Leitstern der westlichen Wohlfahrtsdemokratien geworden, dem die Politik in ihrer alleinigen Suche nach Wählerzustimmung gedankenlos folgt. Statt gestalterischen und strukturreformistischen Willen zu zeigen, wird nur noch sozialstaatliche Wählerbewirtung betrieben. Somit werden rechtsstaatliche Ordnungsvorstellungen durch ein Programm sozialstaatlicher kompensatorischer Umverteilung ergänzt, wenn nicht gar ersetzt.

Nur skizzenhaft kann ich meine Kritik der Gleichheit zusammenfassen. 4)

I.

Menschenwürde ist ein absoluter Begriff, der nicht relational gemessen werden darf. Der Egalitarismus bezieht jedoch seine nahezu intuitive Plausibilität aus der Ungerechtigkeit der Verletzung menschenwürdiger Lebensbedingungen, die er als Ungleichheit beschreibt und anklagt. Wie kann es auch recht sein, wenn die einen hungern und die anderen Champagner schlürfen? Ja, dies ist tatsächlich ungerecht, aber nicht, weil Menschen ungleich viel und Ungleiches zu essen und zu trinken haben. Es ist eben nicht schlecht, dass der eine Champagner trinkt. Es ist allerdings schlecht, dass der andere hungert. Es ist deswegen ungerecht, weil ein wichtiger, ein elementarer, ein absoluter Gerechtigkeitsstandard verletzt wird, wenn Menschen hungern müssen. Es kommt eben darauf an, dass alle Menschen genug zu essen haben, und nicht, dass alle Gleiches essen und gleichermaßen viel Champagner trinken.
Nochmals: Menschenwürde wird durch elementare, nicht relationale Standards der Gerechtigkeit garantiert! Hunger und Krankheit müssen bekämpft werden. Ebenso muss Rechtssicherheit bei Gericht garantiert werden, weil dies absolute Erfüllungswerte, Bedingungen menschenwürdigen Lebens sind – und nicht deswegen, weil es anderen besser geht, andere auch Rechtssicherheit genießen. Ob andere Menschen auch hungern oder krank sind, oder rechts- und schutzlos staatlicher Willkür ausgeliefert sind, ist ohne Belang. Das Übel ist der Hunger des einen, die Rechtsunsicherheit des eines, und nicht, dass der andere jeden Tag Hummer isst. Und das (post-)kommunistische Ausbeuterargument, dass der eine hungert, weil der andere Hummer isst, wird durch häufige Wiederholung in der nationalen wie internationalen Umverteilungsrhetorik auch nicht wahrer.

     Wenn jedoch deutlich ist, dass sich die Forderung nach Gleichheit moralisch nicht mehr auf die Ungerechtigkeit der Verletzung der Menschenwürde stützen kann, dann verschwindet erstens die „Eingemeindungsrhetorik“ der Gleichmacher, das Umarmungsargument „Wir-sind-doch-alle-für-Gerechtigkeit-und-Gleichheit“. Nein – wir alle sind für Gerechtigkeit. Gleichheit ist dagegen kein absoluter Wert, bestenfalls manchmal ein Nebenprodukt.
Zweitens verlieren die gerechtigkeitsethisch umnebelten ?Gut-Menschenrechtler‘ und ihre Gleichheitszumutungen ohne die moralische Rückendeckung der Menschenrechte die Kraft, sich gegen sehr wohlbegründete Gerechtigkeitsstandards durchzusetzen, die Ungleichverteilung und Ungleichbehandlung verlangen: nämlich die Verteilung nach Verdienst, nach Qualifikation, nach Anspruch und Bedarf, ja sogar nach Alter und Rang und vieles mehr.

II.

     Es gehört zum gängigen Repertoire der Gleichheitsrhetoriker, ihre Forderungen als Hilfe für unverdient Benachteiligte, unschuldig in Not Geratene zu rechtfertigen. Das bedingt zwingend, dass Menschen, die keine Verantwortung für ihr Schicksal tragen wie z.B. von Geburt an Behinderte, von denen unterschieden werden, die an ihrem Unglück selbst Schuld haben. Der Staat, seine Bürokraten, entscheiden, wer in welche Kategorie gehört. Menschen, die eine bestimmte Hilfe erhalten wollen, müssen sich also der Beurteilung anderer unterwerfen. Dies ist ein derart gängiges Verfahren, geradezu ein Charakteristikum des bürokratisierten Sozialstaates geworden, dass diese Zerstörung der Privatheit und der Autonomie des Einzelnen heute scheinbar niemanden mehr besonders berührt. Vom Finanzamt, über das Gewerbe- oder das Sozialamt, über die Krankenkassen bis hin zu den Kreditabteilungen der Banken – der Bürger ist gläsern geworden, seine Autonomie aufgehoben, seine Privatheit nicht mehr vorhanden. Das Individuum wird unter allen Umständen entmündigt, nicht zuletzt durch gerechtigkeits- und gleichheitsethisch begründete Sozialstaatsbürokratie stigmatisiert und in seiner Würde verletzt.

III.

     Gerechtigkeit ist so kompliziert wie das Leben selbst. Allein mit dem Gleichheitsprinzip in Verbindung mit dem Ziel der Glücks- und Wohlstandsmaximierung ist Gerechtigkeit nicht erzielbar. Um sich der Gerechtigkeit zu nähern, müssen viele Kriterien beachtet, muss die Gültigkeit anderer Prinzipien wie z.B. das Qualifikations- und das Verdienstprinzip anerkannt werden. Qualifikation und Verdienst, aber auch viele andere Charakteristika jedes einzelnen Menschen wie körperliche Gesundheit und geistige Kraft, Durchsetzungsvermögen, Risikobereitschaft, Arbeits- und nicht zuletzt Leistungswille sind jedoch stets auch fremdverursacht durch Geburt, soziale Umgebung oder einfach nur Zufall und Glück – also durch höchst ungleich verteilte Güter.

     Geliebte Brüder – Das Leben eines jeden von uns ist von so unterschiedlichen genetischen und sozialen Ausgangsbedingungen geprägt, von teilweise extrem unterschiedlichen Chancen und Risiken begleitet. Wir wissen, dass Gleichheit manchmal ein Nebenprodukt von Gerechtigkeit sein kann, alleine die Gleichheit aber keine Gerechtigkeit schafft. Verblüfft betrachten wir angesichts dieser selbstverständlichen und unveränderbaren Ungleichheit die Diktatur der auch intellektuell unbegründbaren gleichheitsdominierten Sozialstaats-Ideologie. Sie ist jedoch äußerst wirksam, weil sie intuitiv plausibel erscheint und eine intellektuell völlig anspruchslose, aber zustimmungssichere Politik der Wählerbewirtung nach dem Motto ermöglicht: Ich gebe Dir einen aus, wenn Du mich wählst.
In dieser Wirtshausdemokratie hat jeder Wähler im neidvollen Blick auf den anderen die Definitionshoheit über seine tatsächliche, eingebildete oder nur taktisch behauptete Benachteiligung. Wenn sich der Staat nicht als Garant der Freiheit des Einzelnen, sondern als gleichheitsverpflichteter Natur-, Schicksals- oder nur Faulheitskompensator aufspielt, hat jeder die Definitionshoheit über seine scheinbar stets berechtigte Ausgleichsforderung. Ein solcher Staat vergibt fortwährend Prämien als Kompensation auch für nur behauptete oder selbstverschuldete Ungleichheit. Er produziert den Neid, die Ungleichheit, die Ungerechtigkeit. Er entmündigt den Bürger, zerstört die Privatheit des Einzelnen, seinen Anspruch auf ein eigenständiges, selbstverantwortliches Leben, zerstört die Freiheit des mündigen Bürgers. Die gleichheitsethisch begründete Aufgabenausweitung des Sozialstaates, seine Verteilungsdynamik mit stetig wachsender Regulationsdichte, kurz: sein unaufhörlicher Machtzuwachs haben diese Freiheit zerstört.

     Dabei stellt die Gleichheitsideologie jedoch keinerlei unangenehme und unbequemen Anforderungen an den Einzelnen. Sie befriedigt im Gegenteil die unedelsten Gemütsregungen auch der Primitivsten, Dümmsten und Faulsten. Der Neid, die Dummheit, die Faulheit, das Fehlen jeder Disziplin, das Fehlen jeder Selbstkritik, das Fehlen jeder Achtung vor dem Anderen, dem auch objektiv Besseren, werden legitimiert und weiter gefördert. Wenn der eine reich, der andere arm ist, dann liegt dies -gemäß der Gleichheitstheorie – eben nicht oder zumindest nicht hauptsächlich daran, dass der Reiche klüger ist oder härter arbeitet als der arme. Nein – es ist vor allem ungerecht, und muss deshalb vom Staat kompensiert werden. Und wenn der andere hohe Verdienste hat, eine herausragende berufliche Stellung einnimmt oder eine wertvolle sittlich moralische Persönlichkeit ist – nein: all dies ist kein Grund zur selbstkritischen Frage noch dem eigenen Verdienst, der eigenen Persönlichkeit, der eigenen Moral.
Nein – eigenes Versagen, eigene Fehler, eigene Minderleistung, gar eigene Minderwertigkeit im Vergleich mit anderen zuzugeben, Achtung zu haben und Respekt zu erweisen den Eltern, dem Lehrer, dem Vorgesetzen, dem erfolgreichen Geschäftsmann, dem Wissenschaftler wie der Krankenschwester, kurz: jedem Menschen, der seine Aufgabe in Gesellschaft und Beruf, so bedeutend oder unbedeutend sie auch sei, gewissenhaft erfüllt – all dies ist nicht nötig. Der Faule ist gerade so gut wie der Fleißige, der Unwillige oder Unfähige so gut wie der Erfolgreiche, der moralisch Disziplinierte so gut wie der Ethiklose. Sind wir doch alle gleich! Und wenn wir nicht gleich sind, so ist dies ungerecht, und der Staat muss ausgleichen. Denn was uns ohne Arbeit zusteht, ist Freiheit, ist Gleichheit, ist Brüderlichkeit !?

Ich fordere uns alle – meine Brüder – zum Kampf für die Freiheit und zur Kritik der Gleichheit auf. Ich fordere Achtung und Respekt, Eigenverantwortung und die Zurückweisung des sozialen Gleichmacherstaates. Ich wünsche uns allen die selbstverantwortete Freiheit der Freimaurer.

* * *

Anmerkungen

  1. Die Zeichnung bietet nicht den Raum, allein die Hauptvertreter egalitaristischer Gegenwartsphilosophie sowie ihrer Kritiker differenziert anzudeuten. Deshalb sei verwiesen auf Krebs, Angelika (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a.M. 2000, bes. S. 10-33 und Kersting, Wolfgang, Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral. Weilerswist 2002, bes. S. 23 ff
  2. S. Rawls, John, Theory of Justice, 1971, zitiert in Krebs, A., a.a.O., S. 7
  3. Einen Überblick über Hauptrichtungen und Hauptvertreter egalitaristischer Gegenwartsphilosophie sowie ihrer Kritiker siehe u.a. bei Krebs, A., a.a.O., S. 10-33 und Kersting, Wolfgang, Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral. Weilerswist 2002, bes. S. 23 ff
  4. Aus der vielfältigen Literatur zur Egalitarismuskritik und ihrer unterschiedlichen Facetten verweise ich beispielhaft auf Frankfurt, Harry, Equality as a Moral Ideal, in: Ethics 98 (1987), S. 21-42