Ich möchte über das Thema „Brüderlichkeit“ sprechen und dieser meiner 1. Zeichnung den Untertitel geben: „Gedanken eines freimaurerischen Lehrlings zwischen Menschheitstraum und praktikabler Möglichkeit.“
Der Begriff der Brüderlichkeit wurde und wird sehr gern als politisches Ziel in vielen geschichtlichen Manifestationen verwendet, und ich habe mir die Frage gestellt, WARUM? Ist es tatsächlich eine praktikable Möglichkeit oder eben nur ein wünschenswerter Traum der Menschheit?
Gehen wir doch einmal vom Ursprung dieses Begriffes aus: Er heißt „Bruder“, hat also die Blutsverwandschaft als Vorbild, die eine so starke Bindung ist, oder besser gesagt, zu sein scheint, daß es wünschenswert wäre, dies auch in den Bereich zu übertragen, wo eben keine verwandtschaftliche Bindung, sondern nur eine geistige, eine religiöse oder eine allgemeine Interessengemeinschaft vorhanden ist.
Hier beginnt meiner Ansicht nach bereits der erste Irrtum: Denn die verwandtschaftliche Bindung hat nicht verhindern können, daß es schlimme und blutrünstige Auseinandersetzungen gab, um mal Intrige, Mord und Totschlag gelinde zu umschreiben. Bereits in der Bibel steht der erste Fall beschrieben, nämlich der Brudermord Kains an Abel. Denke ich an die Geschichte, an die Historie, so war der Bruder- bzw. Schwestern-Mord bei den Pharaonen gang und gäbe. Auslöser war sicher das dynastische Gesetz, daß sich die Geschwister zu verehelichen hatten, ob sie sich mochten oder nicht. die Erhaltung der Dynastie war das Wichtigste.
Dieses „ob sie sich mochten oder nicht“ ist meines Erachtens der erste Beweis, daß das verwandtschaftliche Band, die Blutsverwandtschaft“ nicht ausreichend war, um einen Zusammenhalt in jeder Lebenssituation zu garantieren. Um das festzustellen, brauchen wir nicht nur in der Historie und den Religionen zu suchen. Wir können uns auch in der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit umschauen, um im näheren Freundes- oder Bekanntenkreis feindliche Brüder zu erleben. Spätestens bei der Erbschafts-Auseinandersetzung passiert es, daß Bruder und Bruder sich oft feindlicher gegenüberstehen als zwei Fremde. Natürlich will ich hier einschränken, daß es nicht unbedingt die übliche Norm ist oder sein muß, es gibt auch Ausnahmen. Darum sei mir verziehen, wenn ich dieser Feststellung wegen nicht gleich eine Umfrage startete, um das Prozentverhältnis zu ermitteln, sondern habe mich hier auf meine eigene Lebenserfahrung und Beobachtungsgabe gestützt, um die vorangegangenen Behauptungen zu Debatte zu stellen.
Kurz zusammengefaßt: Warum sind Brüder nicht so brüderlich, wie es dem Begriffe nach eigentlich sein müßte? Wahrscheinlich ist hier der Ansatzpunkt, daß man Brüderlichkeit als schönen Begriff erstrebt, der aber erst weg von der verwandtschaftlichen Bindung weit besser funktioniert, wenn es statt dessen ein geistiges Band oder eine Idee als Bindung gibt, als Bindung und Verbindung für den freiwilligen Zusammenschluß Geleichgesinnter.
Hier möchte ich spätestens eine Zäsur machen und Brüderlichkeit mit Freundschaft zu vergleichen versuchen.
Brüderlichkeit ist etwas Schönes, Freundschaft ist etwas Schönes; welche Verbindung, welche Gemeinschaft ist besser oder höher zu bewerten? Es gibt meines Erachtens keine gültige Antwort darauf, weil beide Begriffe bzw. Zustände gewisse Ähnlichkeiten haben, im Grunde aber nicht vergleichbar sind. Bei der Freundschaft z. B, kommt unbedingt die Sympathie für den anderen, für den Freund eben, dazu, fast der Liebe gleich, aber eben nur fast. Denn es ist das Unglück der Liebe, daß sie nur das Entweder-Oder kennt. Der weitere, besser gesagt, der gravierende Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe ist der geschlechtliche Unterschied, die berühmte „kleine Differenz“, doch auch das braucht heute kein Hinderungsgrund zu sein, wenn es sie (die Differenz) nicht gibt, will sagen, die Liebe unter Gleichgeschlechtlichen. Das aber soll hier gar nicht behandelt werden, sondern mit diesen vorangegangenen zwei Sätzen wollte ich nur die Emotion Liebe als vergleichbare Gemeinsamkeit, Möglichkeit oder Bindung für den Vergleich „Brüderlichkeit oder Freundschaft“ ausschließen, weil sie nicht in diesen Vergleich paßt, sondern nur angesprochen wurde, weil bei Freundschaft sicherlich auch Emotionen eine Rolle spielen wie bei der Liebe, jedoch ist es allerhöchstens der uns als „platonische Liebe“ bekannte Zustand.
Freundschaft rangiert also anders als Brüderlichkeit, und zwar auch deshalb, weil sie sich (die Freundschaft) auf einen kleinen Personenkreis beschränkt oder beschränken muß, will man sie als das „Non-plus-Ultra“ von Gemeinsamkeit bezeichnen. Freundschaft ist auch meistens der Schlußpunkt einer langen gemeinsamen Zeit, in der man vielleicht eines Tages gegenseitig feststellt, daß es mehr als nur das Gespräch über gemeinsam interessierende Themen oder Gemeinsamkeiten an sich ist. Diese Freundschaft ist nicht zu verwechseln mit der sich aus Umständen ergebenden Kameradschaft oder Kameraderie. Zur Kameradschaft zwingen einen die Umstände oft gegenseitiger Rücksichtnahme; Kriegs- und Notzeiten sind dafür der klassische Nährboden. Zur Freundschaft können auch Umstände nicht zwingen, Freundschaft wächst ganz langsam, bis man ihr mit Haut und Haaren verfallen ist. Leider wird dieser schöne Zustand der Freundschaft sehr abgewertet durch den Begriff der Geschäftsfreundschaft. Was die sogenannte Geschäftsfreundschaft für Werte hat, wird jeder wissen, der sich mit diesem Menschen- oder Partnerbereich auseinanderzusetzen hat und der weiß, das diese oft „himmelhochjauchzenden Gemeinsamkeiten“ im Grunde abgezirkeltem Zweck dienen, obgleich vorgegeben wird, daß es sich um ganz persönliche „herzliche Beziehungen“ handelt, die man nicht mehr missen könne. Jedoch sind diese spätestens nach dem zweiten geschäftlichen Mißerfolg oder bei nicht mehr gegebenem geschäftlichen Nutzen beendet. Die wahre Freundschaft dagegen, zumindest so wie ich sie verstehe, ist eine ungeheure Kraft und ein Glück für den- oder diejenigen, die sie erfahren. Daß dieser Kreis nur sehrklein sein kann, bestätigt auch der Volksmund mit dem Spruch: „Freunde in der Not, geh’n tausend auf ein Lot.“
Mit der Analyse der Freundschaft und der vorher besprochenen blutsverwandtschaftlichen Brüderlichkeit und der aus diesem Grund als Menschheitstraum bezeichneten Brüderlichkeit, will ich sie (die Brüderlichkeit im geistigen Sinne) nicht etwa abwerten, im Gegenteil, sie ist das mögliche Bindeglied zwischen der nur selten bestehenden engagierten Freundschaft, unabhängig von Gemeinschaften mit einer Zielsetzung, und der Einsamkeit der Menschen in der heutigen Zeit; die Einsamkeit, die bestehen kann durch den Erfolgs- oder Konkurrenzdruck, aber auch durch Kontaktunfähigkeit, durch den vermeidbaren Irrtum, daß der andere zuerst zu grüßen oder zu kommen hat.
Ich meine hier nicht nur den eingebildeten Querulanten, sondern auch den falsch verstandenen Stolz oder die arrogante Auffassung, etwas Besseres zu sein. Und wenn man durch diese Umstände verpaßt hat, Freunde zu gewinnen oder Freundschaften zu begründen, kommt dann der Katzenjammer des „Alleinseins“. Jetzt einen Bruder haben, wenn man schon keine Freunde mehr hat ………. aber der große Bruder wird einen ja nur auslachen, weil er das schon immer hat kommen sehen und zum kleinen Bruder will man nicht gehen; der hat doch ganz andere Interessen. In diesem Falle meine ich nochmals das verwandtschaftliche Dilemma und nicht den Mißbrauch dieses Begriffs des großen Bruders, wie er in Orwells fast zur Wirklichkeit gewordenen Vision „1984“ dargestellt wird.
Nochmals zusammend möchte ich sagen, daß die Brüderlichkeit im geistigen Sinne oder der Ruf danach auch im praktikablen Zusammenleben aus der Frustration blutsverwandtschaftlicher Enttäuschungen entstanden sein muß, aus dem Wunsch, wie schön es wäre, wenn es klappte, nach dem Motto: Alle Menschen werden Brüder, der Traum eines schönen Ziels.
So haben auch die Ideologen festgestellt, daß hier eine Marktlücke herrscht und haben ihre Programme mit dem Aufhänger „Brüderlichkeit“ verbrämt. Wenn sich das auch ein wenig kabarettistisch anhört, so muß ich mit aller Überzeugung sagen, es ist tatsächlich eine Lücke im menschlichen Zusammenleben, leider wird sie mehr fanatisch als tolerant oder gütig geschlossen: „Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein.“
Die tolerante Brüderlichkeit fand ich eigentlich erst in der freimaurerischen Auffassung, und darum stehe ich auch voll und ganz dazu. Das kann ich umständehalber erst heute zum Ausdruck bringen; denn bei den Gästeabenden war mir die angesprochene Brüderlichkeit als etwas Besonderes nicht besonders zum Bewußtsein gekommen. Da ich auch schon einiges Clubleben hinter mir hatte, konnte ich zunächst nicht ganz einsehen, warum dies etwas anderes sein sollte, als die vorher gewohnten Club- oder Vereinsgemeinschaften. Dazu muß ich nun sagen, daß ich die Anrede „Bruder“ in unserem Kreis als etwas absolut Besonderes, Positives empfinde. „Bruder“ ersetzt das vertraute Freundschafts-„Du“ dem Neuen, dem Lehrling, gegenüber und hat doch den Ton von Vertrautheit. Diese Anrede erleichtert das Hineinwachsen in diese neue Gemeinschaft. Und wenn es auch in manchen Fällen sicherlich nur eine Floskel ist, so muß ich sagen, daß es eine ist, die ich gern höre, denn sie strahlt so viel Wärme aus und lädt zur Teilnahme ein.
Ich empfinde die freimaurerische Brüderlichkeit außerdem als einen „Dennoch-Versuch“ jedes einzelnen Bruders, die eckigen Kanten des rauhen Steines abzuschleifen, was mir gelegentlich schwerfällt, dies nicht in Frage zu stellen, wenn ich an die Kontroversen mancher Diskussion denke. Der Höhepunkt dieser Brüderlichkeit aber liegt im Ritual, in der Bruderkette zum Abschluß der Tempelarbeit. Auch wenn diese Bruderkette ihrem Symbol nach in der heutigen Zeit noch nicht sonderlich strapaziert wurde, so glaube ich doch, daß sie zu gegebener Zeit ein festes Band sein wird. Darum sei als Schlußsatz auf die von mir selbst gestellte Frage durch den Untertitel dieser Zeichnung, „Brüderlichkeit, Menschheitstraum oder praktikable Möglichkeit?“, gesagt:
Absolut praktikabel, meine Brüder!