Von Johannes dem Täufer, dem Schutzpatron der Freimaurerei, stammt die Aufforderung „Verändert euren Sinn“. Was können wir unter dieser Aufforderung verstehen?
Verändert euren Sinn
Eine Wohnung kann ganz leicht verändert werden, in dem man zum Beispiel einen Tisch ver-rückt. Und beim Menschen? Wie kann der Sinn eines Menschen verändert werden? Indem wir uns auch ganz leicht ver-rücken?
Ein in diesem Sinne Ver-rückter tritt uns jedenfalls unmittelbar in der 12ten Tarot-Karte „Der Gehängte“ gegenüber.
Betrachten wir die Karte, so sehen wir zwei nebeneinanderstehende Bäume, die in einer Höhe von etwa 1,60 Metern durch einen Balken miteinander verbunden sind. An dem waagerechten Balken ist in der Mitte ein Seil befestigt, das das Fußgelenk eines jüngeren Mannes umschlingt, wobei dessen gesamter Körper derart nach unten hängt, dass sich der Kopf des Mannes direkt in eine kleinere Grube senkt, die sich am Fuße zwischen den beiden Bäumen befindet.
Wir haben es bei der hängenden Person mit jemandem zu tun, der offensichtlich insofern ver-rückt ist, als er verkehrt herumhängt. Genauer gesagt hat sich seine gewöhnliche Position um genau 180° verschoben. Oben ist dadurch unten, was links war ist jetzt rechts.
Auffällig erscheint bei alldem auch die als eine umgekehrte 4 geformte dreieckige Beinstellung des Mannes, die dadurch entsteht, dass ein Bein das andere in einem 90°-Winkel kreuzt.
Die Hände der Person befinden sich hinter dem Körper und können vom Betrachter aus nicht gesehen werden. Unter den gleichförmig gewinkelten Armen hält der Gehängte jeweils einen Beutel, dem Münzen entfallen.
Die Bäume haben jeweils 6 kurze, knospenartige oder verkürzte Äste, die sich sprossenartig nach oben ausrichten, wobei ihre Gesamtsumme die Zahl der Karte, d. h. 12, bildet. Zu den Füßen der Bäume um die Grube herum sehen wir eine Zahl kleinerer Pflanzen wachsen.
Nun ja, diese Karte ist schon etwas wunderlich. Denn das Gesicht des Gehängten, das von einer Art Haarkranz umgeben ist, strahlt überraschenderweise eine wundersame Ruhe aus. Hält man die Karte umgekehrt, wirkt er auf den Betrachter sogar wie ein Tänzer.
Stellen wir uns vor, wir würden an einem Fuß mit dem Kopf nach unten aufgehängt, so würden wir uns vermutlich äußerst unangenehm fühlen. Zum einen die schmerzhafte Haltung, zum anderen die isolierte Lage. Denn nirgendwo ist Hilfe zu sehen, etwa eine Person, die ihn abschneiden könnte. Vielmehr scheint es so, als hätte man an diesen Bäumen dort jemanden „hängen (ge)lassen“.
Sollte dies also eine Folter sein, dann findet sie ohne Zeugen statt. Zumindest ist niemand zu sehen, der den Gehängten begafft. Vielleicht ist es aber auch gar keine Folter – jedenfalls keine der mittelalterlichen Praxis, in der durch die verbreitete Teilhabe des Volkes der Abschreckungseffekt erhöht werden sollte.
Während der Mann nun da hängt, fällt ihm zu allem Elend auch das vermutlich letzte Geld hinunter. Auch dies ist normalerweise ungewöhnlich: Denn hätte man ihn als Opfer (?) nicht vorher ausgeraubt oder ihm als etwaigem Dieb (?) nicht vorher die Beute entwendet?
Die Hände des Gehängten sind wie bereits gesagt hinter dem Rücken unsichtbar verschränkt. Vielleicht sind sie gefesselt. Jedenfalls kann er scheinbar nicht in das Geschehen eingreifen in das er verwickelt ist. Der Funktion seines menschlichsten Werkzeuges beraubt, scheint er einfach nur passiv da zu sein, quasi ausschließlich „da-bzw. so-seiend“ oder „rein existent“. Zufall? Wohl kaum.
Der Gehängte wirft also für den Betrachter zahlreiche Fragen auf.
- Wie kommt er dahin?
- Warum hängt er da?
- Welche Botschaft verbirgt sich in dem Bild?
- Wie kann diese Botschaft, sofern es eine ist, entschlüsselt oder entziffert werden?
- Und zuletzt: Wie stellen wir hierzu einen freimaurerischen Bezug her?
Um die hier angesprochenen Fragen angehen zu können, erlaube ich mir zunächst ein paar knappe Worte über das Tarot.
Die genaue Herkunft des Tarot ist unbekannt. Dessen mythisch-allegorische Bildreichtum, den wir kennen, ist vor allem mittelalterlich und von der Frührenaissance geprägt. Es ist zu vermuten, das zunächst ein Tarot vielleicht in Form eines Ur-Kartenspiels entstand, in das im Laufe der Zeit in eklektischer Weise unterschiedliche religiöse, mythische, kabbalistische, philosophische, alchemistische und nicht zuletzt freimaurerische Elemente einflossen. Unabhängig von der im Dunkel liegenden Geschichte kann der Tarot nicht zuletzt deshalb als konzentrierte bildliche Darstellung von wesentlichen Aspekten des menschlichen Lebens verstanden werden, in der jede Karte für sich genommen das Bild einer einzelnen Situation beschreibt.
Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang zu betonen, dass die Deutung des Tarot und damit auch dessen etwaige Botschaft interpretationsbedürftig sind. Eine unstrittige ‚Wahrheit‘, die in den Karten liegt, gibt es nicht, was u. a. dazu geführt hat und führt, dass Tarot-Karten immer wieder von Interpreten und Künstlern in ihrer Darstellung geändert wurden und werden. Allein schon deshalb ist das Tarot auch nicht für Wahrsagungen und Prophezeiungen im Sinne eines „symbolischen Systems objektivierten Wissens“ geeignet.
Andererseits sind das Tarot und seine vermittelten Gedanken keine reine Willkür. Vielmehr steckt ein hohes kulturgeschichtliches Erbe in diesen Bildern, das uns auch in der heutigen Zeit im Hinblick auf persönliches Wachstum viel geben kann. Die Essenz der Botschaft dieser Karte muss jedoch vom Betrachter selbst erschlossen – und das heißt erarbeitet – werden.
Die Psychologin Marion Geukos-Hollenstein schreibt in ihrer Promotion über das Tarot:
„Thema ist der Mensch und sein Werdensprozeß innerhalb des mikro-makro-kosmischen Beziehungsgefüges. Wir können die Tarotbilder auch als eine besondere Auswahl von archetypischen Grundmotiven menschlichen Seins betrachten. … Die äußere Form, in der solche Ideen erscheinen, verändert sich je nach Zeitgeist und Kultur, doch bleibt der innere Gehalt relativ konstant, weil in ihm ‚Allgemeinmenschliches‘ zum Ausdruck kommt. … In den Tarotbildern spricht sich der Mensch über sich selber aus.“
Im Zentrum des Tarot, das insgesamt aus 78 Karten besteht, steht die sogenannte große Arkana, die aus 22 nummerierten Trümpfen besteht. Einer dieser Trümpfe ist der Gehängte, dem ich mich jetzt wieder zuwenden will (Anmerkung 1).
Betrachten wir vor dem gerade dargelegten Hintergrund der erwähnten „äußeren Formen“ und „archetypischen Grundmotive“ einige der Bestandteile, aus denen sich das Gesamtbild des Gehängten zusammensetzt:
Die herunterfallenden Münzen – Münzen stehen im Tarot überwiegend für die Möglichkeit eines „handelnd-verhandelnden Umgangs mit materiellen Werten“ wie auch als „Symbol für die Umwertung und Verwandlung aller Dinge“. Wir sehen in der Karte, wie der Gehängte Münzen verliert, wie also das Materielle von ihm abfällt. Wir könnten auch sagen: Der Gehängte wird „seiner Metalle beraubt“. Wir können dies vielleicht so interpretieren, dass das gewöhnliche, tradierte und (i.d.R.) materiell ausgerichtete Handeln wie Ballast fallen gelassen werden muss, damit sich etwas anderes ereignen oder entfalten kann. Da dieses Fallenlassen offensichtlich passiv und ohne fremdes Einwirken geschieht, könnten wir durchaus von einer Selbstverursachung bzw. einem Selbstverzicht sprechen.
Die Grube – Die Grube repräsentiert Höhle, Mutterleib oder Erde. Knaurs Lexikon der Symbole schreibt dazu: „geheimnisvolles Tor zu einer unterirdischen Welt …“ Sinnbild des gebärenden Mutterschoßes … Schauplatz der chthonischen (d.h. der Erde und der Unterwelt zugewandten) Symbol- und Kultwelt … Ort der Kontaktaufnahme mit den Kräften und Mächten der Tiefe … In der tiefenpsychologisch gedeuteten Traumsymbolik ist der gefahrvolle Weg durch die Höhlen in erster Linie als Hinweis auf die Suche nach Lebenssinn … zu deuten …(A 2)
Strick – Zum einen Rechtssymbol, zum anderen in der Magie von Bedeutung („etwas magisch binden“); kann aber auch, und darauf machte mich eine Freundin aufmerksam z. B. als Nabelschnur gedeutet werden, an der man hängt. Erst wenn man davon getrennt wird, kann ein eigenständiger Weg eingeschlagen werden.
Fuß – Je nachdem, ob das linke oder das rechte Fußgelenk gebunden ist, wird in der Tarotliteratur darauf hingewiesen, dass die Stellung des Gehängten entweder bewußt oder aber unbewußt eingenommen wird.
Kopf – Die Stellung des Körpers nach unten bedeutet nicht, das der Gehängte unbeteiligt ist. Denn Aktivität kann auch geistiges Mitdenken bedeuten, worauf Haarpracht sowie die exponierte und wache Stellung des Kopfes – und damit zugleich des Geistes – zweifelsfrei hindeuten. Auch wird der Kopf auf einigen anderen Tarot-Karten des Gehängten durch eine Art Heiligenschein besonders betont.
Baum/ Bäume – Sie repräsentieren in vielen Kulturen als Weltenbaum das Symbol des Lebens. Eine Schlüsselstellung für unseren Kulturkreis nimmt in diesem Kontext z. B. die Szene ein, in der Odin am Lebensbaum hängt, um hierdurch und durch den Verlust eines Auges Weisheit in der Sprache der Runen zu erlangen. Die Edda schildert die Szene wie folgt:
Ich weiß, dass ich hing
Am windigen Baum,
Neun Nächte lang,
Mit dem Ger verwundet,
Geweiht dem Odin,
Ich selbst mir selbst.
An jenem Baum, da jedem fremd
Aus welcher Wurzel er wächst.
In einigen Karten hängt der Gehängte an einem Baum, der wie der Buchstabe T geformt ist. Dies entspricht der unteren Hälfte eines ägyptischen Ankh, der ebenfalls ein Symbol des Lebens darstellt. Die parallel ausgerichtete Stellung der Bäume auf der von mir verwandten Karte erinnert uns an die Säulen B und J des Arbeitsteppichs – und das sollen sie auch. Denn der Gestalter des von mir für die Zeichnung verwandten Tarots, Oswald Wirth, war selbst Freimaurer und hat demzufolge freimaurerische Motive in seinen Karten besonders gepflegt.
Münzen, Strick, Grube, Baum – Wir haben jetzt exemplarisch einige zentrale Aspekte betrachtet, aus denen sich das Bild zusammensetzt. Aber noch sind wir dadurch vermutlich noch nicht schlauer geworden. Denn es fehlt eine Gesamtschau, die das Puzzle der einzelnen Elemente sinnvoll in eine Form bringt.
Wie erwähnt, kann es hierüber keine einhellige Meinung geben. Aber ich will Euch hierzu gerne auf Basis unterschiedlicher Interpretationen meine Gedanken vortragen.
Aus meiner Sicht tritt uns beim Gehängten ein reichhaltiges Weltkulturerbe in Gestalt von der bereits angesprochenen „Archetypen“ entgegen, die der Psychologe C.G. Jung erarbeitet hat. Wir finden derartige Archetypen in den Märchen und Sagen der Völker – aber eben auch im Tarot. Welchen Archetyp etwa der Gehängte darstellt, kann meines Erachtens am besten assoziativ erschlossen werden.
Woran denken wir bei Betrachtung des Bildes? Mir sind vor allem zwei Bereiche eingefallen, die jedoch, wie wir sehen werden, überraschenderweise – oder aber eben gerade nicht überraschend – auf eine Botschaft hinauslaufen:
- Zunächst einmal wissen wir von Kulten und Mythen unterschiedlicher Völkern, dass dort unter anderem Bäume und Höhlen eine große Rolle spielen. Dies insbesondere beim Übergang von der Jugend zum Erwachsenen und/oder vom Uneingeweihten zum Eingeweihten – so etwa bei den Schamanen. Sollte vielleicht der gesellschaftlich bzw. von seinem Stamm oder Dorf isolierte junge Gehängte auf einen derartigen Initiationsritus hindeuten? (Vielleicht kennt der ein oder andere den Film „Der Mann, den sie Pferd nannten“, der eine ähnliche Situation beinhaltet.)
- Meine zweite Assoziation war die, dass ich an indische Yogi und/oder an arabische Fakire gedacht habe, die durch unterschiedliche körperliche Übungen und Entsagungen einen Zugang zum Göttlichen bzw. zu Erkenntnis suchen. Stellt der Gehängte demnach einen orientalischer Adepten oder Weisen dar?
- Eine weitere Assoziation ist die eines alchemistisch inspirierten Bildes. Bruder E.K. hat in einer Zeichnung mit dem Thema ‚Esoterik‘ einen Aspekt herausgestellt, den er „Technik der konsequenten Umpolung“ genannt hat. Diese Umpolung basiert auf dem vom Urvater der Astrologie und Alchemie Hermes Trismegistos entworfenen sogenannten Analogiegesetz. Ich halte dieses Analogiegesetz deshalb für besonders passend, da es aus meiner Sicht den Ursprung der Karte begründen könnte.Das Analogiegesetz lautet: „Dasjenige, welches unten ist (A 3), ist gleich demjenigen, welches oben ist. (A4) Und dasjenige, welches oben ist, ist gleich demjenigen, welches unten ist, um zu vollbringen die Wunderwerke eines einzigen Dinges“. Der Kosmos, der sich für uns oberflächlich nur aus Gegensätzlichkeiten zusammensetzt (Dualismus), muss dieser Auffassung nach im Gegenteil als harmonische Einheit gesehen werden, die der Mensch verstehen kann und an der er sein Handeln ausrichten sollte.Die goldene Regel der Umpolung lautet in diesem Kontext – ich folge hier der Darstellung von E.K.:
Erkenne Dich selbst (den Mikrokosmos)!
Erkenne die Gesetzmäßigkeit des Universums (Makrokosmos)!
Erkenne, daß die Gesetzmäßigkeit gut ist (in Harmonie gehen)!
Stelle Dich freiwillig und vollständig unter die als ‚gut‘ erkannte Gesetzmäßigkeit!
Der Gehängte könnte demnach als ein Mensch gesehen werden, der durch seine „Umpolung“ Einsicht in die Dinge der Welt erhält. (A 5)
Für die weitere Betrachtung macht es meiner Ansicht nach Sinn, eine abgemilderte weltliche und eine religiöse Dimension zu unterscheiden:
In der weltlichen Variante bezieht sich die Karte m. E. auf eine erkenntnisbasierte „Einsicht“ im Denken, die sich dann ergibt, wenn man über seine Stellung in der Welt bzw. im Kosmos nachdenkt. Das Denken bewirkt, dass man einen anderen Standpunkt als den bisherigen einnehmen oder verstehen kann.
Eine andere Variante mit einem stärker religiösen Bezug kann im Gehängten einen meditativen und erhabener Geist in einem erleuchteten Zustand sehen. In dieser mentalen Verfassung erreicht der Schüler das göttliche Bewußtsein ‚reinen Seins‘. Die gesamte Gestalt ist dann wie ein stillstehendes Pendel ungerührt und unbeweglich, denn sie hat erkannt, daß nicht die Person selbst denkt, sich bewegt oder handelt, sondern daß sie einfach die Gedanken, Bewegungen und Handlungen einer Identität ausdrückt. Der Mensch erkennt sich als Teil eines sich zwar in seinen Erscheinungen wandelnden, aber dennoch zeitlos existierenden „göttlich-kosmischen“ Gesetzes. (A 6) In diesem Zustand erhält er durch Einsicht (Wachsamkeit) im Übrigen das zurück, was im Zen-Buddhismus das ‚ursprüngliche Gesicht‘ genannt wird. (A 7)
Die 12te Tarot-Karte weist mit dem Aspekt der Umkehr in seiner weltlichen Variante einen Weg, wie wir aus meiner Sicht Freimaurerei verstehen können, wenn wir nicht in die tieferen esoterischen Dimensionen eintauchen möchten. Ich will mich daher zunächst auf diesen weltlichen Aspekt beschränken.
Zur Selbsterkenntnis, so lautet meine Interpretation der Karte, muss die eigene Position, die eigene Weltsicht und damit Wahrnehmung verändert werden. Nur indem man das für einen selbstverständlich Erscheinende hinterfragt, kann eine andere Sicht der Dinge erreicht werden, da das eigene eindimensionale und einseitige Denken von einem Gegenpol befruchtet wird.
Der Positionswechsel, den der Gehängte andeutet, ist vorteilhaft, weil man hierdurch die Erfahrung von zwei Sichtweisen macht. Nämlich zum einen die erste Sichtweise, die z. B. stark von Herkunft, Erziehung, Kultur, Status etc. abhängt (also der aufrechte Gang, mit dem man sich täglich bewegt) und zum anderen die zweite Sichtweise, die man sich selbst erarbeitet hat (Kopfüber). Erst das Erzeugen einer zweiten Sichtweise erweitert den Horizont und erzeugt hierdurch im Idealfall Toleranz im Denken. (A 8) Voraussetzung toleranten Denkens ist nämlich immer, dass man zunächst einmal um eine zweite Perspektive weiß und sie dann als Chance begreift, das Alltägliche, Selbstverständliche des eigenen Lebens zu hinterfragen. (A 9)
Eine solche Änderung der Wahrnehmung kann unbewußt oder bewußt erzielt werden. Die Vaterschaft oder Mutterschaft z. B. kann etwa eine unbewußte Änderung der Weltsicht bewirken. Die Verantwortung, die mit der neuen Rolle verbunden ist, macht fast immer neue Prioritäten und Sichtweisen notwendig. Der Verlust von Verwandten und Freunden kann ebenfalls zu einer anderen Weltsicht führen, da sie uns die Grenzen der menschlichen Existenz „einsehbar“ macht (wenn wir uns dem Gedanken um den Tod herum öffnen).
Eine Änderung der Sichtweise kann aber auch bewußt gesucht werden. Im bekannten Film „Der Club der toten Dichter“ mit Robin Williams läßt dieser als Lehrer seine Schüler auf den Podiumstisch stellen, damit sie den Klassenraum und damit ihre eigene Welt von einer neuen und anderen Perspektive aus sehen können. Das ist aus meiner Sicht eine wesentliche Botschaft der Karte, und ich möchte daher diesen bewußten Perspektivenwechsel noch einmal gesondert ansprechen.
Liebe Brüder, wie ihr wisst, werde ich im nächsten Jahr für voraussichtlich zwei Jahre nach Afrika, genauer gesagt nach Tansania, gehen. Der Gang in ein Entwicklungsland ist nicht einfach. Er setzt sogar einige Opfer voraus. Zum einen der Verzicht auf liebgewonnene Gewohnheiten, die einem selbstverständlich erscheinen. Das allmorgendliche kontinentale Frühstück mit Brötchen und Marmelade zum Beispiel. Ferner muss Wasser von Hand gepumpt werden, Stromausfälle sind nicht ungewöhnlich. Es bestehen ferner nicht unerheblich Gesundheitsrisiken und außerdem bleibt die Frage offen, wie es nach zwei Jahren beruflich weitergehen wird, da der klassische Berufsweg sozusagen in einem Alter unterbrochen wird, in der der Grundstock für eine klassische Karriere gelegt wird. Ist mein Verhalten also verrückt? Habe ich mich geistig verrannt, verirrt? – In diese Richtung gehen jedenfalls Befürchtungen wohlmeinender Brüder und Freunde, mit denen ich in letzter Zeit gesprochen habe.
Geistiges Verändern kann unter Umständen tatsächlich insofern gefährlich sein, als von dem abgerückt wird, was gemeinhin in einem breiten Konsens als bürgerlicher und erstrebenswerter Lebensweg verstanden und erwartet wird. Gefährlich ist die Veränderung etwa im Fall von Georg Samsa in Franz Kafkas „Die Verwandlung“. Dort nämlich findet sich Samsa bedauerlicherweise eines morgens in einen Käfer verwandelt – eine Gestalt, die Samsas innere Wandlung nach außen hin verkörpert. Die Umwelt trägt die Änderung nicht mit und Samsa geht schließlich von seinen Mitmenschen unverstanden zu Grunde.
Ist dies der zu zahlende Preis für Veränderung? Das hängt meines Erachtens stark vom jeweiligen Umfeld ab. In jedem Fall möchte ich dieser negativen Sicht entgegenstellen, dass nur im Verzicht auf Gewohntes und im ständigen Wandel etwas Neues wachsen kann. In Aussagen wie „täglich erneure dich“ wird diese Idee auch in unserem Kulturkreis gepflegt.
Auf die Karte „Der Gehängte“ folgt im Tarot die Karte 13, „Der Tod“. Diese Karte löst oft Erschrecken aus. Der Tod steht jedoch im Tarot nicht für ein wie auch immer geartetes Ende oder Auslöschen, sondern vielmehr für Wandlung und Neugeburt. Die Karte, die aus gutem Grund in der Mitte und nicht am Ende der Großen Arkana liegt, deutet an, das nichts bestehen kann und das alles dem Wandel unterliegt. Die Einsicht, auf die die Karte des Gehängten verweist, führt unmittelbar zum Tod hin, wobei darunter jedoch nicht der physische Tod sondern vielmehr geistige Erneuerung gemeint ist (Transformation).
Nehmen wir dies ernst, scheint mir die zentrale Botschaft der Karte in ihrem Kontext klar zu sein: Es kann nur dann Wandel geben, wenn etwas anderes – hier: das gewohnte Leben – verändert bzw. umgeformt wird. (A10) Der Einsicht (Karte: Gehängter) folgt die Veränderung (Karte: Tod).
August Wolfstieg schreibt in seiner „Philosophie der Freimaurerei“:
„Die Freimaurerei hat mit der Wiedergeburt, d. h. mit dem Absterben und Wiederaufbau des inneren Menschen … zu tun.“
Damit ist ein freimaurerischen Weg bezeichnet, der mit dem „Erkenne dich selbst“ beginnt, der aber damit keinesfalls zu Ende ist. Die Einsicht in die Dinge, wie sie die Karte des Gehängten vermittelt, ist bei dieser Sicht die notwendige Voraussetzung für Wandlung und damit für geistige Neugeburt.
Ich möchte diesen Gedanken aufgreifen: In Afrika als Entwicklungshelfer zu sein bedeutet für mich persönlich, den Anspruch der Freimaurerei als Lebenshaltung (= Arbeit am rauhen Stein) ernst zu nehmen. Und das bedeutet konkret, mich im Guten wie im Bösen kennen zu lernen, meine Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten zu erkennen und am Kontakt mit dem klaren Gegenpol der afrikanischen Kultur zu wachsen.
Freimaurer müssen daneben aus meiner Sicht präsent sein. Dem realen Menschen, mit denen wir etwas gemeinsam bauen wollen, können wir nicht im Fernsehen begegnen. Im Fernsehen bleiben Menschen abstrakt. Mitmenschliches Interesse und persönliches Engagement kann auch ein pralles Spendenkonto nicht ersetzen. Der Kontakt mit den Menschen eines anderen Kontinents erweitert daher, so hoffe ich, mein Verständnis von dem, was unter der Vielheit der Menschheit zu verstehen ist und was Mitmenschlichkeit konkret meint und bedeutet.
Wir klammern uns gern an das Bekannte und suchen Stabilität dadurch, dass wir unser Leben weit in die Zukunft hinein planen bzw. verplanen. Wir suchen das Stete und fürchten das Unstete. Die Urerfahrung des Lebens ist aber m. E. die, dass es riskant ist, denn Leben heißt Veränderung. Wir können der inhärenten Unsicherheit des Lebens nicht entfliehen. Überall holt sie uns wieder ein. Religionsstifter und Mystiker haben in vollem Bewußtsein dessen immer wieder ein naives, kindliches Vertrauen in das Leben bzw. Offenheit gegenüber den Entwicklungen des Lebens gefordert. Ich erinnere an die Lilien im Felde.
In der Wanderung als Suchender bei der Aufnahme begegnen wir gleichermaßen diesem Gedanken: Der Suchende muss durch die Dunkle Kammer, er muss also durch eine Grube hindurch (Per apera ad astra); er muss von West über Nord und Ost und Süden wandern, denn tut er dies nicht, überwindet er keine Furcht oder gar Angst, gewinnt er keine Erfahrungen und kann dem symbolischen Ziel seiner Vervollkommnung im freimaurerischen Sinne nicht entgegenkommen. Dieser angedeutete Weg ist ein Weg des Vertrauens. Er endet nicht mit der Aufnahme.
Mein Credo der Karte des Gehängten lautet deshalb vor diesem Hintergrund:
Das Leben eröffnet immer wieder einen Weg. Habe deshalb keine Angst, Dich bzw. Dein jetziges Leben zu verändern. Denn wenn Du hierfür offen bist, dann hast Du die Chance, ein neues, anderes Leben zu entdecken. Unabhängig davon erscheint Dir das Gewohnte, die Routine nur deshalb sicher, weil es in der Vergangenheit sicher war. Aber dieser Gedanke ist falsch, denn für der Zukunft gibt es keine Garantie. Alles fließt und wir alle sind sterblich. Erst Vertrauen kann die Unsicherheit hiervor und allen anderen Unsicherheiten mildern. Vertrauen ist daher eine Basis spiritueller Entwicklung.
An einem Baume zu hängen, setzt eine Menge Vertrauen voraus. Der Strick kann reißen, der Ast brechen, hilflos ist man Feinden ausgeliefert; die erwartete Erkenntnis, die man erhofft, kommt womöglich nie. Wir müssen uns den Gehängten deshalb als einen sehr vertrauensvollen Menschen vorstellen.
Nur wer deshalb bei allen berechtigten Zweifeln Vertrauen ins Leben, in seine Mitmenschen und Brüder und zu sich selbst fassen kann, wird aus meiner Sicht auf seinem freimaurerischen Weg weiterkommen. Nur derjenige kann dann um sich und letztlich auch als Meister über sich schauen, der erkennt, dass er nicht auf sich selbst beschränkt ist. Freimaurerei und die vorgestellte Betrachtungsweise des Tarot ergänzen sich deshalb aus meiner Sicht in vielen Punkten.
Die ägyptische Sprache mit den Worten Tar = Weg, Pfad und Ro = König legt uns nahe, die Beschäftigung mit dem Tarot ebenso wie die Arbeit am rauhen Stein in der Freimaurerei als schwierigen, königlichen Weg aufzufassen. Denn der Wortstamm Tar und Ro (= arot, vom griechischen arotos) bedeutet nämlich zugleich auch „arbeiten“.
Ich würde mich freuen, wenn die Betrachtung der 12ten Karte des Tarots unsere Beschäftigung mit der königlichen Kunst der Freimaurerei in diesem Sinne fördern würde. Denn wie heißt es im Wilhelm Meister: „Wie kann man sich selbst erkennen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch handeln.“
Anmerkungen:
- Die wechselseitigen Abhängigkeiten des Gehängten mit den anderen 21 Karten der Großen Arkana darzustellen kann innerhalb dieser Zeichnung nicht geleistet werden. Nur eine weitere Karte soll später noch berücksichtigt werden.
- Die Grube ist also als Art „dunkler Kammer“ zu verstehen.
- = Mikrokosmos
- = Makrokosmos
- Ein Zustand, den man m. E. durchaus mit dem Begriff „Erwachen“ oder „Erleuchtung“ im Buddhismus bezeichnen kann.
- In den Anlagen zu dieser Zeichnung wird deutlich, wie sehr buddhistische, indische, alchemistische gnostische und schamanistische Traditionen und Vorstellungen bei aller Unterschiedlichkeit in diesem Punkt konvergieren. Die Karte erscheint mir deshalb ein Substrat der in diesen religiösen Vorstellungen und Philosophien vermittelten Einsichten zu sein.
- … was den spezifischen Gesichtsausdruck des Gehängten erklären würde.
- Wir könnten bei dem sich in die Tiefen der Welt versenkenden hängenden Menschen an ein Senkblei denken als Hinweis auf die gerade Linie des geistigen Bauwerks und den kosmischen Bau, der die Erde und Himmel verbindende Weltachse zum Zentrum hat. Der Mensch steht im Einklang mit dem Prinzip rechten Denkens, d. h. der als gut erkannten Gesetzmäßigkeit.
- Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Afghanistan werden wir uns selbst z. B. fragen müssen: Wie gut ist unser Wissen vom Koran und vom Islam? Wissen wir genug und sind wir offen genug um uns ein vorurteilsfreies und begründetes Urteil über diese Religion und deren Gläubige zu erlauben? Fragen, die sich Fundamentalisten wohl nicht gestellt haben und stellen …
- Kurz zur religiösen Variante der Karte, die m. E. etwa so interpretiert werden kann: Tiefe Einsicht und wahre Erkenntnis bestehen darin, dass die große gedankliche Konstruktion „Ich“, das sich in unzähligen Denkrichtungen, Meinungen, Anschauungen, Verhaltensweisen etc. manifestiert, gedanklich überwunden wird (und damit u. a. der Dualismus Mikro-/Makrokosmos). Denn die Konstruktion des ‚Ich bin, wie ich bin‘ und ‚Ich bin so und so‘ ist falsch, da ich, wir, schon viele andere ‚Ichs‘ waren, die nur deshalb nicht mehr erkannt werden, weil sie bei historischer Rückschau als Konstante konstruiert werden. Dieses Konstrukt zu erkennen ist m. E. die Aussage des Tarot-Bildes des Gehängten. Im besten Fall ist das Ergebnis der Arbeit am „Ich“, d. h. der Innenschau und (von der Technik her gesehen) Meditation, ein grosses Verstehen und ein spirituelles Erwachen. Gelingt dies, findet in uns eine Verwandlung bzw. Rekonstruktion statt. Es kann das ‚große Werk‘ der Menschwerdung (Erlösung) des Einzelnen wie der Menschheit gelingen. Die Vision der Transformation im Sinne einer Neugeburt ist der Kern vieler östlicher Religionen und im Westen in der alchemistischen Philosophie der eigentliche „Stein des Weisen“. Voraussetzung ist Zerstörung des bestehenden – aber nicht im Sinne von „Zerstörung“, sondern von Transformation oder „Neuarrangement“.
Literatur:
Banzhaf, Hajo: Das Tarot-Handbuch. Goldmann, 1998.
Guekos-Hollenstein, Marion: Quellen des Tarot. Unbekannte Schätze in den 22 grossen Arkana. Königsfurt, 2000.
Haage, Bernhard Dietrich: Alchemie im Mittelalter. Artemis & Winkler, 2000.
Husain, Shahrukh: Die Göttin. Evergreen, 2001.
Lowenstein, Tom: Buddhismus. Evergreen, 2001.
Pollack, Rachel: Tarot. 78 Stufen der Weisheit. Knaur, 1985.
Vitebsky, Piers: Schamanismus. Taschen Verlag, 2001.
Waterstone, Richard: Indien. Taschen Verlag, 2001
Wirth, Oswald: Die Magie des Tarot. Fischer Media, 1998.