Dasein ist Pflicht, und wär´s nur ein Augenblick!
Wurdet ihr danach gefragt, ob ihr geboren werden wolltet? Sicherlich nicht. Könnt ihr Euch erinnern, ab wann ihr angefangen habt zu existieren? Mehr oder weniger… nicht so ganz.
Die ersten Erinnerungen eines Menschs sind stark geprägt von Zwang, Gehorsamkeit und Pflichten. Tue dies und tue jenes nicht. Die Erziehung enthält ein enormes Regelwerk, was von unseren Eltern importiert wurde. Danach ist es unsere Pflicht, in die Schule zu gehen, einen Beruf zu lernen, arbeiten gehen, Kinder zeugen, diese zu erziehen und irgendwann werden wir sterben. Man könnte sogar behaupten, man könne der Pflicht nicht entkommen, denn die kommende Generation wird neue Pflichten haben, die sie stets versuchen wird zu befolgen.
Ist aber eine Pflicht gut oder schlecht? Diese Frage ist im Prinzip so wenig zu beantworten wie die genaue Bedeutung von Gut und Böse. Denn die breite Palette an Pflichten, die wir hatten, sind anders als jene, die unserer Eltern vor uns hatten, und sehr verschieden von jenen unserer Vorfahren vor gut hunderttausend Jahren. Denn die Pflichten sind auch wie das Leben und die Evolution: ein Optimierungsprozess. Die weniger entwickelten Form der Pflichten wären zum Beispiel die genetisch verankerten Instinkte, die auch andere Lebewesen besitzen, um was sehr ähnliches zu machen, was die Generation vor ihnen gemacht hat.
Wenn wir aber zunächst bei Menschen bleiben, und unsere gesellschaftliche Definition von Pflicht betrachten, können wir zwei Richtungen der Pflicht wahrnehmen, nämlich die äußere und die innere. D.h. die Erwartungen, die andere Gesellschaftsmitglieder von einer Person haben, und jene, welche diese Person von der Gesellschaft hat. Es ist ein Zusammenspiel bzw. ein Aufeinanderprallen der intendierten Zwänge aller existierenden und vorher existierenden Individuen. Erkenntnisse, Meinungen, kleine Stücke der Wahrheit, die sich ergänzen oder widersprechen. Die Subsumierung der einzelnen freien Willen und deren derzeitige Interpretation von dem was man tun sollte oder nicht. Dies schreiben wir in Gesetze und wir bauen große Gesellschaften darauf auf. Ob wir diesen Pflichten Gehorsamkeit leisten, obliegt dem Willen des Einzelnen.
Denken wir aber jetzt an den Begriff Pflicht, der immer wieder in der Freimaurerei erwähnt wird, z.B. Sätze wie “die Loge ist eröffnet, ein jeder sei seiner Pflicht eingedenkt”, oder “ist er bereit die Pflichten zu erfüllen, die die Loge den Brüdern auferlegt”; komisch nicht wahr? Der Aufzunehmende wird gefragt, ob er Pflichten auf sich nehmen möchte, die er im Prinzip gar nicht kennt, danach werden ihm eine Menge von Werkzeugen in die Hand gelegt und in abstrakter Weise ein Sinnbild davon erklärt, das er selbst interpretieren soll. Das Ziel sei, diese Werkzeuge zu verwenden, um an seinen rauen Stein zu arbeiten, damit man diesen in den Tempel der Humanität einfügt. Denn ein Werk muss vollendet werden. Ein Werk, das mit Weisheit geplant wurde, mit Stärke ausgeführt wird und die Perfektion der Schönheit anstrebt. Aber so weise der Meister an der Vollendung seines Werkes arbeitet, irgendwann verlässt ihn die körperliche Kraft, und er muss seine Werkzeuge fallen lassen. Das einzige was bleibt, ist die Resonanz seines Werkes auf seine Werkzeuge. Diese werden von seinen Lehrlingen aufgenommen und ihnen wird die Frage gestellt, ob sie bereit sind, die “Pflichten zu erfüllen, die die Loge den Brüder auferlegt”.
Ist das nicht ein wenig merkwürdig, dass wir uns nicht so ganz erinnern können, seit wann es die Freimaurerei gibt, aber wir wissen, welche Pflichten wir stets versuchen zu befolgen? Ist es nicht unfair, dass wir uns erst an Sachen erinnern können, seitdem wir vier oder fünf Jahre alt sind, aber wir wissen stets, was unsere Pflichten sind? Und auch unglaublich ironisch, dass wir als selbstverständliches Existenzphänomen als ganzes, trotz all der evolutiven Optimierung seit der ersten Lebensform bzw. seit dem ersten zustandsreproduzierenden, -erhaltenden und -optimierenden Phänomen immer noch an Existenzamnesie leiden?
Man kann viel über Pflicht, Zwang und freien Willen sprechen, und Ja!, die gibt es, denn keiner konnte dem Zwang entgehen, das Licht es Lebens zu erblicken und keiner wird dem Zwang entgehen, seine irdischen Werkzeugen fallen zu lassen; und zwischen diesen Zwängen gibt es nur eine Pflicht, nämlich die Werkzeuge aufzunehmen und weiterhin nach der Wahrheit suchen. Ob man dieser Pflicht Gehorsamkeit leistet, das obliegt dem freien Willen des einzelnen, aber wie es Goethe damals sagte, eins ist sicher:
Dasein ist Pflicht, und wär´s nur ein Augenblick!
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