Das Licht der Morgenröte unserer europäischen Zivilisation erreichte zuerst Griechenland vor mehr als 2500 Jahren. Die Götter des Olymp bescherten ihrem Volk besondere Fortschritte in Wissenschaft, Kunst, Politik und Philosophie, so dass vieles, was die Europäer Jahrhunderte lang machten, nur Fußnoten im großen Buch der griechischen Errungenschaften waren. Unter den Erben griechischer Zivilisation blieb die Erinnerung an Apollos Tempel in Delphi und eine eingemeißelte Inschrift an seinem Eingang. Diese ruft nach dem Blick in die Tiefen unseres Wesens und weckt gleichzeitig Hoffnung und Unsicherheit – Gnothi seauton – Erkenne Dich selbst! Diese Worte ruft Sokrates täglich den Athenern zu. Mit der Aufdeckung ihres Nichtwissens will er die Menschen zur Selbstprüfung und Selbsteinkehr bewegen. Diese Worte sind auch eine von jenen Brücken zwischen der so genannten paganischen und christlichen Religion. Der christliche Gott definiert sich selbst als „Ich bin der, der ich bin“ – also ich bin der, der weiß, wer er ist. Somit ist auch Selbsterkenntnis für die Christen ein Weg zu Gott. Aber: Kann sich der Mensch überhaupt selbst erkennen? Und: Ist der Blick der Selbsterkenntnis nur nach innen gerichtet?
Mit Immanuel Kant, dem „Kopernikus der Philosophie“, wurde klar, dass unsere philosophische Einstellung zur äußeren Welt nichts anderes als Selbsterkenntnis sein kann. Er zeigte uns, dass das, was erkannt wird, von dem, der es erkennt, zwangsläufig abhängt. Das heißt, dass der Erkennende das Erkannte für sich modelliert. Die Wirklichkeit AN SICH kann also nicht erkannt werden, sondern wir erkennen nur ihre Erscheinung in der Form, in der Sie für uns erscheint. Unsere Welt um uns ist folglich Teil unseres Bewusstseins und ist nur für dieses da. Wir erleben die Welt nur als unsere persönliche Vorstellung, wie sie objektiv ist, bleibt unentscheidbar. Das berühmte Bild mit einem Elefanten und Menschen, die mit verbundenen Augen verschiedene Teile des Elefanten berühren, ist vielen von uns bekannt. Für denjenigen, der die Beine berührt, sind es Bäume, für den anderen ist der Rüssel eine Schlange etc. Wir sind diejenigen, die dieser Welt Ordnung beibringen und ihr Eigenschaften geben, die sie hat – und zwar durch unsere Sinne und unsere Vernunft. Damit ist unsere Selbsterkenntnis auch die Erkenntnis unserer Welt, weil wir diese Welt um uns konstruiert haben. Somit ist der „Blick nach innen“ automatisch auch „nach außen“ gerichtet. Wir versuchen damit durch Selbsterkenntnis auch viel von unserer Welt um uns zu erfahren und darüber, nach welchen Prinzipien wir diese Welt geschaffen haben. Laut Kant können wir nicht über Noumenon (das Ding an sich) reden sondern nur über seine Erscheinung FÜR MICH und seine Wirkung auf unsere Sinnesorgane und auf unsere Vernunft.
In diesen zwei Worten – FÜR MICH – spiegelt sich das freimaurerische Prinzip der Toleranz, damit erkennt man seine Vorstellung von der Welt und toleriert andere „Wahrheiten“. Eine der Haupteigenschaften eines intelligenten Wesens ist, dass er respektiert, dass es auch eine andere Logik und Wirklichkeitsbetrachtung außer der eigenen geben kann. Somit ist ein Buch interessant, ein Wein zu jung, eine Meinung falsch – aber FÜR MICH! Weil: Wovon wir auch sprechen, wir sprechen von uns selbst, von unseren Wahrnehmungen und unserer persönlichen Vernunft.
Durch Selbsterkenntnis bilden wir unsere Persönlichkeit, weil alles, was für einen Menschen existiert, unmittelbar in seinem Bewusstsein und nur für dieses geschieht. Und logischerweise ist die Konstitution des Bewusstseins die wichtigste Sache für einen Menschen.
Nach Schopenhauer hat der Einblick in das eigene Wollen (Selbsterkenntnis), die Erfahrung unserer inneren Potenziale und Defizite, höchste Wichtigkeit, da man nur so das Leben gezielt gestalten und Entscheidungen für sich richtig treffen kann. „Ein Mensch muss wissen, was er will, und wissen, was er kann. Erst so wird er Charakter zeigen und erst dann kann er etwas rechtes vollbringen.“ Damit haben wir die Freiheit zu entscheiden, weil wir nur dann frei sind, wenn wir uns selbst erforscht und unsere Fähigkeiten erkannt haben. Werde der du bist!
Viele andere Philosophen haben sich mit unserem Selbst beschäftigt, darunter auch Baruch de Spinoza. Für den Gelehrten war „Passivität der Leidenschaften“ die Sklaverei der Menschen, „Aktivität des Geistes“ die Freiheit der Menschen. Freiheit sei nicht nur Unabhängigkeit von Leidenschaften sondern auch Unabhängigkeit von Unordnung und Unvollkommenheit. „Die einzelnen Leidenschaften haben die Eigenart, dass jede für sich nach vollkommener Befriedigung strebt, ohne Rücksicht auf die anderen und auf das Wohl der ganzen Person“.
Genau darauf stützt sich die moderne Psychologie. Denn erst, wenn wir erkannt haben, welche „Leidenschaften“ uns führen und „Kontrolle“ über uns haben, wenn wir diese für uns selbst definiert und damit transparent gemacht haben und nicht mehr als dunkle Kräfte unserer Selbst betrachten, dann besteht die Möglichkeit für eine Harmonisierung der Persönlichkeit. Das heißt, dass die Vernunft mit einzelnen „Leidenschaften, die untrennbar von unserer Persönlichkeit sind, im Gleichgewicht steht, was Einklang mit uns selbst und unserer Umgebung ermöglicht. Spinoza hat gut erkannt, dass nicht nur „ach zwei Seelen in einer Brust wohnen“. Heutzutage spricht man von mehreren „Selbsten“ oder „Teilpersönlichkeiten“. Die Psychologen reden von „metaphorischen Persönlichkeiten“, von der jede einzelne eine spezifische Funktion und Rolle in unserem Selbst hat, z. B. der „Ängstliche“, der „Don Juan“, der „Eingebildete Kranke“ oder der „Fröhliche“ in uns. Diese kooperieren miteinander, kämpfen um die wichtigsten Plätze auf der Bühne unserer Persönlichkeit oder befinden sich sogar in einem jahrelangen Konflikt. Die Besetzung der inneren Bühne ist bei jedem von uns anders, und ihre gemeinsame Artikulation bildet den Grund für unsere Person. Nur wenn Transparenz der „inneren Verhältnisse“ herrscht und eine gegenseitige Mitarbeit der „Teilpersönlichkeiten“ mit unserer Vernunft und untereinander stattfindet, ist der Weg zum inneren Gleichgewicht frei. Die klassische Literatur bietet optimale Beispiele dafür: Neben den Romanhelden des großen Kenners der menschlichen Seele – Dostojewski – haben wir mit der Persönlichkeit des Harry Haller aus dem „Steppenwolf“ von Hermann Hesse ein klassisches Beispiel für eine dysharmonierte Persönlichkeit, die sich im jahrelangen Eklat ihrer Teilpersönlichkeiten befindet.
Die menschliche Seele beherrscht man nicht mit Gewalt, sondern mit Verständnis und Liebe -das gilt auch für „Teilpersönlichkeiten“ oder „Leidenschaften“. Jede Unterdrückung und Negierung kann zum Pendel Effekt führen, so dass diese Überhand über uns gewinnen und stärker als früher sind. Wenn z. B. die Existenz eines „Zornigen“ in uns lange unterdrückt wird, kommt „er“ manchmal mit ungeahnter Kraft und im unpassendsten Moment an die Oberfläche unserer Persönlichkeit! Diese „Selbste“ sind Teile unserer Persönlichkeit, mit denen wir leben und die wir in uns respektieren sollen aber nicht deren Extremerscheinungen. Definierte und akzeptierte „Leidenschaften“, entledigt von ihren Extremen, werden wichtige Partner unseren Verstands bei der Vervollkommnung unserer Persönlichkeit. So wichtig ist die Existenz unserer Emotionen und unserer „Selbste“ für eine gesunde Persönlichkeit, so wichtig ist auch deren Erkennen und gegenseitige Kooperation sowie Zusammenarbeit mit der Vernunft. Die alltäglichen Rituale im Sinne von wiederholten Benehmensmustern, die wir in Beziehungen mit unseren Mitmenschen benutzen, bieten uns oft Gewissheit der Reaktion des Anderen, obwohl uns unsere Vernunft manchmal später erinnert, dass wir das auch hätten anders machen können. Sicherheit der Gewissheit ist nicht immer in unseren Sinne und deswegen brauchen wir eine entsprechende Motivation und den Willen zur Veränderung, besonders nach einer für uns inakzeptablen Situation. Das Erkennen des „Teams auf der Bühne unserer Persönlichkeit“ und die adäquate Anpassung an eine Situation ermöglicht unsere Harmonisierung mit der Umgebung. Das ist selbstverständlich eine mehr als vereinfachte Version des faszinierenden Komplexes unserer Psyche.
Nur, kann ein Mensch sich selbst erkennen? Der „Philosoph“ in mir sagt nein, der „Psychologe“ und „Mediziner“ in mir wünschen ein ja. Der Mensch an sich kann sich eigentlich nicht erkennen ,weil das, was wir erleben, eine Erscheinung ist von uns, die unsere Empfindungen und Vernunft konstruiert haben. Aber, was wir erkennen können, ist unsere Vorstellung von uns selbst, von unserer Welt und wie und nach welchen Prinzipien wir diese geschaffen haben.
Der Stein der Weisen entsteht in der Hand von jedem von uns aufs Neue und nur für uns auf charakteristische Weise. Er liegt in unserer Hand als Rauher Stein und dort gehört er hin, um täglich von uns bearbeitet zu werden, da wir unser eigener Stein der Weisen sind.
Wir Freimaurer haben die Möglichkeiten der Selbstreflexion, Kontemplation und viele Werkzeuge, die jeder von uns auf dem Weg der Selbsterkenntnis und Erkenntnis unserer Welt benutzen kann, aber jeder von uns entscheidet für sich, wie und wann er sie im täglichen Leben verwenden wird. Und mit dem Licht, was uns am Anfang gegeben wurde, können wir viel in uns selbst beleuchten und dieses Licht wird dann auch die Welt um uns heller machen.
Erkenne Dich selbst,
beherrsche Dich selbst,
vervollkommne Dich selbst,
harmonisiere Dich selbst!