Zeit
Mensch werde wesentlich.
Das ist beruhigend, dass ich noch nicht wesentlich sein muss, sondern in Zukunft wesentlich sein soll und mich noch auf dem Weg dorthin befinde. Ich bewege mich also in eine Richtung. Wie erkenne ich denn, ob mein Weg in der Zeit, den ich eingeschlagen habe ins Wesentliche führt ?
Die Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen, hat also im Gegensatz zu anderen physikalischen Größen eine eindeutige, unumkehrbare Richtung.
Mit Hilfe der physikalischen Prinzipien der Thermodynamik kann diese Richtung als Zunahme der Entropie, d. h. der Unordnung in einem abgeschlossenen System bestimmt werden.
Als anschauliches Beispiel kann man das Zimmer eines x-beliebigen Teenagers verwenden.
Im Schrank ordentlich zusammengelegte Kleidung verteilt sich im Laufe der Zeit nach den Gesetzen der Entropie gleichmäßig über das gesamte Zimmer.
Führt Zeit also zwangsläufig zu Unordnung?
Ist Zeit der Motor der gleichmäßigen Verteilung aller Dinge?
Ist Zeit der absolute Gleichmacher?
Ist Gleichmacherei der Weg ins Unwesentliche?
Macht Zeit alles Unwesentlich?
Ich befürchte, dass man diese Fragen alle mit ja beantworten muss, wenn die eigene Grundeinstellung von Desinteresse oder Defäitismus geprägt ist.
Ohne den Anspruch das eigene Schicksal aktiv in die Hand zu nehmen wird aus jeder vielversprechenden Gelegenheit oder Veranlagung mit dem verstreichen der Zeit etwas mittelmäßiges entropisch gleichförmig Verteiltes, aber bestimmt nichts Wesentliches.
Beim oben genannten Teenager kann ich regelnd eingreifen und so versuchen den Gesetzen der Entropie mit Aufwand entgegenwirken.
Übertragen auf mein eigenes Leben bedeutet das, dass ich meine eigenen Baustellen immer wieder aufräumen muss, nie nachlassen darf und mit der Arbeit immer wieder neu ansetzen muss um gewonnenen Boden nicht wieder zu verlieren. Die Arbeit ums Wesentliche ist also der ständige Kampf gegen die Entropie.
Wenn wir bei der Arbeit aufgerufen werden „in Ordnung“, dann stellen wir bei uns symbolisch die Ordnung wieder her. Wir ermahnen uns immer wieder neu anzufangen und der entropischen Gleichgültigkeit entgegenzuwirken.
Jeder von uns findet in unserer Arbeit Sinninhalte, Werkzeuge oder Symbole, die ihn im Herzen treffen und bewegen.
Das Symbol, dass mich persönlich sofort im Innersten berührt hat, ist der 24-Zöllige Maßstab, der dazu dienen soll die Zeit mit Weisheit einzuteilen.
Bei meiner ersten Tempelarbeit war ich wie vor den Kopf geschlagen als ich die Frage des Meisters und die Antwort des Aufsehers hörte.
Ein so einfaches Prinzip, die eigene Zeit mit Weisheit selber einzuteilen war mir im Laufe meiner Berufstätigkeit schlicht verlorengegangen.
Wie konnte das passieren?
Wie kann es passieren, dass man die Kontrolle über die eigene Zeit in andere Hände gibt, dass man fremdbestimmt wird?
Und vor Allem, dass man versäumt in diesen Prozess regelnd einzugreifen?
Ich kann es mir nur als schleichenden Prozess vorstellen, der so langsam vonstatten geht, dass man die Veränderung nicht mehr wahrnimmt.
Ein anschauliches Beispiel ist folgendes Experiment:
Wirft man einen Frosch in einen Topf mit heissem Wasser, so springt er sofort wieder hinaus. Wirft man ihn jedoch in einen Topf mit angenehmer Temperatur, und erhitzt das Wasser ganz langsam, so bleibt der Frosch im Topf und lässt sich ganz langsam zu Tode kochen.
Wir lassen uns von vielen anderen steuern und bestimmen, geraten wir an den Falschen oder passen nicht auf, so werden wir langsam weichgekocht.
Wir sitzen zwar nicht im heissen Wasser, aber durch ständige Beeinflussung wird uns ganz langsam unsere eigene Wahrnehmung genommen.
Die Wahrnehmung unserer Zeit und unseres Lebens.
Brauchen wir wirklich all die Dinge, die uns überall angeboten werden?
Jaaa, schreit die Werbung. Jaaa, brauchst Du. Ganz sicher! Haben die anderen doch auch!
Ein schönes Beispiel für diese Form der gewollten Wahrnehmungsveränderung ist folgende Kaffeewerbung:
Eine schöne Frau sitzt wie hingegossen lässig auf einem edlen Sofa und lächelt mich selbstbewusst an. Sie hält geniessend eine Becher Kaffee unter die Nase und sagt
„Das ist meine Zeit“.
Aber das ist doch schon meine Zeit!
Was hat meine Zeit mit Deinem Kaffee zu tun?
Wozu brauche ich denn deinen Kaffee, wenn ich die Zeit eh schon hab?
Dient diese Dauerbeschallung durch was auch immer, nur dazu uns unsere Zufriedenheit zu nehmen und unsere persönliche Wahrnehmung in Unordnung zu bringen, entropisch zu überlagern und durch etwas zu ersetzen, was nicht uns dient sondern anderen?
Wir sind im Kontext einer komplexen Gesellschaft eingebunden, die ohne eine gewisse Selbstbeschränkung des Einzelnen aber auch ohne Übertragung von Verantwortung und damit Fremdbestimmtheit nicht funktioniert.
Wir haben diese Entscheidung Verantwortung abzugeben bewusst und bei klarem Verstand getroffen. Jeder von uns macht dieses. Sei es durch das Eingehen eines Arbeitsverhältnisses oder auch einer Partnerschaft oder Ehe.
Wenn jedoch die Selbstbeschränkung der Verantwortlichen aus dem Ruder läuft und die Verantwortung über andere zu bestimmen zur Durchsetzung persönlicher Ziele um jeden Preis, zur Gewinnmaximierung missbraucht wird, verändert sich diese Gesellschaft schleichend in eine gesteuerte Richtung.
Die Frage ist, wer steuert die Geschwindigkeit der ablaufenden Prozesse in dieser Gesellschaft?
Wer hat einen Nutzen von der ständigen Beschleunigung der ablaufenden Prozesse?
Hat dieses Mehr an erledigter Arbeit, an erhaltenen Informationen, an verfügbaren Waren wirklich einen Nutzen für mich?
Wäre ich ohne all dieses Mehr zufriedener oder sogar glücklicher?
Habe ich eine reelle Chance mich diesem zu entziehen?
Auch hier hilft nur “ In Ordnung, meine Brüder“,
Dieses bewusste ritualisierte Innehalten erzeugt für mich persönlich ein Zeitfenster, in dem ich meine Wahrnehmung überprüfen kann.
Dieses, wenn auch kleine, Zeitfenster ermöglicht es mir mal eben den 24-zölligen Maßstab aus der Hosentasche zu ziehen und schnell abzugleichen ob dass was ich tue oder mit mir getan wird, meinen selbstgesteckten Zielen und Prinzipien entspricht. Dieses Prinzip zu erkennen und auch anzuwenden hat mich fasziniert und mir plötzlich viele zeitliche Freiräume verschafft.
Eigentlich sollte ich diese neu entdeckte Zeit ja gleichmäßig aufteilen:
6 Stunden zur Arbeit
6 Stunden Gott zu dienen
6 Stunden der Familie bzw. einem Freunde oder Bruder zu dienen
und 6 Stunden zum Schlaf
Aber auch hier hat sich diese symbolische Zeiteinteilung durch den ständige Kampf gegen die Entropie verschoben. Wir alle wissen, dass nur wenige Glückliche ( vielleicht jene, die auf dem zeitlichen Weg zum Wesentlichen weiter fortgeschritten sind ) mit 6 Stunden Arbeit auskommen, Gott kann man auch dienen indem man sich ständig bemüht ein aufrechtes Verhalten an den Tag zu legen, für die Familie ist man eh ständig unterwegs, Freunde und Brüder kommen da leicht zu kurz und geschlafen wird wenn es passt.
Die Erfahrung der letzten 3 Jahre und mein veränderter Umgang mit der Zeit, deren Einteilung und der bewussteren Wahrnehmung hat mich jedoch zu einer Erkenntnis geführt.
Zu der Erkenntnis, dass auch Erkenntnisse mit der Zeit entropisch versanden können. Wir schwimmen ständig gegen einen Strom. Hören wir auf bleiben wir nicht stehen sondern fallen zurück.
Den einen Tag haben wir noch unsere Zeit mit Weisheit eingeteilt und plötzlich ist schon wieder ein Monat vergangen, ohne dass man diesen bewusst wahrgenommen hat. Zuerst die Monate, dann die Jahre beginnen miteinander zu verschwimmen und verlieren sich in der Gleichförmigkeit des Alltags.
Alltag!
Was für ein deformierter, disqualifizierender Zeitbegriff.
Wer denkt sich so eine Begrifflichkeit aus?
Als wäre nicht jeder Tag auf seine Weise wichtig.
Jeden Tag beim Aufstehen bestimmst Du Dein Schicksal neu.
Oder ist es gar nicht gewollt, dass die Menschen morgens aufstehen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Ist das Ziel unserer Gesellschaft der Alltag, die naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit dass es über die Zeit zur gleichmäßigen Verteilung von Allem kommt: Entropie.
Um dem entgegenzuwirken, sich diesem Sog zu entziehen, die Entropie zu verhindern müssen wir wesentlich werden.
Auf dem Weg zu diesem Ziel hilft mir “ In Ordnung, meine Brüder“
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