Als ich vor einiger Zeit die Lessing – Biographie von Dieter Hildebrandt las, – Lessing, Biographie einer Emanzipation, Verlag Ullstein, 1982 – da kam ich an eine Stelle, welche mich stutzig machte. Sie lautet:
„Denn der „Nathan“ hat ja seine große Stelle, beinah eine Arie, eine Baritonpartie der Vernunft, und angenehme und rührende Schauer laufen dem schulgebildeten deutschen Bürger den Rücken entlang, wenn die nun einsetzt, diese Argumentationskantilene von den drei Ringen, die die drei großen Religionen der Erde symbolisieren:
Vor grauen Jahren lebt ein Mann im Osten,
Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug …Wahrlich, das kennt man so gut wie auswendig, das ist nationales Kulturgut, unzerstörbar, unverlierbar, das gehört zum geistigen Bestand. Mögen unsere Städte zerstört werden von Kriegen und Kaufhäusern, mag unser Land geteilt sein in Ost und West und Nord und Süd – die Ringparabel kann uns keiner nehmen.“
Soweit also diese Stelle. Als ich sie las, merkte ich, daß es mir genauso gegangen war wie dem von Hildebrandt vorgeführten „schulgebildeten deutschen Bürger“: Ich hatte diese Arie mit großem Vergnügen immer nur angehört, wie eine wunderschöne Musik, genossen wie ein warmes Bad, erfüllt von einer ungeheuren Toleranz. Niemals aber hatte ich bisher ernsthaft darüber nachgedacht, niemals auch den Nathan und das damit gegebene politisch- moralische Exempel in Beziehung gebracht zu den Erfahrungen meiner Generation in der deutschen Geschichte. Daher entstand denn diese Zeichnung als eine Ehrenpflicht und Wiedergutmachung am Nathan und an Lessing.
Was mir zunächst auffiel war, daß in der Ringparabel die eigentliche Rechnung nicht zu stimmen scheint. Denn es sind keineswegs alle drei Ringe falsch und schon gar nicht alle drei Ringe echt, sondern der Vater hat zu dem echten Ring zwei falsche anfertigen lassen. Daraus folgt, daß unverändert die Kraft des echten Rings gelten müßte, die sich also unabhängig von den Bemühungen der drei Söhne auf die Dauer immer durchsetzen müßte.
Der Richter aber setzt voraus, und sagt das auch den drei Söhnen, daß alle Ringe gleichwertig seien und daß sie alle die gleiche Chance hätten, wenn sie sich nur mit ganzer Kraft darum bemühten. Nur aus dieser Bemühung werde dann nach tausend und tausend Jahren der echte Ring erwiesen werden. Tatsächlich aber hatte die Kraft des ersten Ringes darin bestanden, daß er auf Grund seiner magischen Wirkung die Menschen geneigt machte, ohne daß es auf die Bemühung des Trägers überhaupt angekommen wäre. Hiernach wäre also eine echte Chancengleicheit gar nicht vorhanden.
Auch andere haben sich über diese Unstimmigkeit Gedanken gemacht und ich fand eine besonders auffällige Bemerkung bei Karl Jaspers. Er schreibt:
„Gott hat sich geschichtlich auf mehrfache Weise gezeigt und viele Wege zu sich geöffnet. Es ist, als ob die Gottheit durch die Sprache der Universalgeschichte warne gegen den Anspruch der Ausschließlichkeit. Der Ausschließlichkeitsanspruch, dieses Mittel des Fanatismus, des menschlichen Hochmuts, Selbsttäuschung durch den Machtwillen, dieses Unheil des Abendlandes erst recht in allen Säkularisierungen wie den dogmatischen Philosophien und sogenannten wissenschaftlichen Weltanschauungen, wird gerade dadurch überwindbar, daß Gott sich auf mehrfache Weise gezeigt hat.“
Hiernach sind also alle „Ringe“ gleich wertvoll und gleich echt. Die Forderung nach Toleranz wird – andersherum – ebenso gewichtig begründet.
Und Lessing? Er selbst hat sich über dieses Problem offenbar nicht viele Gedanken gemacht. Das ergibt sich aus den Briefen, die er gleichzeitig an seinen Bruder und an Elise Reimarus schrieb. Er sagt darin, daß er im Nathan seine Stellung zu den drei Positiven Religionen durchaus dargetan habe. Das klingt nicht sehr respektvoll und war wohl auch nicht so gemeint.
Lessing hat seine religiöse Überzeugung ausführlich dargestellt in seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, welche er etwa 1778 geschrieben hatte, also kurz vor dem Nathan. Darin erklärt er die Rolle, die religionsgeschichtlich Judentum und Christentum in seiner Sicht gespielt haben, wie sie historisch gewisse notwendige Funktionen erfüllt haben. Nun aber sei die Zeit der Vollendung gekommen, die Zeit „eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des neuen Bundes versprochen wird.“
Ich bitte Euch, liebe Brüder, das dort nachzulesen. Nur dann wird Euch die Ringparabel ganz verständlich werden und Ihr werdet auch sehen, daß die „tausend und tausend Jahre“ durchaus wörtlich gemeint waren.
Theodor Fontane schrieb 1880 nach einer Aufführung Nathans des Weisen in der Vossischen Zeitung:
„Das Haus war gut besetzt und folgte vier Stunden lang mit ersichtlichem Interesse. Mit mehr Interesse als Beifall. Im Parkett herrschte vorwiegend Schweigen, ein Schweigen, in dem sich, bewußt oder unbewußt, eine Verwunderung aussprechen mochte. Seit hundert Jahren lebt nun dies Evangelium der Toleranz, seit hundert Jahren wird es gelesen, dargestellt, zitiert; jede Figur ist populär, jede Sentenz ein geflügeltes Wort geworden – und was ist das Resultat? Doch nur die Wahrnehmung, daß das geistige Leben in einer Wellenbewegung geht und daß das, was gestern oben war, heut oder morgen unten ist. Und wieder umgekehrt. Was mir dabei persönlich als oben oder unten erscheint, in diese heikle Frage wünsch ich nicht einzutreten.“
Es wäre interessant gewesen zu erfahren, welche Meinung der kluge Theodor Fontane im Jahre 1880 über die für seine Generation in den Vordergrund getretenen Stellen des Stückes gehabt hätte. Von mir aus möchte ich sagen dürfen, daß für unsere Generation vielleicht die Baritonpartie der Vernunft, nämlich die Ringparabel, ein wenig in den Hintergrund treten sollte zugunsten anderer Stellen. Sie haben in unserer Zeit eine neue schreckliche Bedeutung gewonnen. Da ist zunächst die Erzählung Nathans über das Schicksal seiner Familie:
Ihr wißt wohl aber nicht, daß wenig Tage
zuvor, in Gath die Christen alle Juden
mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt
wohl nicht, daß unter diesen meine Frau
mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
befunden, die in meines Bruders Hause,
zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
verbrennen müssen. Als
ihr kamt, hatt ich drei Tag und Nächt in Asch
und Staub vor Gott gelegen, und geweint. –
Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,
gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
der Christenheit den unversöhnlichsten
Haß geschworen –
Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimm: und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! Komm! Übe, was du längst begriffen hast,
was sicherlich zu üben schwerer nicht,
als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf! – Ich stand! und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, daß ich will!“
Besonders grausig und besonders grell aber muß uns in die Ohren klingen jener Satz:
„Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!“
Ich meine, dies ist das, was nun wieder nach oben gekommen ist.
Hier, meine Brüder, mache ich einen langen Gedankenstrich. Denn ich komme jetzt zum Höhepunkt meiner Zeichnung oder zum Tiefpunkt, ganz wie man will.
Kann man uns Deutschen nicht vorhalten, wir hätten alles besser wissen können, fast so früh wie die freiheitlichen Amerikaner, 10 Jahre früher als die republikanischen Franzosen? Kann man uns nicht vorhalten, daß wir seit 200 Jahren so etwas wie die erste deutsche Verfassung gehabt hätten, einen allgemeinen Vorschlag zur Güte, einen märchenhaften Gesellschaftsentwurf? Ist nicht in deutscher Sprache vor 2 Jahrhunderten eine Anleitung zum argumentierenden Umgang miteinander erschienen? Eine Schutzschrift des Inhalts, daß Juden keine Untermenschen und Christen christlich, Leute leutselig, Reiche nicht profitgierig und Mächtige gute Verlierer sein können und sein müßten? Und wir hätten nichts davon begriffen?
Der schweizer Dramatiker Max Frisch spricht in einer Abhandlung über Bert Brecht von „der durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikers“! Ist es das? Das Drama „Andorra“ ist doch nicht schon wieder vergessen? Wie ist es mit der Wirkung des Theaters als „moralische Anstalt“? Gehen vielleicht die falschen Leute ins Theater? Kann am Ende so wie ein einzelner Mensch ein ganzes Volk von einer moralischen Krankheit erfaßt werden, die es wild um sich schlagen läßt und aller Lehren vergessen? Hervortreten läßt die nackte Barbarei?
Vielleicht ist es so, daß ganze Völker gar nicht moralisch beurteilt werden können und dürfen. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ sagt Schiller. Danach könnte also moralisch beurteilt werden jeweils nur die Handlung eines einzelnen Menschen. Aber besteht nicht ein Volk aus handelnden Einzelmenschen? Die Psychologie der Masse hilft nur zur Erklärung des technischen Vorgangs. Sie erklärt aber nicht den historischen Tatbestand und die dabei wirkenden Faktoren.
Zurück zu Lessing, zurück zu Nathan! Es ist sicher, daß er sich weit erhebt über das Niveau der Aufklärung, welche gekennzeichnet ist durch die Namen Moses Mendelssohn und Nicolai, Diderot und Voltaire. Aber gehört er nicht vielleicht in einen ganz anderen Zusammenhang?
Der Begriff „Aufklärung“ hat sich in den letzten 50 Jahren grundlegend erweitert und verändert. Ich verweise dazu auf Fritz Raddatz, Walter Jens, Horkheimer und Adorno. Danach ist Aufklärung eine menschliche Haltung, zeitlos und so alt wie der Mensch selbst. Sie beginnt daher nicht erst in der Renaissance, ich meine vielmehr, daß man den Bogen weiter spannen muß: Denn von den ersten babylonischen Priester-Sternforschern über die Vorsokratiker, Pythagoräer, ferner die arabischen Gelehrten des Mittelalters und Roger Bacon bis an die Renaissance heran läßt sich zwanglos eine einheitliche Geisteshaltung feststellen. Sie läßt sich definieren als die des wissensdurstigen, forschenden, über den Menschen im Universum staunenden Individuums. Ihr Wahlspruch ist: „sapere aude!“ Auf deutsch „Wage es, den Verstand zu gebrauchen!“ Richtig ist allerdings, daß seit der Renaissance ein derartiger Ansturm neuer Erkenntnisse und Fähigkeiten auf uns eingestürmt ist, daß wir ihn schier nicht mehr zu bändigen vermögen.
Demgegenüber steht die Haltung, die ich hier einmal mit „Innerlichkeit“ bezeichnen möchte. Sie wird bereits von Plato, dem Apostel Paulus, Augustin und ihren Nachfolgern vertreten. Ihr Wahlspruch lautet etwa: „Alle naturwissenschaftliche Erkenntnis ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich, weil sie den Menschen hindert, sich mit dem zu beschäftigen, was sich allein für ihn lohnt: Dem Heil seiner Seele!“ Das Vorherrschen der einen oder anderen Richtung läßt sich in den verschiedenen Kulturperioden mühelos feststellen.
Fest steht, daß beide Haltungen grundsätzlich aus lauteren Motiven eingenommen werden und in sich logisch schwer angreifbar sind. Beide haben aber auch ihre verhängnisvollen Schattenseiten: Die Aufklärung bringt zwangsläufig mit sich, daß man das Machbare macht, ohne auf die Folgen zu blicken, ohne moralische Bewertung. Umgekehrt verhindert die Innerlichkeit jeglichen Fortschritt des Geistes und der Technik.
Und nun der Nathan? Ist er nicht vielleicht der Versuch eines Brückenschlages zwischen diesen beiden feindlichen Brüdern? Walter Jens läßt in seiner Deutung des Nathan Lessing wie folgt sprechen:
„Ich wollte den Wucherer Shylock mit seinem Opfer versöhnen, mit dem Kaufmann, aus dessen Leib der Jud sein Pfund Fleisch herausschneiden möchte…. Diese Beiden in einer einzigen Figur vereinen – Einem Menschen, der für alle steht, die guten Willens sind. Am Beispiel Nathans, des erlösten Shylock, eine Welt vorwegnehmen, in der Jud soviel wie Christ gilt, Frau soviel wie Mann, – das Zauberreich der Toleranz! Vorschein einer Welt, die gerecht und menschlich ist.“
Und nun zuletzt: Ist nicht also der Nathan zutiefst freimaurerisch? Ist denn nicht die Freimaurerei der tatsächlich gelungene Brückenschlag zwischen dem „sapere aude“ und der ewig gleichen Bedürftigkeit der Seele?
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